Читать книгу Mordsschock! - Gaby Hoffmann - Страница 10
Kapitel 7
ОглавлениеIch stellte meinen Kleiderschrank auf den Kopf. Nichts Passendes! Für Rosenhagens konservative Politiker waren meine Klamotten zu schrill.
Piepsend kündigte mein Handy eine SMS an. Schlecht gelaunt, las ich sie, während ich weiter den Schrank durchwühlte. ‚Ist Rauchen im Schemilabor wircklich so schlim? Vic.‘
‚Elfjährige sollten überhaupt nicht rauchen, weder im Chemielabor noch sonst wo. Stattdessen müssen sie deutsche Grammatik pauken‘, schrieb ich ihr zurück. Ich hatte gehofft, dass Sophies korrektes Vorbild ein bisschen auf meine rotznäsige Schwester abfärben würde. Aber das war offensichtlich Fehlanzeige.
‚Bäh! Biest nicht besser als meine Lehrer‘, kam die Antwort prompt.
Ich holte ein langes, pink-metallic schimmerndes Kleid, nach unten geschlitzt und oben durch zwei dünne Spaghetti-Träger gehalten, hervor. Strikt auf Figur gearbeitet. Ich drehte und wendete mich vor dem Spiegel. Als Jugendliche war ich unglücklich über meine knabenhafte Figur gewesen. Eine Bohnenstange ohne jede weibliche Ausbuchtung. Nur Tante Carlottas Versprechen „Pass mal auf, Nina, wenn du zwanzig bist, wirst du bestimmt so dick sein wie ich!“ tröstete mich damals ein wenig. Oh, wie hatte ich darauf gehofft und war mit zwanzig heilfroh, als diese Prophezeiung nicht eintraf.
Ich streckte den Busen vor und schob jeweils eine zusammengefaltete Slipeinlage in den BH. Das pushte besser als jeder Wonderbra. Um den seriösen Touch zu wahren, ich ging ja im Dienst zur Party, drehte ich meine Haare zu einer Banane am Hinterkopf zusammen. Etwas Metallic-Lidschatten und metallic-glänzender Lippenstift, damit es nicht zu streng aussah. Der Clou waren meine metallic-lackierten Fußnägel, die in den hochhackigen Riemchensandaletten klasse zur Geltung kamen.
Die frühe Maisonne strahlte mit aller Kraft vom wolkenlosen tiefblauen Himmel. Perfektes Wetter für ein Gartenfest. Ken Winter musste einen guten Draht zu Petrus haben. Ich kurbelte die Scheibe runter und genoss die samtene Frühlingsluft, die nach frisch gemähtem Gras und taubesetzten Blüten duftete.
Ich bog in eine Straße ein, die bei ‚Monopoly‘ vermutlich die begehrte ‚Parkallee‘ oder ‚Schlossstraße‘ gewesen wäre. Donnerwetter! Ich pfiff durch die Zähne. Keines der Anwesen war von der Straße aus zu sehen. Imposante Torbögen, Mauern, Bäume und ellenlange Auffahrten versperrten die Sicht auf die Häuser. Ich prüfte die Adresse der Visitenkarte. Die Vielzahl parkender Autos verriet mir, dass die Party in vollem Gange war. Verschämt platzierte ich meinen Polo, der neben den Nobelkarossen etwas aus dem Rahmen fiel, hinter einer Wegbiegung, die in ein Waldstück mündete. Ich dachte kurz daran, wie Lila und ich uns früher Männer nach Automarken ausgesucht hatten, weil wir beispielsweise den Sommer unbedingt in einem schicken Cabriolet verbringen wollten. Hier wären wir fündig geworden!
Ich stöckelte auf meinen hohen Riemchensandaletten eine der ellenlangen Auffahrten, die links und rechts von prächtigen rot und weiß blühenden Rhododendrenbüschen gesäumt wurde, entlang, bis ich vor einem weißen Haus im Landhausstil mit Erker und geschwungenem Glasvorbau stand. Ich folgte dem Lärm und stakste an der Seite vorbei in den Garten, wo die Gäste an Stehtischen unter schneeweißen Sonnenschirmen mit spitzen Fingern Häppchen verspeisten oder mit langstieligen Gläsern in der Hand zwischen Blumenrabatten und den alten Bäumen, die das parkähnliche Grundstück begrenzten, lustwandelten.
