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8: Lippenstift und Attitüden

Im Frühling 1973, während KISS immer noch davon träumten, in die Oberliga aufzusteigen, waren die New York Dolls die Könige (und Königinnen) der New Yorker Rockszene. Diese mit Wimperntusche verzierten Sonderlinge waren die angesagte Band, welche die Grenzen der Androgynie verschob und gleichzeitig eine loyale Anhängerschaft um sich scharte. Nachdem sie im März 1973 bei Mercury Records unterschrieben hatten, nahmen die Dolls – bewaffnet mit ihrem ungeschliffenen Material, das zwischen den Stones und Girl-Groups angesiedelt war – ihre erste LP auf, wobei sie von Todd Rundgren betreut wurden. Das Album, das wie die Band hieß, kam im Spätsommer auf den Markt. Aber obwohl es von Pop-Experten überschwänglich aufgenommen wurde, verkaufte es sich außerhalb ihrer Heimatstadt nur bescheiden.

BINKY PHILIPS: Musikalisches Talent und technische Fähigkeiten wurden in New York total anders bewertet. Dies war die Ära von Genesis, King Crimson, ELP und Yes. All diese vertrackten Bands, die auf Virtuosität Wert legten. In diesem Sommer des Jahres 1972 aber fuhren alle Musiker ins Mercer Arts Center, um die New York Dolls zu sehen, weil ein Mordsaufsehen um sie gemacht wurde. Der Name allein reichte schon aus. Und die Dolls waren unwahrscheinlich rudimentär. Ich bezweifle, dass Johnny [Thunders] oder Syl [Sylvain] mehr als acht oder neun Akkorde kannten. Der Schlagzeuger konnte kein Tempo lange halten. Sie waren schrecklich, wenn man sie rein musikalisch bewertete, aber jede Band, die die Dolls sah, wollte so sein wie sie. Aerosmith kamen aus Boston rüber, und als sie wieder fuhren, wollten sie so sein wie die Dolls. Nur Monate zuvor war noch Jeff Beck ihr Gitarren-Hero gewesen, und nun wollten sie alle wie Johnny Thunders sein.

BOB GRUEN (FOTOGRAF): Eines Abends, nachdem KISS geprobt hatten, kamen sie ins Hotel Diplomat, um die Dolls zu sehen. Die Dolls waren die bestaussehende Band weit und breit, und KISS kamen diesbezüglich nicht an sie heran. Die Dolls orientierten sich stark an Rhythm and Blues, wohingegen KISS einen viel metallischeren Hardrock-Sound bevorzugten.

PAUL STANLEY: Es war unmöglich, aus New York zu kommen und die Dolls nicht zu kennen. Wenn du in einer Rockband warst, gab es kaum einen Weg an den Dolls vorbei, einfach schon aus geografischen Gründen.

GENE SIMMMONS: Paul und ich sahen die Dolls im Diplomat – ein paar Monate bevor wir dort spielten. Es war brechend voll.

PAUL STANLEY: Die Dolls hatten viele Fans und zogen für eine Band, die noch nicht unter Vertrag stand, eine große Menge Leute an. Wir wollten sehen, was es mit ihnen auf sich hatte, da wir sie im Mercer Arts Center verpasst hatten. Sie waren eine gute Stunde zu spät dran.

GENE SIMMONS: Die Dolls kreuzten mit ihrem Glitter, den zu Berge stehenden Haaren und ihren hochhackigen Schuhen auf. Sobald sie die Bühne betraten, sahen Paul und ich uns an und sagten: „Wow, die sehen unglaublich aus. Sie sehen aus wie Stars.“

PAUL STANLEY: Mann, sie sahen einfach toll aus. Sie trugen das coolste Lurex, ein Gewebe aus metallischen Fäden. Außerdem wirkten sie wie echte Freunde auf der Bühne. Sie verströmten diesen Vibe, der einen denken ließ: „Ich wünschte, ich könnte Teil dieser Band sein.“ Das ist es, was große Bands ausmacht.

