Читать книгу Einführung in die Interkulturelle Pädagogik - Georg Auernheimer - Страница 11
1.5 Förderliche und hinderliche Rahmenbedingungen in Deutschland
ОглавлениеVerständlicherweise ist der Erfolg interkultureller Bildung, ja die Chance, dass die Programmatik überhaupt in den pädagogischen Einrichtungen ankommt, von der Förderung durch die Bildungsverwaltung abhängig. Aber auch generell stellt die Bildungspolitik einen wichtigen Rahmen dar. Denn erstens ist der Raum für interkulturelle Bildungsarbeit beschränkt, wenn Schüler/innen aufgrund starker Auslesemechanismen früh getrennte Wege gehen. Zweitens werden die Leitmotive interkultureller Bildungsarbeit konterkariert, wenn Minderheiten aufgrund mangelnder Bildungsgerechtigkeit ein hohes Risiko tragen, schulisch zu scheitern. Damit verfestigen sich Stereotypen, negative Fremd-, aber auch Selbstbilder. In dieser Hinsicht sind über die Bildungspolitik hinaus die Migrations- und Sozialpolitik und überhaupt das politische Klima im Land von Bedeutung. Im Folgenden sollen zunächst Verlautbarungen der Kultusministerkonferenz (KMK)zur Kenntnis gebracht und Reformen seit PISA 2000 in Erinnerung gerufen und kritisch gewürdigt werden. Sodann wird auf Neuerungen in der Migrations- und der Sozialpolitik sowie auf Diskursereignisse aufmerksam gemacht, von denen angenommen werden kann, dass sie auf interkulturelle Bildungsarbeit Einfluss haben. Als ein Diskursereignis kann man zum Beispiel interpretieren das öffentliche Eingeständnis des Versagens der Strafverfolgungsorgane nach der Aufdeckung der Mordserie an Migranten seitens einer rechtsradikalen Terrorgruppe in 2011, verbunden mit der Entschuldigung gegenüber den Familien der Opfer – ein Diskursereignis, das die Stimmung im Land zugunsten der Neubürger gewendet haben könnte, also ein Diskursereignis mit positivem Einfluss auf die öffentliche Meinung.
Übernahme der interkulturellen Idee seitens der KMK
Im Verlauf der zwei Jahrzehnte seit 1990 sind aus der langsam sich durchsetzenden Erkenntnis, dass die Bundesrepublik unwiderruflich zum Einwanderungsland geworden ist, bildungspolitisch Konsequenzen gezogen worden, wobei einige Bundesländer eine Vorreiterrolle übernommen haben. Aufschlussreich ist ein Vergleich der KMK-Empfehlungen: Während die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz bis 1979 noch auf eine pragmatische Lösung der im Gefolge der Migration entstandenen Systemprobleme abzielten, nahm die „Saarbrücker Erklärung der KMK zu Toleranz und Solidarität“ von 1992 den interkulturellen Gedanken auf, indem sie „eine glaubwürdige Politik der Achtung vor anderen Kulturen und der Verantwortung für die eine Welt“ anmahnte.
die KMK-Empfehlungvon 1996
Während in dieser Formulierung noch eine verdinglichende Vorstellung von Kulturen zum Vorschein kommt, ist die KMK-Empfehlung von 1996 über „Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule“ auf der Höhe der erziehungswissenschaftlichen Diskussion. Kulturen werden als prozesshaft und Vorurteile als gesellschaftlich bedingt gekennzeichnet. Bei der |31|Skizzierung der „Ausgangslage“ wird nicht nur auf „die weltweite Vernetzung“ und „internationale Verflechtung“, sondern auch auf die Ungleichheit zwischen Nord und Süd, West und Ost verwiesen. „Lösungen für Schlüsselprobleme erscheinen nur noch im Bewusstsein Einer Welt tragfähig“, heißt es. Interkulturelle Bildung müsse sich „sowohl an die Angehörigen der Majorität als auch an diejenigen der Minorität“ richten. Bei den Zielformulierungen wird der Selbstreflexion angemessen Beachtung geschenkt. Unter anderem sollen die Schüler/innen
– sich ihrer jeweiligen kulturellen Sozialisation und Lebenszusammenhänge bewusst werden;
– Neugier, Offenheit und Verständnis für andere kulturelle Prägungen entwickeln;
– anderen kulturellen Lebensformen und -orientierungen begegnen und sich mit ihnen auseinandersetzen und dabei Ängste eingestehen und Spannungen aushalten;
– Vorurteile gegenüber Fremden und Fremdem wahr- und ernst nehmen;
– das Anderssein der anderen respektieren;
– den eigenen Standpunkt reflektieren, kritisch prüfen und Verständnis für andere Standpunkte entwickeln.