Auf der Terrasse war ein riesiges Büfett aufgebaut, hinter dem ein Mann mit Kochmütze gerade Suppenteller füllte. Neben dem Büfett stand eine Möbelkollektion aus Teakholz. Hier tranken die älteren Leute ihre Weinschorle. Die Gerüche der alkoholischen Gärung vermischten sich mit Antipastadüften, Parfümwolken, Aftershaveschwaden, Selbstbräunerausdünstungen und dem sinnlichen Repertoire der Natur.
Irgendwo erklang im Hintergrund dezente Jazzmusik zur Untermalung, begleitet von dem Zirpkonzert der ersten Grillen in diesem Jahr und dem der Gäste. Summen, Raunen, Tuscheln, Zwitschern, Plaudern und Lachen in Basstönen bis hin zu höchsten Sopranstimmen erfüllten den Garten wie ein von unsichtbarer Hand dirigiertes Orchester. Wangenküsse knallten zur Begrüßung schnalzend durch die Luft. Schulterklopfen und ein achtlos dahingeworfenes „wie geht‘s?“ schallte zu mir rüber. Ehe die Antwort kam, zog der Frager weiter zur nächsten Gruppe und so fort ...
Ich holte mir ein Glas mit Pfirsichbowle, um mich daran festzuhalten. Unschlüssig schaute ich mich nach einem bekannten Gesicht um.
Ken Winter flog pfeilschnell in handgenähten Schuhen über den kurzgeschorenen Rasen auf mich zu. Der blau schimmernd Anzug – Seide? – betonte seine intensiven blauen Augen in dem gebräunten Gesicht. Der ganze Mann leuchtete von innen heraus. Kein Wunder: Wer seinen Gästen ein solches Ambiente bieten konnte, durfte strahlen. Mir drängte sich wieder der Vergleich mit dem perfekten Barbiemann auf.
Er freute sich über meine Gegenwart. Zumindest gaukelte er es mir vor.
Und ich glaubte es gerne.
„Schön, Sie zu sehen! Darf ich Ihnen ein Glas Sekt bringen?“
Er durfte.
Ich kippte die Pfirsichbowle hinunter, spießte die alkoholgeschwängerten Früchte auf und vernaschte sie. Weich wie ein Wattebausch schmiegte sich ihr pelziges Fleisch an meinen Gaumen, und ich sog den süßen Saft heraus. Ups, zu schnell auf nüchternen Magen! Ich griff nach einem Sonnenschirmständer in der Nähe und packte den Stiel. Dann hangelte ich mich zu einem der Stehtische rüber. Ich holte tief Luft und klammerte mich an der Tischplatte fest. Als Ablenkungsmanöver ließ ich meine Blicke über die Gesellschaft schweifen.
Blau schien in der Kleiderordnung die Pflichtfarbe zu sein. Zumindest für Frauen. Manche Männer flanierten auch in grauen oder schwarzen Anzügen umher. Wie eine Herde trabten sie unruhig über den Rasen, mischten sich mal mit dem und mal mit dem, wechselten von Gruppe zu Gruppe, als hätten sie Angst, etwas zu verpassen. Während sie sich unterhielten, flatterte ihr Blick bereits voraus.
Die anwesende Damenwelt glich der Bordbesetzung einer Lufthansa-Boing. Ein dunkelblaues Kostüm, ab und zu durch ein neckisches Hermès-Halstuch aufgepeppt, perfektionierte den Stewardessen-Look.
Eine aus dem ‚Club‘, offensichtlich ein emanzipiertes Exemplar so um die vierzig – sie trug die dunkelblaue Variante als Hosenanzug –, begrüßte mich: „Ich bin Sylvie Winter.“ Die Hausherrin war eine attraktive Erscheinung. Gepflegt, schlank, dezentes Make-up. Neidisch schielte ich auf ihre rotblonde üppige Haarpracht, modisch kurz geschnitten. „Wollen Sie sich nicht am Büfett bedienen?“, lud sie mich unverbindlich lächelnd ein.
