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4: Überlebensgroß

Im Dezember 1972 hatte sich die Gründungsformation von KISS schließlich gefunden. Aber zu dieser Zeit waren KISS noch eher Clark Kents als Superhelden. Es sollte noch einige Monate fleißigen Herumexperimentierens und permanenter Suche nach sich selbst brauchen, bevor Superman sich aus der Telefonzelle auf die Straße hinaus wagen konnte.

PETER CRISS: Gene und Paul und ich probten täglich acht Stunden.

RIK FOX: Als ich sie in ihrem Loft spielen sah, konnte ich auch ohne das Make-up erkennen, in welche Richtung sich ihre Bühnenpersönlichkeiten entwickeln würden. Die Schminke war nur der Zuckerguss auf der Torte. So viel Power transportierten sie schon während der Proben.

PETER CRISS: Vor der Zeit bei KISS hatte ich bereits in jedem Club in New York gespielt – Arthur’s, Harlows, Trudy Heller’s, im Metropole. Ich spielte auf Bar Mizwas und in Stripschuppen. Aber in jeder Band, in der ich dabei war, wollte ich nur selbst geschriebenes Material spielen. Ich sagte immer wieder: „Wir müssen uns verkleiden, Mann, lasst uns Make-up auflegen und eine Show abziehen.“ Ich verabschiedete mich von all diesen Bands und sagte ihnen: „Ich muss die richtigen Leute finden.“

EDDIE SOLAN (FRÜHER ROADIE UND SOUNDMAN BEI KISS): Ich war ein guter Kumpel von Ace, schon lange bevor er bei KISS anfing. Ich habe ihn sogar meistens vom Haus seiner Eltern abgeholt und in meinem kleinen VW-Käfer runter ins Loft gebracht – weil ich eben ein Auto hatte und er nicht. Jeden Abend war ich im Loft dabei. Zu dieser Zeit baute ich ihnen gerade eine PA. Es war immer Pauls und Genes Band, aber nach einiger Zeit begriffen die beiden, das es Ace und Peter waren, die die Sache zum Funktionieren brachten. Gene und Paul hatten da eine gute Sache ins Rollen gebracht. Sie hatten Geschäftssinn, waren sehr kreativ und zielorientiert, aber sie hatten nicht die nötige Lockerheit des Rock ’n’ Roll, die Peter und Ace wiederum mitbrachten. Paul und Gene zeigten absolute Entschlossenheit. Ihre Einstellung ließ sich so umreißen: „Wir werden es schaffen, wage es nicht, daran zu zweifeln!“ Diese Einstellung färbte schnell auf Ace und Peter ab. Ihr Enthusiasmus und ihre Hingabe wirkten ansteckend und ermutigend auf Ace. Er hatte davor nur mit Bar-Bands zu tun gehabt. Diese Band strahlte einen anderen Vibe aus, und ich ließ mich auch gerne davon anstecken. Ich glaubte an sie und wollte ihnen so gut ich konnte helfen.

RON JOHNSEN (PRODUZENT, WICKED LESTER): Ich sah sie in ihrem Loft und fand sie absolut umwerfend. Sie waren ungehemmt, energiegeladen, sehr wild. Sie warfen sich gegen die Wände – ein sehr körperbetonter Act, echte Rowdys. Vieles von dem, wie sie an die Sache herangingen, hatten sie sich bei Gruppen wie den New York Dolls oder The Brats abgeschaut.

PETER CRISS: Wir kupferten viel ab. Viele unserer Ideen, die Art, wie wir Sachen machten, kam von den Beatles, Alice Cooper und den New York Dolls. Wir hielten Kriegsrat: „Wie wäre es, wenn wir das alles in einen Topf werfen?“ Und es funktionierte. Es war fantastisch.

GENE SIMMONS: Wie die Beatles wollten wir eine Band aus vier Individuen sein. Du konntest ja schließlich Fan einer Band und gleichzeitig eines einzelnen Bandmitglieds sein. Wir waren eine Erweiterung von allem, was vor uns gekommen war. Wir waren Kinder der vorigen Generation des Rock. Alle meine Idole – die Stones, The Who und die Kinks – hatten so einen umfassenden Einfluss auf meine Weltsicht. Als ich Peter Townshend performen sah, wurde mir dieses Level an Begeisterung, das erreicht werden konnte, so richtig bewusst. Wir versuchten, uns an diesem archetypischen Image zu orientieren. Wir begannen Schminke aufzutragen, als Alice [Cooper] sie gerade abwischte, als Bowie sie hinter sich ließ – als Genesis fanden, dass es uncool wäre, Make-up aufzulegen. Uns gefiel die Idee, sich in die Lage zu versetzen, in seine eigenen Fantasien einzutauchen, dadurch eine völlig veränderte Person zu werden und doch noch dieselbe Person zu bleiben. Es ist, als ob man fünf oder sechs Jahre alt ist und gemeinsam mit seiner Schwester vor dem Spiegel steht und die Klamotten der Eltern anzieht. Du beginnst dich wie jemand anderes zu fühlen, aber du bis immer noch derselbe. Wenn du auf ein Kostümfest eingeladen bist, wirst du am ehesten ein Kostüm aussuchen, das deiner eigenen Persönlichkeit entspricht.