Weiter heißt es: „In der Auseinandersetzung zwischen Fremdem und Vertrautem ist der Perspektivwechsel, der die eigene Wahrnehmung erweitert und den Blickwinkel der anderen einzunehmen versucht, ein Schlüssel zu Selbstvertrauen und reflektierter Fremdwahrnehmung.“ Es gehe dabei nicht um eine Erweiterung des Unterrichtsstoffs, sondern um die „interkulturelle Akzentuierung der bestehenden Inhalte“.
Die KMK gibt folgende Empfehlungen an die Länder: Überprüfung und Weiterentwicklung der Lehrpläne und Rahmenrichtlinien aller Fächer unter dem Aspekt eines interkulturellen Perspektivwechsels, die Zulassung von Schulbüchern unter dem Gesichtspunkt, dass Gesellschaften und Kulturen nicht marginalisiert und abgewertet und Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund (MH) Identifikationsmöglichkeiten geboten werden. Auch institutionelle Rahmenbedingungen werden berücksichtigt. Unter anderem soll die „Beschäftigung nicht-deutscher Lehrkräfte in allen Unterrichtsfächern“ erleichtert werden. Außerdem wird die Kooperation mit Einrichtungen der Jugendarbeit angeregt.
Erinnert sei auch an die Denkschrift „Zukunft der Bildung“, die 1995 im Auftrag der Landesregierung von der Bildungskommission NRW verfasst wurde, weil dort unter den „Leitvorstellungen“ die interkulturelle Erziehung als Leitidee hervorgehoben und in curriculare Empfehlungen umgesetzt wurde, was zeigt, dass ab Mitte der 1990er Jahre bildungspolitische Reformüberlegungen anscheinend kaum noch an der multikulturellen Situation vorbeigehen konnten.
die Lehrpläne – individualisierende vs. sozialwissenschaftlich aufgeklärte Herangehensweise
In den Lehrplänen der Länder taucht von da an die Idee interkultureller Bildung nicht nur in den Präambeln auf. In den meisten Lehrplänen oder Richtlinien wird interkulturelles Lernen als Aufgabenfeld oder Querschnittsaufgabe verschiedener Fächer bestimmt (Bühler-Otten/Neumann/Reuter 2000). Das Aufgabenverständnis ist allerdings noch sehr verschieden, was Bühler-Otten u.a. zum einen daran festmachen, dass bei den einen interkulturelle Bildung |32|als allgemeine Bildungsaufgabe begriffen wird, sich dagegen in anderen Bundesländern auf die Hauptschulen als „Ausländerschulen“ beschränkt. Zum anderen sehen sie einen Unterschied (a) darin, ob interkulturelle Erziehung eher paternalistisch oder als gegenseitiger Lernprozess verstanden wird, (b) ob sie nur auf individuelles Verhalten oder auch auf gesellschaftliche Praxis abzielt, und (c) ob kulturelle Bereicherung im Vordergrund steht oder eine konflikttheoretische Komponente enthalten ist (ebd.). So unterscheiden Bühler-Otten u.a. (2000) fünf, zunächst hypothetisch gemeinte, „Perspektiven“, unter denen sie Ziele und Stoffangaben prüfen. Ihre Gegenüberstellung von Alternativen (S. 284) sieht sinngemäß folgendermaßen aus:
