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Der Raubtier-Gott

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In der griechischen Sage verschlingt der Himmelsgott Kronos seine eigenen Kinder; erst durch Zeus, den jüngsten Sohn der Mutter Rhea, den diese vor dem Rachen des Unholds rettet, wird – im Zusammenspiel von Mutter und Kind – der raubtierhafte Gott besiegt. In der biblischen Urgeschichte wird Feindschaft zwischen der Drachenschlange und der Frau mit ihrem Nachwuchs gesetzt (Gen 3,15); und in der letzten und möglicherweise spätesten Schrift der biblischen Tradition steht die Drachenschlange „vor der Frau, die gebären sollte; sie wollte das Kind verschlingen, sobald es geboren war“ (Offb 12,4b).

Welche Rolle spielt das Raubtier in der Entstehung des menschlichen Transzendenzbewusstseins? Der Hominide, der aufrecht gehend den Urwald verließ und in der afrikanischen Savanne seinen Lebensunterhalt suchte, war eine bevorzugte Beute der dort lebenden Raubtiere. Er verfügte nicht über Abwehrwaffen, noch war er zu einer schnellen und rettenden Flucht fähig. Die einzige Möglichkeit, das Raubtier abzuwehren, bestand darin, dass sich die Hominidenhorde eng zusammenschloss, so dass sie dem Raubtier als großer Gesamtkörper erschien, den es nicht anzugreifen wagte; auch ausgewachsene Elefanten werden im Allgemeinen nicht von Raubtieren angegriffen. Dauerte die Belagerung aber zu lange, wurde die Nervenanspannung zu groß und die Horde stob auseinander. Das schwächste Glied der Gruppe, ein älterer Hominide oder ein Kind, das nicht von seiner Mutter mitgetragen wurde, wurde dann ein Opfer des Raubtiers, das den anderen die Flucht ermöglichte. Die Analyse der Knochenfunde aus dieser frühen Zeit und der Region lassen solche Vorgänge erahnen.20

Das Raubtier war der Todbringer für den werdenden Menschen. Hinzu kommt jedoch, dass der Hominide als Sammler und Aasesser lebte. Eine proteinhaltige Nahrung war für ihn überlebensnotwendig, weil nur durch sie die relativ rasche Gehirnentwicklung, jene Steigerung seiner Gehirnkapazität, die zum Menschen hinführte und die ihm Überlebensvorteile gegenüber den anderen Lebewesen gewährte, möglich war. Wie begehrt die Aasnahrung war, lässt sich an den Knochen rekonstruieren, von denen die Hominiden mit ihren scharfkantigen Steinschabern die vom Raubtier übrig gelassenen Reste abschabten; mit größeren Steinen schlugen sie auch die Röhrenknochen auf, um das darin befindliche Knochenmark ebenfalls noch als Nahrung zu gewinnen.

Diese wertvolle und kostbare Nahrung aber wurde dem Hominiden durch das Raubtier bereitet. Deshalb konnte der Hominide das Raubtier nicht bloß als seinen großen Feind und Gegenspieler betrachten und meiden. Es zog ihn vielmehr zu Plätzen, wo Raubtiere zu jagen pflegten und noch warme Kadaver hinterließen. Diese neben Hyänen und anderen Aasessern mit seinen feinen Steinwerkzeugen auszuschlachten, war die Nische der Natur, die ihm das Überleben im Daseinskampf der Lebewesen ermöglichte.

So war das Raubtier für den frühen Menschen gleichzeitig Todbringer und Lebensspender. Der Hominide stand zu ihm in einer äußerst engen Beziehung. Er bewunderte die Kraft und Geschmeidigkeit, mit der es seine – auch von ihm so begehrte – Beute jagte, und beobachtete in einer Art Ehrfurcht, dass es, das Raubtier, am Ende der Nahrungskette stand und selbst nicht noch einmal von einem größeren und stärkeren Lebewesen zur Beute gemacht wurde. Infolge der nahtlosen Eingebundenheit in den Naturkreislauf bedeutete „Sterben“ für den Hominiden: zur Beute gemacht und gefressen werden. Ein Lebewesen, das ganz offensichtlich von diesem Schicksal ausgenommen war, musste ihm in seiner Vorstellungswelt als „unsterblich“ erscheinen. Ähnliches galt deshalb auch von riesigen und starken Pflanzenfressern wie Mammut, Nashorn und Bison, die aufgrund ihrer Größe und Stärke nur ganz selten von Raubtieren angegriffen wurden. Gerade diese Tiere jedoch wurden, wie viele Motive auf altsteinzeitlichen Höhlenmalereien zeigen, später vom Superraubtier Mensch – in einer Art opferkultischer Jagd – angegriffen und getötet.