LEW LINET (ERSTER MANAGER VON KISS): Jedes Mal, wenn ich bei Proben vorbeischaute, fielen mir kleine Schminkdöschen auf. Als Erstes bemerkte ich, dass sie Eyeliner trugen, dann ein bisschen Rouge, dann ein wenig Augenbrauenstift, und so entwickelte sich das immer weiter. Mit jeder Probe wurden sie ein bisschen lauter und trugen etwas mehr Make-up. Sie warfen zusammen, was sie sich erträumt hatten – eine laute, altmodische Hardrock-Band, eine Art Mischung aus Stones, Bowie und Alice Cooper.

GENE SIMMONS: Anfangs befanden wir uns noch in der Glitter-Phase. Viele Bands hatten diesen androgynen Look, also versuchten wir es auch. Paul sah sehr überzeugend aus, ich dagegen wie ein Football-Spieler im Tutu. Der Look entwickelte sich gleichzeitig mit der Band. Als wir begannen, mit Make-up zu liebäugeln, passierte alles recht schnell. Paul und ich gingen ins Kaufhaus die Straße runter und kauften uns zwei anderthalb Meter hohe Spiegel für 15 Dollar. Als wir sie gegen die Wand im Loft stellten, verbogen sie sich, weil sie so billig waren. Als wir uns nun im Spiegel ansahen, ergab sich dieser freakige Effekt. Alles, woran ich mich erinnere, ist, dass wir begannen, Schminke aufzulegen. Unser erster Gig war schon eine Woche später. Zwischen dem Zeitpunkt, an dem ich den Club angerufen hatte, und dem Abend, an dem wir die Bühne im Coventry betraten, änderten wir unseren Namen in KISS und veränderten unseren Look. Zuerst malte sich keiner so weiß an wie ich. Ich ließ mich richtig gehen. Es war reinigend. Für die anderen war es mehr so: „Verkleiden wir uns ein bisschen und machen uns ein wenig zurecht für die Band.“ Ich erinnere mich an eine frühe Show, bei der Ace sein Spiegelbild in Peters Drums, die mit Polyesterfolie überzogen waren, stets im Auge behielt. Er fing immer wieder an zu lachen. Er fand es so bizarr. Aber am Anfang gab es für die anderen keine Verbindung zwischen der Schminke und ihrer Persönlichkeit. Es war so, als ob Dr. Jekyll noch nicht ganz zu Mr. Hyde geworden wäre. Bei mir vollzog sich diese Veränderung sofort, innerlich wie äußerlich. Wenn ich mir ein paar alte Fotos anschaue und sehe, wie ich da auf der Bühne stehe, dann ist das derselbe Typ, der später die gesamte Kriegsbemalung auflegte und sich in die Outfits zwängte.

EDDIE SOLAN: Paul und Gene sagten zu Ace: „Wir sind vielleicht nicht die beste Band der Welt, aber wir werden alles tun, um Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen.“ Sie waren überzeugt, dass das passieren würde. Sie sahen nur nach vorne. Ich holte Paul Stanley an Freitagabenden von seinem Elternhaus ab, um dann nach Auftrittsmöglichkeiten für die Band Ausschau zu halten.

TOMMY RAMONE (SCHLAGZEUGER, RAMONES): Damals gab es nur drei Orte, an denen man selbst geschriebenes Material spielen konnte – Max’s Kansas City, das Mercer Arts Center sowie das Coventry. New York war total tot. Es gab ein paar Clubs für Coverbands, aber für Gruppen, die ihr eigenes Zeug spielten, gab es nicht viele Orte.

GENE SIMMONS: Wir bekamen keine Auftritte, weil wir keine Songs aus den Charts nachspielten. Wir wollten unsere eigenen Songs spielen, aber die Clubs waren an solchen Bands nicht interessiert. Aber unser Plan war, in kleinen Clubs aufzutreten, um herauszufinden, wer und was wir auf der Bühne waren.

Ohne Geld, aber mit einer Menge Einfallsreichtum flickten KISS sich rudimentäre Kostüme und Bühnenutensilien zusammen, die ihren Ursprung an den unwahrscheinlichsten Orten hatten.

PAUL STANLEY: Es war kein Zufall, dass unsere frühen Outfits aus Sadomaso-Läden stammten. Wir gingen in Stadtteile und Gebäude, von denen ich nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten. Wir sahen befremdliches Zeug, etwa eine Rundum-Kapuze, bei der vorne, auf der Höhe des Munds, ein Schlauch befestigt war. Wir kauften uns einiges, aber sie machten auch speziell für uns ein paar Sachen. Da gab es diesen S&M-Homo-Biker-Laden namens Eagle’s Nest, wo man Outfits für uns schneiderte. Was hatten die so? Schwarzes Leder und Nieten. Unsere Nietengürtel und Nietenhalsbänder in Tierhandlungen – Dinge, die man für eine Dänische Dogge hätte gebrauchen können – und in Sadomaso-Shops im West Village. Unsere Outfits waren vornehmlich schwarz. Ich trug echt hohe Absätze. Und Lurex-Hosen. Schwarze Kniestrümpfe und schwarze Shirts, auf denen „KISS“ stand. Mein Kostüm kostete circa 45 Dollar für die Schuhe, 3 Dollar für das Shirt und etwa 5 Dollar für das Lurex.