Mein Gleichgewichtssinn erholte sich langsam. Ich schnappte mir einen Teller und wählte mit Bedacht auf das enge Kleid eine bescheidene Auswahl Antipasti.
Ken Winter drückte mir ein Sektglas in die andere Hand. Er folgte mir wie ein Schatten. Heute einen halben Kopf kleiner als ich wegen meiner hohen Hacken. Kichernd witzelte er über die Häppchen, leerte seinen Teller im Nu und naschte von meinen Antipasti. Er grabschte eine Olive von meinem Teller und starrte mir tief in die Augen, während er sie genüsslich verspeiste.
Sein Verhalten verwirrte mich. Rasch trank ich das Glas Sekt in einem Zug aus.
Kaum, dass ich das leere Glas abgestellt hatte, drückte mir Winter ein gefülltes in die Hand und prostete mir zu. Anschließend deutete er vielsagend auf meinen halbvollen Teller.
„Ich esse langsam. Das ist gut für die Figur“, stammelte ich und dachte im nächsten Moment, dass das das Blödeste war, was ich je gesagt hatte.
Ihn störte es nicht. Er lächelte mich lausbübisch an, wobei sich die kleinen Fältchen in dem gebräunten Gesicht zusammenzogen. „Aber in das Kleid geht noch eine Menge rein!“
Normalerweise hätte ich diesen Spruch als sexistisches Machogetue mit einer entsprechenden Antwort abgebügelt, jetzt aber stierte ich in die faszinierend blau leuchtenden Augen und grinste hypnotisiert. Ich Kaninchen, er Schlange? Nein, so tief ging ich nicht in die Knie!
„An den richtigen Stellen ist es ja gut gefüllt“, setzte er seine anzüglichen Anspielungen fort.
„Bei Ihnen dagegen scheint an der entscheidenden Stelle gähnende Leere zu herrschen“, platzte ich heraus. Ups! Der Sekt löste meine Zunge. Innerlich gratulierte ich mir, mich aus seinem Bann befreit zu haben, gleichzeitig wusste ich natürlich, dass diese Beleidigung fehl am Platze war.
Ken Winter brach in dröhnendes Gelächter aus.
Diplomatisch lachte ich mit, um so unsere gesellschaftlichen Fauxpas zu überspielen. Wenigstens hatten wir sie gemeinsam begangen!
Das Gelächter zog die Leute in der Nähe an, die neugierig wissen wollten, was es so Witziges gebe.
„Bleibt unser Geheimnis!“, erklärte Winter.
„Ja, mein Mann kann hinreißend sein. Trotzdem möchte ich jede Frau vor ihm warnen!“ Unbemerkt war Sylvie Winter hinter mich getreten.
Erstaunt gaffte ich sie an. War sie eifersüchtig?
Aber sie drehte sich in Richtung Büfett um und stolzierte auf ihren Pradaletten davon.
„Die Winters leben in Scheidung“, wisperte eine aus der Stewardessen-Fraktion hinter meinem Rücken. Sie hatte die Bemerkung der Gastgeberin aufgeschnappt, weil sie und ihre Geschlechtsgenossinnen sich inzwischen beharrlich um Ken Winter scharten. Aha, auch diese heile Welt hatte einen Sprung!
Winter veranstaltete eben ein kleines Wetttrinken gegen einen jungen Parteifreund, das er zum Jubel der Damen gewann.
„Ken macht die besten Partys.“ Eine ‚Stewardess‘, die sich als gesundheitspolitische Sprecherin entpuppte und momentan den verklärten Gesichtsausdruck eines Bravo-Girls trug, seufzte filmreif. Offensichtlich himmelte sie ihren stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden an.
Ich guckte mich nach dem Chef der Konservativen um, entdeckte von Stetten aber nirgends. Stattdessen traf ich Matthias Ehrhardt, den jugendlichen Charmeur alter Schule, den ich ebenfalls auf der Sitzung kennengelernt hatte.