Indem der Hominide den Unterschied zwischen dem eigenen Schicksal, dem Verschlungenwerden durch das Raubtier, und der Erhabenheit des Raubtiers über dieses Geschick feststellte, eröffnete sich ihm auch hier ein Weg zum Transzendenzbewusstsein. Die Möglichkeit eines ewigen Lebens leuchtete vor ihm auf, verbunden mit dem Bild ungeheurer Stärke und Kraft, die ihm, dem Hominiden selber, zum Schicksal wurde.

Von dieser Erfahrung her wurde auch das Raubtier zum Gottessymbol. Tatsächlich spielen Löwe und Panther, Bär, Leopard und Jaguar, auch Hai, Adler und Geier, weltweit verbreitet in archaischen Religionen und Mythen die Rolle von Gottheiten. Der älteste Fund dieser Art ist vielleicht das sogenannte „Wildimännlisloch“ bei Sankt Gallen in der Schweiz, der in die Altsteinzeit zurückreicht. Man fand dort in einer Steinkiste kunstvoll übereinander geschichtete Bärenknochen und Bärenschädel, die den Eindruck einer Bestattung erwecken. Die Steinkiste wirkt wie ein Sarg. Offenbar gab es in dieser Höhle einen Kult, bei dem Bären getötet, verzehrt und sorgfältig bestattet wurden. Bei dem in Japan lebenden Volk der Ainu, das noch auf einer sehr frühen Kulturstufe lebte, konnte man noch in der Neuzeit einen solchen Bärenkult beobachten: Das Junge einer Bärin wurde im Dorf wie ein Menschenkind großgezogen, teilweise sogar von Frauen gestillt, und so in den menschlichen Bereich hineingenommen. Nachdem es jedoch ausgewachsen war, wurde ein religiöses Fest gefeiert, bei dem der Bär als Gott verehrt und angebetet wurde. Durch Pfeilschüsse wurde er wild und rasend gemacht und dann zwischen zusammengepressten Balken erdrosselt. Der „Gott“ wurde getötet und als Opfermahl verzehrt. Man versuchte sich die göttliche Bärenkraft einzuverleiben. Im antiken Kult der griechischen Göttin Artemis traten deren Priesterinnen teilweise noch als Bärinnen verkleidet auf.

Im indogermanisch-germanischen Bereich ist vor allem der Wolf das göttliche Raubtier. Der in Religion und Mythologie zu findende, von Platon, Vergil, Horaz und anderen antiken Autoren berichtete Glaube an die behexende Kraft seines Blickes, die tödliche Wirkung seines Trittes und die Zauberkraft seines Fells „weist auf älteste Schichten zurück“21. Im griechischen Lykaion-Gebirge – der Name hängt mit lykos, „Wolf“, zusammen – befand sich ein uraltes Heiligtum, das später dem Zeus, dem sogenannten Zeus-Lykaios, zugeschrieben wurde. Im offenen Bezirk dieses Heiligtums, dessen Betreten außerhalb der Kultfeier verboten war und worin angeblich Menschen und Tiere keine Schatten warfen, wurden auf dem großen Aschenaltar noch in historischer Zeit neben Tieren auch Menschen geopfert.22 Wer bei der Opfermahlzeit zufällig auch ein Stück Menschenfleisch aß, wurde der Sage nach in einen Wolf verwandelt. Er wurde zu einem „Werwolf“, einem Menschen in Wolfsgestalt, wie er auch in deutschen Sagen vorkommt und in früher Zeit wohl ein göttliches Wesen darstellte. Durch die rituelle Menschentötung und das (Menschen-)Opfermahl erfuhr der Mensch eine Vergöttlichung zum Raubtier. Bei Homer ist sogar noch Apollo, der strahlende griechische Lichtgott, zuweilen auch lykaios, der „Wölfische“, der Pest und Tod in das Lager der Griechen vor Troja sendet.