GENE SIMMONS: Dann fingen sie an zu spielen, und wir drehten uns zueinander und wussten: „Gegen uns haben sie keine Chance.“

TOMMY RAMONE: KISS waren komplett anders als die Dolls. Wir befanden uns in der Ära von Glam und Glitter. Jeder lief in Plateauschuhen herum, und manche Bands trugen Make-up, so wie die New York Dolls, Twisted Sister oder The Fast. KISS wirkten auf den Bildern ihrer frühen Auftrittsankündigungen so, als hätten sie sich, wenn überhaupt, von The Fast inspirieren lassen. Damals hielt ich den Look von KISS für ein reines Gimmick. Ich war mehr von ihrer Musik und ihren Qualitäten als Entertainern beeindruckt als von ihren Kostümen oder dem Make-up.

EDDIE SOLAN: Man konnte KISS mit niemandem vergleichen. Als Glitter-Band wurde man mit den Dolls oder den Brats verglichen. Aber KISS waren so anders. Sie passten in keine Schublade. Paul und ich sahen uns zusammen die Dolls an. Paul mochte sie und ließ sich von ihnen inspirieren.

PAUL STANLEY: Die Dolls waren die größte Band in New York, und wir wollten die größte Band der Welt werden. Ich glaube, sie hatten eine Scheißangst vor uns.

BOB „NITEBOB“ CZAYKOWSKI (TONTECHNIKER, NEW YORK DOLLS): Ich weiß noch, wie Johnny Thunders von den Dolls sagte: „Mann, das sind ja echte Riesen, wie Football-Spieler!“ Die drei Fronttypen von KISS waren alle schon ohne ihre Stiefel über einsachtzig – und bei den Dolls waren die meisten eher klein.

PAUL STANLEY: Es war unmöglich, mit ihnen auf einer visuellen Ebene zu konkurrieren. Frühe Fotos von KISS belegen, dass wir aussahen wie Footballer in Drag auf dem Weg zum Maskenball. Auf dem Heimweg vom Dolls-Konzert an jenem Abend unterhielten wir uns: „Lass uns die ganzen Farben weglassen und uns auf Schwarz und Weiß konzentrieren.“ Und daraus wurden schließlich Schwarz, Weiß und Silber. Nachdem wir sie gesehen hatten, wurde uns klar, dass wir die Dolls nicht bei ihrem Spiel würden schlagen können. Also mussten wir einen anderen Look für uns finden. Sie sahen cool aus und hatten einen unglaublichen Vibe, aber sie wollten sowieso nicht mit uns zusammen auftreten. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Sylvain, ihrem Rhythmusgitarristen, auf dem Klo im Hotel Diplomat. Ich schlug einen gemeinsamen Auftritt vor, und er antwortete: „Nein, das sollten wir nicht tun. Ihr würdet uns vernichten.“ Sie waren nicht dumm.

SYLVAIN SYLVAIN (RHYTHMUSGITARRE, NEW YORK DOLLS): Die Dolls waren eine schmierige, unterirdische Underground-Band. Amerika konnte eher mit KISS etwas anfangen, aber nicht mit den Dolls. Amerika hielt uns für schwul, wir waren Drag-Queens. Wir wirkten abstoßend, kränklich und waren Junkies. Auf meine Brooklyner Art sehe ich die Dolls als Club-Kids. Wir waren sexy und versuchten eben nicht wie Frauen auszusehen. Es war alles sehr ironisch und affektiert. Wir hatten einfach Spaß daran, das Leben auszukosten. Für uns war das kein Job, es war unser Leben. Im Vergleich zu KISS waren wir viel gefährlicher. Jede Idee, die sie jemals hatten, hatten sie von den Dolls. Die Dolls waren wie Stripper oder Club-Kids und KISS eher wie Fernfahrer, die mit Schminke hantierten. Sie dachten sich wohl: „Mal sehen, was heute so abgeht – aha, Schminke! [lacht]. Das wollen die Kids, also lasst uns eine Show abziehen.“ Unsere Mentalität in Bezug auf Showbiz war mehr an Die kleinen Strolche angelehnt: „Uns ist langweilig. Was sollen wir tun? Warum ziehen wir keine Show ab?“ Die Dolls waren eine Reaktion auf das, was so abging, und die Industrie wollte nichts mit uns zu tun haben. Wir waren zuerst da und halfen mit, die Tür einzutreten, durch die KISS schließlich hindurch spazierten. Ich liebte das, was KISS taten. Es ist unglaublich, wie riesig sie wurden, aber ich muss zugeben, dass ich den Blues bei ihnen vermisse – etwas, das die Dolls sehr wohl hatten. Aber ich habe stets die Tatsache anerkannt, dass sie talentiert genug waren, um alles zu verändern, und erfolgreicher waren als David Bowie, ich selbst, Iggy Pop und die Velvet Underground.