„Darf ich sagen, dass Ihnen dieses Kleid fantastisch steht?“ Mit schiefgelegtem Kopf lächelte Ehrhardt an mir vorbei und plauderte über das Wetter. Als er auf seine Partei zu sprechen kam, geriet er ins Schwärmen. Als wäre er Mitglied einer Sekte mit Ludwig von Stetten als Guru. „Wir arbeiten an einer infrastrukturellen Gesamtverbesserung Rosenhagens. Sie werden sehen, Ludwig ist auf dem richtigen Weg. Er hat alles im Griff, und man findet immer ein offenes Ohr bei ihm.“
Ich nutzte die Gelegenheit, um ihn thematisch festzunageln. „Ich habe gehört, in Sachen ‚Gottesanger‘ gibt es Probleme.“
„Probleme? Das ist mir neu.“
„Es soll bei der Grundstücksverteilung nicht mit rechten Dingen zugehen“, tastete ich mich langsam vor.
Anscheinend war ich an der falschen Adresse, denn Ehrhardt blickte mich verständnislos an.
„Bereits jetzt, bevor die Bewerbungsfrist abgelaufen ist, sind abschlägige Bescheide an Bürger rausgegangen.“
Ehrhardt schnappte nach Luft.
„Erkundigen Sie sich mal über den Bürgermeister und seine Freunde!“, lenkte ich ihn auf die politischen Gegner.
Den Happen schluckte er. Als hoffnungsvoller Nachwuchspolitiker, der an seiner Karriere bastelte, würde er jede Chance nutzen, um sich zu profilieren. „Interessant! Ich werde mich gerne mal ein bisschen umhören und Sie anrufen“, versprach er eifrig mit einer kleinen altmodischen Verbeugung. „Oh, dort kommt unser baupolitischer Sprecher. Gestatten Sie, dass ich Ihnen Bernd Herder vorstelle?“
Ein kräftiger Typ mit buschigen Augenbrauen, schwarzem Schnauzer und an den Seiten bereits leicht angegrautem dunklem Haar begrüßte mich. Er hatte einen festen Händedruck. Der zarte Lavendelduft, der seine Kleidung umwehte, passte eher zu einer alten Dame. Wahrscheinlich hängte seine Frau Beutelchen getrockneter Lavendelblüten zwischen die Wäsche in den Schrank.
„Passen Sie auf, was Sie sagen! Herder ist im Hauptberuf Kommissar“, flachste Ken Winter dazwischen.
Der Mann interessierte mich. Glücklicherweise wurden Winter und Ehrhardt in dem Moment von anderen Leuten mit Beschlag belegt, sodass Herder und ich alleine zurückblieben. Ich packte die Gelegenheit beim Schopf. „Dann wissen Sie bestimmt über diese Unfälle in der Kieskuhle Bescheid. Wie schätzen Sie die Situation ein, war es wirklich in beiden Fällen Selbstmord?“
Herder runzelte die Stirn. Gewiss hatte er nicht damit gerechnet, auf einer lockeren Party über dieses ernste Thema reden zu müssen. Das Lächeln verschwand von seinen Lippen, seine Gesichtszüge versteinerten. „Eine tragische Angelegenheit. Ich habe die Ermittlungen geleitet. Jeder Zweifel ist ausgeschlossen. Sebastian Jensen und Peter Heimann sind freiwillig aus dem Leben geschieden. Es existierten keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung.“
„Haben Sie nach Reifenspuren eines weiteren Fahrzeugs gesucht?“
„Selbstverständlich. Es hatte an beiden Tagen stark geregnet, sodass auf den sandigen Wegen keine Spuren mehr festzustellen waren.“ Herder verzog unwillig die schmalen Lippen, als hätte ich ihn mit meiner dreisten Fragerei beleidigt. „Sie können sich vorstellen, dass wir versucht haben, jede Möglichkeit, die einen Suizid ausschließt, in Betracht zu ziehen. Das tun wir natürlich ohnehin, aber diesmal war ich persönlich besonders betroffen, da es sich um Angehörige unserer Partei handelte.“
„Finden Sie das nicht seltsam? Beide begehen kurz hintereinander am gleichen Ort Selbstmord?“