JOEY CRISCUOLA (BRUDER VON PETER CRISS UND FRÜHER ROADIE VON KISS): Meine Mutter machte KISS-Shirts für Peter. Eines trug er bei dem Gig im Coventry. Sie gab Klebstoff auf die Shirts und bestreute sie mit Glitter – das KISS-Logo in Glitter, es sah echt cool aus. Sie stickte ein Schlagzeug auf seine T-Shirts. Mein Bruder trug Shorts mit Nieten auf der Seite und schwarze Trikots.

ANNEMARIE HUGHES (KISS-FAN): Lydia [Criss], Peters Schwestern Donna und Joanne und ich legten zusammen, um nicht nur Peters Shirts, sondern die der gesamten Band und jedes Fans, der eines kaufen wollte, zu finanzieren. Ich erinnere mich, dass die Band einmal Ace Geld gab, um Shirts zu besorgen, doch er kam nie bis zum Laden. Er gab alles für Schnaps aus [lacht]. So war er eben.

ACE FREHLEY: Ich musste erst unlängst lachen, weil mir ein altes Foto unterkam. Gene trug ein Shirt mit einem silbernen Totenkopf und gekreuzten Knochen und ich ein Shirt mit silbernen Schwingen, und mir fiel ein, dass meine Mom diese beiden Shirts genäht hatte.

PAUL STANLEY: Alle Bands der New Yorker Szene, die es sich leisten konnten, kauften ihre Klamotten in Shops wie Granny Takes a Trip und Jumpin’ Jack Flash, die coole Sachen verkauften, die aus England kamen. Ich konnte mir das ganz bestimmt nicht leisten, also beschloss ich, sie mir selbst zu schneidern [lacht]. Ich besorgte mir die Materialien, und mein Vater meinte: „Netter Versuch, aber ich werde dir die Hosen kaufen. Ich bewundere dich dafür, dass du die Hosen selbst machen willst, aber du kannst das nicht.“ Ich meinte nur: „Ach, wirklich?“ Dann nahm ich meine besten Jeans, schnitt das Lurex in der Form der Hose und bat meine Mutter, mir die Nähmaschine zu erklären – und so machte ich mir meine Hose selber. Ich trug sie im Daisy. Sie waren so eng, dass sie schließlich barsten, als ich auf der Bühne stand. Mitten im Schritt natürlich. Ich war der Hit des Abends. Auch für Gene nähte ich ein Paar Hosen. Er hat sie immer noch.

GENE SIMMONS: Wir müssen wie Dinosaurier ausgesehen haben. So ab 1973 trug niemand mehr hohe Absätze. Wir hatten diese Sechs-Zoll-Stiefel, und das sah sehr nach Sadomaso aus. Sie sahen echt ziemlich fremdartig aus und wogen circa eine Tonne.

Ohne irgendetwas wirklich gemeinsam zu haben, außer der Hingabe zur lebensbejahenden Kraft des Rock ’n’ Roll, waren KISS vier eigenständige Persönlichkeiten, die an den Hüften zusammengewachsen waren, um zusammen ihren Weg an die Spitze anzutreten und die Welt zu erobern.

PAUL STANLEY: Als wir vier uns zusammentaten, um zu spielen, war es nicht von der Hand zu weisen: Sobald man es hörte, war es Weltklasse, aber nicht in Bezug auf unsere spielerischen Fähigkeiten. Es hatte internationalen Anspruch und Bedeutung. Und dazu kamen noch diese vier unterschiedlichen Charaktere. Das Ganze war sehr leicht entflammbar in dieser ersten Besetzung, und das war nicht unbedingt schlecht. Man musste es nur richtig einsetzen. Es war immer ein Aufwand, die Band auf Kurs zu halten. Wir schlossen viele Kompromisse, um es in Gang zu bekommen, und oft hatte es entweder mit der Begrenztheit gewisser Leute zu tun, oder aber mit ihrer Absicht, etwas zu sabotieren, nur um sich selbst ein Machtgefühl zu bescheren. Sabotage wurde für sie beinahe genau so wichtig wie Erfolg. Das geschah schon ganz am Anfang. Peter wollte schon ganz früh das Handtuch werfen, in diesem China-Restaurant, und Ace weigerte sich mitzuhelfen, unsere Ausrüstung zu schleppen. Aber letzten Endes waren es immer Gene und ich, die alles voranbrachten. Ob es nun darum ging, einen Truck zu mieten und zu fahren, die Ausrüstung zu schleppen, Zeug auszuleihen oder Plakate zu entwerfen, am Ende machten das immer Gene und ich. Abgesehen davon war es das Image der Band, die Art, wie die Leute sie wahrnahmen, was uns so besonders machte.

Die Geschichte von KISS

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