DAVID JOHANSEN (LEADSÄNGER, NEW YORK DOLLS): Was man an KISS bewundern muss, ist ihre Langlebigkeit. Sie zogen jeden Abend ihre Kostüme an und aus, und irgendwann wurde die Welt auf sie aufmerksam, weil sie sie oft gesehen hatte: auf Fotos, im Fernsehen, in Zeitungen – egal wo. Irgendwann wurden sie sofort als KISS erkannt. Wer sonst zieht sich schon so an?

GENE SIMMONS: Es ist einfacher, sich von den Stones inspirieren zu lassen: Du legst dir so einen Haarschnitt zu, wirfst ein paar Schals und coole Klamotten über, und die Girls werden auf dich abfahren und die Jungs werden dich für eine Band aus England halten. Und wir taten genau das Gegenteil, gingen unseren eigenen Weg. Wir waren nicht sehr überzeugend als androgyne Jungs. Die Dolls waren sehr wichtig, aber sie waren absolut eine von den Stones inspirierte Band. Sie hatten David Johansen, einen Typen mit großen Lippen, der aussah wie Mick Jagger, und dann gab es da noch Johnny Thunders, einen Typen, der wie Keith Richards aussah. Sie bezogen sich auf eine ikonische Blaupause. Sie waren die amerikanischen Stones. Es gab keine großen Unterschiede zwischen den Dolls, Aerosmith und den Stones.

KEITH WEST: KISS klangen toll. Aber viele andere Bands waren auch gut. Wir hätten nicht erwartet, dass KISS der Durchbruch gelingen würde. Jeder dachte eher an die Dolls, dass sie so groß werden würden wie Bowie, aber das trat nicht ein.

BINKY PHILIPS: KISS wurden von den anderen New Yorker Bands als Outsider angesehen. Die meisten hielten das Make-up für lächerlich. Es gab einen gewissen Klüngel von New Yorker Bands wie etwa Teenage Lust, die um die Dolls zirkulierten wie Planeten um die Sonne, und diese Bands waren die coolen. Wenn man im Mercer Arts Center auftrat, gehörte man dazu. Aber KISS spielten nie dort. Der Umstand, dass ihre Songs sich an Humble Pie orientierten, die in der Welt der Dolls nie als besonders groovy galten, ihr allgemeines Auftreten auf der Bühne und ihr Sound machten sie zu Outsidern. Sie wurden nicht sonderlich respektiert. Es war eine sehr kleine Szene. Da waren KISS, die Planets, die Dolls und die Brats. Das sind vier Bands aus einer Szene, die ungefähr 15 Gruppen umfasste. KISS hatten das Problem, dass sie bedeutend bessere Musiker waren als die anderen Bands in New York. Die einzigen, die noch besser gewesen sein könnten, waren die Planets. Ich glaube, dass viele Leute sauer auf KISS waren, weil niemand gerne jemand Besseren neben sich hat.

Die Geschichte von KISS

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