„Zufall! Sie stammten aus verschiedenen Kreisen und waren nicht miteinander befreundet. Sebastian, der Arztsohn, engagierte sich im Kulturausschuss. Ein Feingeist, interessierte sich für Theater, Musik und Literatur. Peter, der Bauernsohn, setzte sich für ökologische Belange ein. Er war Mitglied des Umweltausschusses.“
„Beide waren im gleichen Alter, Studenten und galten in ihrer politischen Arbeit als ehrgeizig, oder?“
„Wer studiert heutzutage nicht alles.“ Herders Tonfall klang abwertend. „Man darf nicht zu viel hineininterpretieren. Ich weiß aus meiner langen Dienstzeit, dass weitaus mehr Suizide begangen werden, als man annimmt. Gerade solche jungen, ehrgeizigen, sensiblen Männer, die, durch irgendetwas enttäuscht, auf den rauen Boden der Realität fallen, sind leider treffliche Kandidaten dafür.“
„Aber worüber verzweifelten Sebastian Jensen und Peter Heimann?“
„Kann ich Ihnen nicht sagen. Wir haben nichts Konkretes herausgefunden. Vielleicht eine unglückliche Liebe? So was geht schnell! Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Man sollte die beiden ruhen lassen und nicht weiter herumstochern. Im Interesse der Angehörigen.“ Herder hielt aus dem Augenwinkel Ausschau nach seiner Frau und seinen beiden Kindern, die gerade um das Büfett jagten und sich wahre Berge auf ihre Teller stapelten. Irgendwann fiel dem Jungen ein, dass es lustiger wäre, auf das Matrosenkleid der blond bezopften Schwester Tomaten zu feuern.
Prompt schaltete die ihre Sirene an: „Mama, Ernst-August ärgert mich!“
Die Mutter schüttelte genervt ihre wohlgefönten Dauerwellen und keifte: „Ernst-August Herder, benimm dich gefälligst!“
„Tu ich doch!“, konterte der kleine Streithansel.
Im nächsten Moment zerrte ihn sein Vater unsanft am Ärmel vom Büfett weg. Damit war unser Gespräch beendet.
Etwas abseits von den anderen Leuten unter einem Ahorn mit weit ausladenden Ästen stand eine hübsche, junge Frau. Ihr dunkelblaues Kostüm identifizierte sie als zugehörig zum ‚Club‘. Sie war ungefähr in meinem Alter. Große Rehaugen und ein glänzender schwarzer Zopf, aus dem sich einige Locken vorwitzig herausringelten, verliehen ihr einen mädchenhaften Touch. Versonnen umklammerte sie ein Glas mit Orangensaft.
Ihre Außenseiterposition machte mich neugierig. Ich schob mich unauffällig näher an sie ran und tat so, als wollte ich unter dem Ahorn in Ruhe eine Zigarette rauchen.
Offensichtlich lagen ihr die Benimmregeln im Blut. Als ich meine Zigaretten zückte, langte sie in ihre Jackentasche und zog ein Feuerzeug hervor. Sie lächelte professionell. „Guten Tag, Sie müssen die neue Redakteurin vom Rosenhagener Tageblatt sein. Ich bin Christine Riecken, Kulturausschuss.“ Sie erkundigte sich, wie es mir in Rosenhagen gefiel. Wir tauschten eine Weile Belanglosigkeiten aus. Sie erzählte mir von ihrem Informatikstudium und ihrer Tätigkeit als Freizeitpolitikerin im Kulturausschuss. Engagiert schilderte sie mir ihre Arbeit. Trotz ihrer zierlichen Figur wirkte sie energisch, wie jemand, der sich gerne durchsetzte.
Irgendwann stockte unser Gespräch, wie es manchmal passiert, wenn man sich gegenseitig fremd ist.
Nur um irgendetwas zu sagen, bemerkte ich: „Der tragische Tod Ihres Parteikollegen hat Sie sicherlich alle erschüttert! So jung, sich mit dem Auto einen Abhang hinunterzustürzen. Brr ...“ Ich schüttelte mich.
Sofort verdüsterte sich ihr Gesicht. Die Rehaugen schweiften in die Ferne, als hätte sie meine Anwesenheit einen Moment lang vergessen. Der kämpferische, entschlossene Ausdruck, den sie eben trugen, verschwand und wich Verwundbarkeit.
„Hoffentlich habe ich nichts Falsches gesagt?“, bedauerte ich.