Diese etwas schematisierende Gegenüberstellung ermöglicht vermutlich eine gute Orientierung in den für die Praxis interkultureller Erziehung maßgeblichen „mind maps“. Wenn man die von Geiger (1997) herausgegebene Analyse von Sozialkundebüchern heranzieht, so ist zu befürchten, dass eher problematische Herangehensweisen überwiegen, zum Beispiel die häufige Markierung von Grenzen zwischen Einheimischen und Ausländern, „trennende Signale“ in der Sprachverwendung (wir – die Ausländer), eine objektivierende Sicht auf die „Ausländer“ und moralische Appelle zu „Integration“ oder „Kooperation“. Die von Geiger wegen des fragwürdigen Mitleidseffekts kritisch vermerkte Fokussierung auf die Benachteiligung der Ausländer beleuchtet, welche Gratwanderung auf diesem Feld zu leisten ist; denn das Hervorheben der Benachteiligungen entspricht auf den ersten Blick der Forderung nach antirassistischer Aufklärung. Der Mitleidseffekt ergibt sich bei unzureichender Behandlung der strukturellen Zusammenhänge, die auch gemeinsame Interessenlagen verdeutlichen kann.
neue Einsichten der KMK
Zurück zu den Verlautbarungen der KMK. – Im Oktober 2001 reagierten die Kultusminister auf den Terroranschlag vom 11. September mit der Erklärung „Friedliches Zusammenleben und Erziehung zu interkultureller Toleranz“. Darin warben sie für „eine objektive Auseinandersetzung mit den komplexen und vielschichtigen Fragen, die mit der Migration verbunden sind“ (Protokoll |33|der Plenarsitzung). Der Bericht „Zuwanderung“ der KMK von 2002, fortgeschrieben in 2006, ist eine Antwort auf die alarmierenden Ergebnisse des internationalen Leistungsvergleichs PISA 2000, der gezeigt hatte, dass der Bildungserfolg hierzulande ungewöhnlich eng an soziale Herkunft und Familiensprache gekoppelt ist. Die Forscher hatten viele Jugendliche aus Migrantenfamilien wegen mangelnder Lesekompetenz zu einer „Risikogruppe“ gezählt. Die Kultusminister kamen zu der Einsicht: „Integration erfordert Anstrengungen nicht nur von den Migrantinnen und Migranten, sondern auch von der aufnehmenden Gesellschaft.“ Dabei werden explizit die Institutionen in die Verantwortung genommen. Quasi amtlich bestätigt wird auch: „Es muss langfristig davon ausgegangen werden, dass Kinder und Jugendliche mit MH in unterschiedlichen Ausprägungen von Mehrsprachigkeit und in unterschiedlichen kulturellen Umgebungen aufwachsen und leben.“ Die Kultusminister betonen „die Notwendigkeit systematischer Förderung vom Elementarbereich bis zu möglichst hohen Bildungsabschlüssen, die Entwicklung geeigneter Diagnoseverfahren, Einbeziehung der Eltern und die Erhöhung des Migrantenanteils in den Lehr- und Erziehungsberufen“. Der Schwerpunkt wurde auf die Sprachstandsmessung und Sprachförderung im Vorschulbereich gelegt. Auch der Entwurf von Bildungsplänen für den Elementarbereich ist eine Antwort auf das relativ schlechte Abschneiden des deutschen Bildungssystems.