Auch in der Sagenwelt Roms sind Wolf und Wölfin fest verwurzelt. Die Wölfin, die Romulus und Remus in der Wildnis ernährt, heißt Lupa Martia; dies und die übrigen Umstände der Sage „deuten auf die Heiligkeit des Wolfes und seine Zugehörigkeit zu Mars“.23 Die Wölfin erscheint in der Sage als „‘degradierte’ Wolfs-Gottheit“.24 Es gab eine Priestergruppe mit dem Namen Luperci, ein Name, der wahrscheinlich von lateinisch lupus, „Wolf“, abgeleitet ist. In den Grimm’schen Märchen ist der Wolf der große Todbringer, der durch das Zusammenspiel von Mutter und Kind oder, wie bei „Rotkäppchen“, durch den männlichen Lichthelden überwunden wird.

Der auf die vorarische Religion in Griechenland zurückgehende Gott Dionysos, der Gott des Weins (früher wahrscheinlich ein Vegetationsgott), trägt deutlich noch raubtierhafte Züge. Er ist der „rasende Gott“, der in den winterlichen Festen, wenn die Lebens- und Vegetationskraft neu geweckt werden soll, mit seinen Begleiterinnen in den Wäldern Tiere jagt, die mit den Händen zerrissen und roh verschlungen werden; sogar kleine Kinder der Begleiterinnen sollen dieses Schicksal erfahren haben. Nach einer Sage wird Dionysos selbst von den Titanen zerrissen, ohne dass dadurch seine Lebenskraft zerstört werden konnte.25

Mythen, Sagen, auch ethnologische Beobachtungen, die sich in dieser Weise auf Raubtiere beziehen, lassen sich in allen Kulturen nachweisen, wobei häufig das für die jeweilige Gegend gefährlichste Raubtier im Mittelpunkt steht. So gibt es in den tigerreichen Sundarbans in Indien den vorvedischen Tigergott Daksin Ray, dem der Sage nach ursprünglich Menschen geopfert wurden und der noch in der Neuzeit in blutigen und orgiastischen Tieropfern verehrt wurde.26 Im alten Hawaii wurden dagegen Haie als Götter verehrt, auch ihnen wurden Menschen geopfert.27 Aus Mittel- und Südamerika kennen wir Jaguar-Götter. Der Toltekengott Tezcatlipoca wurde manchmal als Jaguar dargestellt. Auch bei den Mayas galten die Jaguare in der klassischen Zeit als hochrangige Gottheiten. Die ranghöchsten Priester, die die Menschenopfer durchführten, hießen „Jaguarpriester“ und arbeiteten bei diesem Kult mit einem sogenannten „Klauenmesser“, das ähnlich gebogen war wie eine Klaue und ähnliche Verletzungen verursachte.28 Auch die delphischen Priester sollen Messer dieser Art besessen haben.

Es ist klar, dass das Wort „Gott“, bezogen auf diese frühe Zeit, nicht im heutigen christlichen oder auch philosophischen Sinn verstanden werden darf. Bär, Wolf und auch die Mutter symbolisieren nicht ein höchstes geistiges Wesen, das die Welt geschaffen hat. Durch sie spricht vielmehr eine Wirklichkeit zum Menschen, die ihn in seinen tiefsten Ängsten, seiner Angst vor dem Verschlungenwerden im Tod, trifft bzw. (als Mutter) Hoffnungen in ihm weckt, dieses Schicksal zu überwinden. „Gott“ meint, wenn auch durchaus persönlich ansprechbar (etwa im Bärenkult der Ainu), die Wahrnehmung einer Dimension der Wirklichkeit, die sein mühseliges, gefährdetes und angsterfülltes Leben übersteigt und letztlich nicht vom Verschlungenwerden bedroht ist. In diese Dimension des Daseins einzutauchen, sie für sich und sein Leben zu gewinnen, ist seine tiefste Sehnsucht. In dieser Erfahrung einer übersteigenden Dimension der Lebenswirklichkeit entspringen gleichzeitig das Menschsein und die Religiosität des Menschen; was die Religionen viele Jahrhunderttausende später „Gott“ nennen, hat hier seine Wurzeln.

Gewalt in den Weltreligionen

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