Sie zuckte zusammen. „Nein, nein.“
„Werden in der Kiesgrube heimliche Rennen gefahren?“ Mein Gefühl sagte mir, dass diese Frau mehr wusste als die anderen, mit denen ich bisher gesprochen hatte.
Tatsächlich landete ich anscheinend endlich einen Volltreffer. Christine Riecken klammerte sich wie eine Hilfesuchende erschrocken an einen Ast des Ahorns. Sie schaute plötzlich zerbrechlich aus. „Wie kommen Sie darauf?“
„Warum düste Ihr Parteikollege sonst nachts in der Kieskuhle umher?“ Als sie nichts erwiderte, beschloss ich, weiter die naive Ahnungslose zu spielen. „Und außerdem soll auch ein anderer dort vor einiger Zeit ums Leben gekommen sein.“
„Ja, Sebastian.“
„Sie glauben nicht daran, dass die beiden sich umgebracht haben?“
Sie schwieg. Mit gesenktem Kopf lehnte sie am Baumstamm.
Ich vergaß alle Vorsicht. „Christine, was ist geschehen? Sie wissen es doch.“
Als sie nicht antwortete, insistierte ich weiter: „Haben Sie Kommissar Herder Ihre Vermutungen mitgeteilt?“
Sie blickte mich düster an. Es war, als wolle sie meine Augen mit ihren festnageln. Komischerweise dachte ich einen Moment lang wieder an die ernsten Augen des toten Peter Heimann, die mich so fasziniert hatten.
Christine Riecken machte eine ruckartige Bewegung und griff nach meinem Ellenbogen. Kaum berührt, ließ sie ihn wieder sinken. Wie ein Reflex, den sie in derselben Sekunde bereute. „Schreiben Sie etwas über die Unglücksfälle in der Kiesgrube?“ Die Stimme war nah an meinem Ohr, die Lippen bewegten sich kaum. Ihre Frage quälte sich offenbar gewaltsam einen Weg aus ihrer Brust ins Freie.
Taktisch wartete ich ab, was sie weiter sagen würde.
„Lassen Sie die Finger davon!“, flüsterte sie. „Sie sind neu und können es nicht wissen. Es ist gefährlich!“
„Was?“
Statt einer Antwort murmelte sie: „Vergessen Sie, was ich gesagt habe!“ Sie schritt davon.
„Halt! Warten Sie!“, wollte ich sie aufhalten.
Sie hörte nicht und verschwand in Richtung Gartentor. Mit ihr verließ auch eine Hauptakteurin die Party – die Sonne. Aber im Gegensatz zum unscheinbaren Abgang von Christine Riecken feierte sie ihren Abschied als Diva im feuerroten Abendkleid, das den Himmel verfärbte und die Gäste zu vielen „Ohs“ und „Ahs“ hinreißen ließ, als wäre dieses Schauspiel eigens für sie inszeniert worden.
Ein seltsames Gespräch. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Entweder war die Frau ein bisschen durchgedreht oder ich lag mit meinen Zweifeln an den beiden Selbstmorden richtig. Christine Rieckens Reaktion versetzte mich in eine seltsame melodramatische Stimmung, die so gar nicht zu einer fröhlichen Party passte. Was meinte sie damit, ich solle die Finger von der Story lassen?
Je nachdenklicher ich wurde, umso mehr schwoll der Lärmpegel um mich herum an. Stündlich enthemmter, bewegten sich die blau-grauen Gruppen auf dem Rasen unter bunt flackernden Lampions in der Dämmerung immer rascher auf und ab, sodass mir vom Zusehen schwindelte. Christine Rieckens Depressivität färbte ab.
Ich beschloss, ein Glas Bowle zu trinken, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Am Bowlestand palaverten Ken Winter und Kommissar Herder. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende haute seinem baupolitischen Sprecher gerade männlich derb auf die Schulter, und dieser grölte hinter vorgehaltenem Bierglas über irgendeinen schmutzigen Witz.
„Ha, ha“, japste Winter, „aber kennst du den? Kommt eine Blondine ... Oh Verzeihung!“ Er hatte mich entdeckt und drehte sich, wie es mir vorkam, ein wenig spöttisch in meine Richtung.