Selbstverpflichtung der KMK aus dem Nationalen Integrationsplan
Die dann von der KMK und dem Bundesbildungsministerium in Auftrag gegebenen Bildungsberichte hatten 2006 und 2008 die Migration zum Schwerpunkt. Da der demographische Wandel einen wichtigen Aspekt der Berichte darstellt, war die Bildungsbe(nach)teiligung von Kindern aus Migrantenfamilien auch Gegenstand des Bildungsberichts 2010. In einer gemeinsamen Erklärung mit Migrantenverbänden bekannte sich die KMK zu ihrer Selbstverpflichtung aus dem Nationalen Integrationsplan (NIP). 2009 folgte eine gemeinsame Erklärung mit der Bundesagentur für Arbeit, in der die Verbesserung der Ausbildungsvoraussetzungen und -chancen für „Jugendliche aus Zuwanderungsfamilien“ in Aussicht gestellt wurde.
Einführung des islamischen Religionsunterrichts
Die ablehnende Haltung, der besonders Muslime begegnen (Heitmeyer u.a. 2012), stellt die interkulturelle Bildung vor eine zentrale Aufgabe. Unter diesem Gesichtspunkt ist eine Erklärung der KMK von 2003 von Interesse, in der das Bildungswesen zum „Dialog mit den Muslimen“ verpflichtet wird. Vor allem ist die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in deutscher Sprache als eigenes Unterrichtsfach hervorzuheben. Auf der „Islamkonferenz“ im Frühjahr 2008 sicherte dies der damalige Innenminister gemeinsam mit der KMK den Vertretern des Islam zu. Inzwischen gibt es entsprechende Modellversuche in sieben Bundesländern. Die rechtlichen Schwierigkeiten werden darin gesehen, dass die Muslime keine Organisationsform analog den Kirchen kennen, was die Anerkennung als eine Religionsgemeinschaft erschwert, die als Vertragspartner des Staates auftreten könnte. Ungeachtet dessen hat NRW den Islamunterricht ab dem Schuljahr 2012/13 gesetzlich verankert. Vorausgegangen war ein Modellversuch, der 1999 – wieder einmal unternahm NRW die Vorreiterrolle – gestartet war. Seit dem Wintersemester 2004/05 gibt es außerdem an der Universität Münster den ersten Lehrstuhl für islamische Religion. Insgesamt sollen an sechs Hochschulen im Bundesgebiet entsprechende Institute zur Ausbildung von Lehrpersonen eingerichtet werden. Diese Entwicklung ist hoch bedeutsam;denn Jahrzehnte lang beschränkte |34|sich das Angebot für Schüler/innen muslimischen Glaubens auf den Muttersprachunterricht. Da dies in der Regel der Türkischunterricht war, wurde Islam quasi mit Türkentum gleichgesetzt. Außerdem entsprachen Didaktik und Lebensweltbezug in seltenen Fällen heutigen Anforderungen.
Strukturen des Bildungssystems als Bedingungsrahmen
Wie eingangs schon betont, verdienen nicht nur die Curricula, sondern auch die Strukturen des jeweiligen Bildungssystems seitens der Interkulturellen Pädagogik Beachtung, speziell der Grad der Selektivität. Denn davon hängt die Zeit gemeinsamen Lernens ab. Aber darüber hinaus begünstigt eine scharfe Auslese Vorstellungen, die auf Begabungsideologie hinauslaufen und bei einer starken Korrelation zwischen Bildungserfolg und Gruppenmerkmalen auf Rassismus. Und bekanntlich ist in Deutschland eine enge Koppelung zwischen MH und Bildungserfolg am Ende der Pflichtschulzeit festgestellt worden. Damit steht der Überzeugung, dass wir bei aller Differenz menschliche Bedürfnisse und Fähigkeiten gemeinsam haben, eine Alltagserfahrung entgegen, die dem selektiven System geschuldet ist.
Bildungsreformen der jüngsten Zeit
Daher sind die Reformen von Interesse, die nach den alarmierenden Ergebnissen von PISA 2000 in die Wege geleitet worden sind. Erstens ist da die Aufwertung der Vorschulerziehung durch Bildungs- oder Erziehungspläne, verbunden mit gezielter Sprachförderung, zu nennen. Dazu kommt die Zusicherung, dass jedem Kind ein KiTa-Platz zur Verfügung gestellt werden soll. Tatsächlich ist die Bildungsbeteiligung im Vorschulalter gestiegen und lag 2009 auch bei Kindern mit MH im Kindergartenalter bei 85 Prozent (Bildungsbericht 2010, S. 52). Allerdings ist die Qualifikation des Personals in den Kindergärten noch unzureichend (ebd., S. 53). Unter anderem ist zweifelhaft, ob für die Sprachdiagnostik, die Teil des bildungspolitischen Programms ist, immer die Voraussetzungen gegeben sind. Hervorzuheben sind Initiativen von kommunaler Seite, vor allem solche, die eine Anknüpfung frühkindlichen Lernens an die Familiensprache ermöglichen. Dazu gehören Projekte, bei denen zweisprachige „Stadtteilmütter“ in ihrer Nachbarschaft Anregungen für die familiäre Förderung von Literacy, z.B. durch Vorlesen, geben. Inwieweit es inzwischen zu einer besseren Abstimmung zwischen Kindergärten und Grundschulen gekommen ist, wie von der KMK angestrebt, dafür liegen keine Daten vor. Was die Grundschule betrifft, so wäre eine längere gemeinsame Förderung wünschenswert. Aber nach wie vor gibt es außer in Berlin nur in zwei Bundesländern eine sechsjährige Grundstufe. In Hamburg wurde ein entsprechender Reformversuch in einem Volksentscheid abgelehnt, bei dem eine Initiative aus der Mittelschicht die Meinungshoheit errungen hatte.
Parallelgesellschaften durch Schulflucht und sozialräumliche Disparitäten
In diesem Zusammenhang sind „vorpolitische“ Tendenzen erwähnenswert wie die Schulflucht weg von „Problemschulen“, soweit nicht ohnehin sozialräumliche Disparitäten in Großstädten für eine klare Scheidung zwischen „Schmuddelkindern“ und Kindern aus „gutem Hause“ sorgen. Ein Beispiel: Für München wurde 2010 in einem Artikel, in dem zwei Münchner Stadtteile mit gegensätzlicher Sozialstruktur miteinander kontrastiert wurden, von einer hohen Zahl von „Gastschulanträgen“ berichtet (Süddeutsche Zeitung v. 10.1.2010, S. 3. Die Folgen der Gentrifizierung illustriert der Journalist Patrick Bauer anschaulich am Beispiel Berlin-Kreuzberg in dem Buch „Die Parallelklasse“, Luchterhand-Verlag, München 2011). Die Autor/inn/en des Bildungsberichts 2010 sehen den „Integrationsauftrag der Grundschule“ in |35|urbanen Gebieten durch die Stadtentwicklung und „Schulwahlprozesse“ teilweise gefährdet, wobei sie auch auf das Angebot an Privatschulen verweisen (S. 172). Diese haben zwischen 1995 und 2009 nach einem Bericht des „Spiegel“ vom Sept. 2009 um 43 Prozent zugenommen. Die Zahl der Schüler/innen ist in etwa diesem Zeitraum um über 25 Prozent gewachsen (Bildungsbericht 2010, S. 67).