„Ich bin keine Blondine“, entgegnete ich gelassen. „Aber kennen Sie den mit dem Teufel?“
„Nein!“ Neugierig scharten sich die Männer um mich.
„Also, der geht so: Der Teufel kommt auf die Erde und will nicht erkannt werden, deswegen nimmt er seine Hörner ab. Er besucht eine Bar, setzt sich an den Tresen, bestellt eine Caipirinha und fragt den Barkeeper: ‚Weißt du, wer ich bin?‘
‚Klar‘, sagt der, ‚du bist der Teufel!‘
Verärgert zieht der Teufel von dannen. Am nächsten Abend färbt er sich menschenrosa und besucht wieder ohne Hörner die Bar. Er schlürft eine Caipirinha und fragt den Barkeeper: ‚Weißt du, wer ich bin?‘
‚Natürlich, du bist der Teufel!‘
Wütend zieht der Teufel ab. Beim nächsten Barbesuch erscheint er ohne seine Feuerforke, in menschenrosa und ohne Hörner. Als er seine Caipi ausgetrunken hat, stellt er dem Barkeeper erneut die bekannte Frage, und dieser antwortet wie immer: ‚Du bist der Teufel!‘
Der Teufel ist verzweifelt. Er trennt sich auch den Schwanz ab. So geht er zu einer Prostituierten. Nach dem Sex fragt er sie: ‚Weißt du, wer ich bin?‘
Sie schüttelt den Kopf: ‚Nein, das weiß ich nicht! Aber ficken kannst du wie der Teufel!‘“
Während ich den Witz beendete, kullerte mir ein Fußball vor die Füße.
„Mensch, Caroline, so bringt das keinen Spaß!“, maulte Ernst-August, der hinter dem verschossenen Ball seiner Schwester her rannte.
„Moment mal!“ Ich zog meine hochhackigen Schuhe aus, holte mit dem rechten Bein Schwung und zielte den Ball in Ernst-Augusts Arme. Erinnerungen an den Teil meiner Jugend, den ich kickend mit den Jungs aus der Nachbarschaft auf unserem Hinterhof verbracht hatte, erwachten.
„Witze erzählen und Fußball spielen kann sie auch!“, stellte Ken Winter anerkennend fest und drückte mir ein frisches Glas Bowle in die Hand.
Ich schwebte. Heiße Freude kroch in mir hoch. Nach all den Nörgeleien der letzten Zeit sog ich Komplimente durstig ein. Ich beugte mich vornüber, um den Ball aufzusammeln. Bei dieser ruckartigen Bewegung segelte etwas Flaches, Weißes aus meinem Ausschnitt auf den Rasen.
Der kleine Ernst-August preschte vor und hob es auf. „Sie ham Ihre Serviette verloren.“ Er hielt Ken Winter die Slipeinlage unter die Nase.
Alle Redakteure besaßen eine eigene E-Mail-Adresse, die im Impressum der Zeitung abgedruckt wurde, sodass die Leser direkt Anregungen oder Fragen an uns senden konnten. ‚Drei neue Nachrichten‘ leuchtete es in meinem Posteingangskorb.
Eine Mail von Lila: ‚Geliebte Einsiedlerin, vergiss uns nicht in der Provinz! Heute hat mich deine kleine Schwester besucht. Sie fühlt sich von allen ungerecht behandelt. Von dir übrigens auch, du hast sie wohl oberlehrerhaft abgebügelt.‘
Ich dachte an meine SMS und gab ihr recht.
‚Vic hat Stubenarrest bekommen, weil sie beim Klauen erwischt wurde. Natürlich ist sie durchs Fenster getürmt, direkt zu mir. Und weißt du, was sie im Drogeriemarkt hat mitgehen lassen? Eine Flasche Meister Propper! Ich war auch zuerst platt. Dann hat sie mir erzählt, warum. Diese verdrehte Göre hatte sich heimlich von deiner Schwester deren neues Angora-Strickkleid ausgeliehen.‘
Ich grinste, als ich mir die magere Vic in dem viel zu weiten Kleid von Sophie vorstellte.
‚Aber sie hat es nicht angezogen, sondern daraus ein Nest für einen herumstreunenden Hund gebaut. Es sei so schön warm gewesen, meinte Vic. Jedenfalls lief der Hund irgendwann weg. Auf dem Kleid waren nun seltsame Flecke. Vermutlich hatte der Hund drauf gepinkelt. Und diese Flecke wollte deine großartige kleine Schwester mit Meister Propper entfernen. Was für ein Glück, dass es so weit gar nicht erst gekommen ist. Sonst hätte Sophie jetzt ein prima Loch im Kleid. Vic erinnert mich an dich. Liebe Grüße Lila.‘
Während ich die zweite Nachricht überflog, die von einem Pressebüro stammte, das uns Interviews mit Schauspielern zum Kauf anbot, dachte ich voller Sehnsucht an Vic. Wie herzerfrischend wäre es, sie mit all ihren verrückten Einfällen bei mir zu haben!
Ich zündete eine Zigarette an und öffnete die dritte Mail. Vor Überraschung fiel mir die brennende Kippe auf den Tisch, und es hätte beinahe ein Unglück gegeben. Blitzschnell fegte ich sie auf den Fußboden und trat sie mit dem Absatz aus. Ich klemmte mir eine frische Fluppe kalt zwischen die Lippen und wandte mich wieder dem merkwürdigen Text auf meinem Bildschirm zu: ‚Wenn Sie die ganze Wahrheit über Rosenhagens Politprominenz erfahren wollen, lesen Sie www.rosenhagen.de/polit/wahr‘. Anonymer Absender.
Ich klickte die E-Mail-Adresse des Schreibers an. Sie bestand nur aus einzelnen Zahlen und verriet keinerlei Namen. Gesendet worden war die Mail bereits vor drei Tagen, abends um 20.23 Uhr. Ich hatte die Nachrichten länger nicht abgerufen, weil das Wochenende dazwischen lag und ich außerdem einen freien Tag abgebummelt hatte.
Neugierig öffnete ich die genannte Homepage-Adresse. www.rosenhagen.de war die offizielle Web-Seite der Stadt Rosenhagen mit Informationen über öffentliche Einrichtungen und die Sehenswürdigkeiten: Ein Hünengrab draußen auf dem Feld und eine Herrenhausanlage aus dem 18. Jahrhundert in einem Dorf vor den Toren der Stadt mit Gesindehäusern und einem Eiskeller.
Hinter ‚/polit‘ verbargen sich die Rosenhagener Abgeordneten, die knapp mit ihrem Zuständigkeitsbereich porträtiert wurden. Ich scrollte die Seite hinunter. Neben anderen lächelten mir die bekannten Gesichter von Huber, Prange, von Stetten, Winter, Ehrhardt und Herder entgegen. Unspannend! Dazu gab es jeweils einen Link auf die Homepage der entsprechenden Partei, wo Aktionen vorgestellt und jede Menge Lobhudeleien über ihre politische Arbeit verbreitet wurden.
Ein Link zu ‚wahr‘ existierte nicht. Also tippte ich die vollständige Adresse ein, die mir der anonyme Schreiber genannt hatte, und wartete, welche sensationelle Enthüllung auftauchen würde.
‚Seite kann nicht angezeigt werden‘, flimmerte über den Bildschirm.
Große Enttäuschung! Ich versuchte es mit ‚aktualisieren‘, falls ein anderer Browser verwendet worden war, scheiterte aber auch damit. Sowieso unlogisch, die anderen Seiten dieser Homepage hatte ich problemlos geöffnet.
Was stand auf dieser Seite? Irgendeine Enthüllung über die Politiker oder einen von ihnen? An eine technische Panne glaubte ich nicht. Eher hatte der Urheber der Seite kalte Füße bekommen oder war gezwungen worden, seine Botschaft zu entfernen.
Ich konnte mir keinen Reim auf die Angelegenheit machen. Wurden Leute – aus Neid? – denunziert oder stimmte etwas nicht? Einzig, dass die Geschichte irgendwie mit den Rosenhagener Politikern zusammenhing, war klar! Aber sonst tappte ich komplett im Dunkeln.
Ein unruhiges Gefühl beschlich mich. Eine seltsame Vorahnung, als ob ich ahnungslos in etwas Schreckliches hineinschlitterte.