das Problem der gegliederten Sekundarstufe
Wissenschaftlich unstrittig ist, dass die stark gegliederte Sekundarstufe im Vergleich mit integrierten Systemen weniger erfolgreich ist und die soziale Auslese verschärft. Vor allem ist das deutsche System für eine Einwanderungsgesellschaft mit erhöhter Disparität der Bildungsvoraussetzungen dysfunktional. Dennoch kann man sich hierzulande nicht zu einer voll integrierten Sekundarstufe durchringen. Lediglich eine Teilintegration nach dem Vorbild der „neuen“ Bundesländer ist bisher in vier westdeutschen Ländern, darunter zwei Stadtstaaten (Berlin und Bremen) durchsetzbar gewesen, und zwar nur bei Erhalt des Gymnasiums. Zusammengefasst wurden Haupt- und Realschulen, teilweise auch alle Schulen „unterhalb“ des Gymnasiums. Der Widerstand selbst gegen diese bescheidene Reform wird daran deutlich, dass man in NRW die Sekundarschule nur als optionale Schulform einführen konnte. In den großen Flächenstaaten hält man am traditionellen System fest, obwohl die demographische Entwicklung generell die Differenzierung nach Schularten in Frage stellt. Aber auch die Teilintegration und damit die Abschaffung der Hauptschule, die in den Ballungsgebieten zunehmend zur „Ausländerschule“ geworden war, mag eine kleine Verbesserung darstellen. Möglicherweise erhöhen sich für Jugendliche mit MH, die früher als Hauptschüler einen doppelten Makel gehabt hätten, die Chancen im Ausbildungssystem. Nach wie vor bleiben der Leistungs- und Konkurrenzdruck, der sich nach unten vor allem bei vier Grundschuljahren bis in die Grundstufe hinein auswirkt. Nach wie vor bleiben nach den bisherigen Erfahrungen am Gymnasium die Autochthonen weitgehend unter sich, wenn auch zunehmend Kinder aus der migrantischen Mittelschicht dorthin gelangen.
positiv: die Zunahme von Ganztagsschulen
Positiv aus Sicht der Interkulturellen Pädagogik ist die Zunahme des Angebots an Ganztagsschulen, eine der Antworten auf das schlechte Abschneiden im internationalen Leistungsvergleich. Fast jede zweite Schule des Primarund Sekundarbereichs I arbeitet inzwischen im Ganztagsbetrieb, allerdings meist in offener Form (Bildungsbericht 2010, S. 7). Bei aller Unzulänglichkeit des pädagogischen Angebots (z.T. Mangel an Fachkräften, häufig mangelnde Rhythmisierung zwischen Unterricht und freier Tätigkeit) sind Ganztagsschulen besonders für Kinder aus schulfernen oder bildungsarmen Familien von Vorteil, weil sie den Unterricht ergänzende Lernhilfen bieten. Kinder und Jugendliche mit anderer Familiensprache werden außerdem mehr mit der Schulsprache Deutsch vertraut. Und schließlich ergeben sich, vor allem bei musischen und sportlichen Tätigkeiten, überhaupt beim stärker informellen Lernen, mehr Situationen, in denen interkulturelle Kompetenz erworben wird. In dieser Hinsicht hat die offene, in Deutschland dominante Form den kleinen Nachteil, dass die freiwillige Teilnahme dazu führen kann, dass die Kinder aus sozial schwachen Milieus unter sich bleiben. Zumindest an Grundschulen könnte so das Ziel einer besseren Integration verfehlt werden.
neues Staatsangehörigkeitsrecht und Nationaler Integrationsplan
Auf der gesellschaftlichen Makroebene sind das neue Staatsangehörigkeitsrecht, das Zuwanderungsgesetz und der Nationale Integrationsplan (NIP) den |36|Zielen der Interkulturellen Pädagogik förderlich, und sei es zunächst auch nur deshalb, weil sie zeichenhaft eine neue Zugehörigkeitsordnung signalisieren. Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht hat sich die Bundesrepublik in 2000 von dem bis dahin herrschenden ethnischen Verständnis von Nation verabschiedet. Die zunehmende Zahl von Einbürgerungen korrigiert alltäglich die Vorstellung von Staatsbürgerschaft als Abstammungsgemeinschaft. Mit dem NIP von 2007 hat sich die Bundesrepublik zu ihrer Verantwortung für die Integration der Zugewanderten bekannt, bis dahin im öffentlichen Diskurs allein als deren Bringschuld gehandelt. Das ist trotz nachgewiesener Mängel der Integrationskurse (Hentges 2010) unter dem Aspekt interkultureller Bildung allein schon ein Gewinn. NRW hat in 2012 den NIP durch ein „Gesetz zur Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe und Integration“ ergänzt, das die interkulturelle Öffnung der Institutionen voranbringen und rechtlich absichern soll. Von größter Bedeutung auf der Ebene der Gesetzgebung ist schließlich das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006, das individuelle, aber vor allem auch institutionelle Diskriminierung von Minderheiten verhindern oder beseitigen soll, unter anderem auch „aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft“. Nicht nur erhalten Betroffene damit die Möglichkeit, bei Benachteiligung vor Gericht zu klagen. Die neue Rechtslage ist auch bedeutsam für die Sensibilisierung in Bezug auf Diskriminierungen.
der Einfluss der Sozialpolitik
Die positiv vermerkten Integrationsbemühungen werden durch eine geänderte Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, bis 2005 umgesetzt unter dem Namen Agenda 2010, teilweise um ihre Wirkung gebracht oder abgeschwächt. Die Agenda 2010 hat die Beschäftigungsstruktur nachhaltig verändert und für Niedrigqualifizierte, darunter viele Migrant/inn/en und ihre Familien, ein erhöhtes Armutsrisiko zur Folge. Migrant/inn/en sind überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit oder prekärer Lohnarbeit, d.h. Leiharbeit, Minijobs, geringfügiger Beschäftigung und Scheinselbständigkeit betroffen (Brinkmann u.a. 2006). Neben einerwachsenden Mittelschicht mit MH, auf die ausdrücklich verwiesen sei, bilden Migranten einen Großteil der working poor. Aufgrund der Marktmechanismen konzentrieren sie sich häufig in vernachlässigten Stadtteilen, was dann zur Rede von den „Parallelgesellschaften“ verleitet. – Keine gute Voraussetzung für interkulturelle Verständigung.
Öffentliche Diskurse über Migranten
Damit stoßen wir abschließend auf die öffentlichen Diskurse über Migranten. Paradigmatisch dafür ist das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin (2010) mit den davon ausgelösten Debatten. Sarrazin verknüpft ein radikales Nützlichkeitsdenken, das wirtschaftliche Verwertbarkeit – auch von Menschen – oben anstellt (Viele Migranten sind bloß eine wirtschaftliche Belastung), mit dem verbreiteten Sicherheitsdiskurs (Muslime stellen eine Bedrohung dar) und einem Nationalismus, in dem sich die Betonung des Wirtschaftsstandorts Deutschland mit Homogenitätsvorstellungen verbindet („Volkscharakter“, 13. Aufl., S. 328). – Der Mix von Motiven, der nach Heitmeyer u.a. (2012) Rassismus und andere Varianten von „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ begründet. Das Erscheinen des Buches lässt sich als „Diskursereignis“ einstufen, d.h. ein Ereignis, das den öffentlichen Diskurs maßgeblich für einige Zeit beeinflusst hat. Diskursereignisse müssen nicht – wie in diesem Fall – von Absichten getragen sein, müssen keine Autorschaft haben. Ein folgenreiches Diskursereignis war Nine Eleven. Nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 waren Muslime größtem Misstrauen und |37|vielfältiger Diskriminierung ausgesetzt. Regional eher begrenzte Publizität erreichte jeweils der Streit um Moscheebauten in Berlin, Köln und München. Eher ambivalenten Charakter hatten die Plenarsitzungen der Deutschen Islamkonferenz seit 2006; denn einerseits wurde damit der Wille zum Dialog signalisiert. Andererseits war Misstrauen gegenüber islamistischen Tendenzen bestimmend (Schiffauer 2008). Wie schnell in krisenhaften Situationen stereotype Fremdbilder aufgerufen werden können, hat sich an der Euro-Krise gezeigt. Selbst auf höchster Ebene wurden die Griechen dafür verantwortlich gemacht. Mit solchen gesellschaftlichen Regressionstendenzen hat die Interkulturelle Pädagogik immer wieder zu kämpfen.