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Zur Einführung: Religion als Reaktion auf Symbolerfahrung

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Die abendländische Anthropologie sieht den Menschen als geschichtliches Wesen. Der Mensch ist das, was er im Laufe seiner Geschichte geworden ist. Dies gilt jedoch nicht nur für das einzelne Individuum und seine Lebensgeschichte, sondern auch für die Menschheit im ganzen, in die das einzelne Individuum eingebettet ist. Das heute lebende Individuum fußt auf einer etwa zwei Millionen Jahre alten Menschheitsgeschichte, innerhalb deren sich seine Lebensgeschichte abspielt. Dabei gilt der Grundsatz: Alles Erste ist prägend, sowohl das erste Lebensjahr der Individualgeschichte als auch die ersten Jahrhunderttausende der Menschheitsgeschichte. Wir können in unserem Nachdenken über Charakter und Wesen des Menschen diese Jahrhunderttausende nicht bloß als „Vorgeschichte“ abtun und den Menschen, wie er heute vor uns erscheint, unabhängig davon zu beschreiben suchen. Was ist, verstehen wir nur wirklich, wenn wir wenigstens ahnen, wie es geworden ist. Freilich liegen diese Jahrhunderttausende im Dunkeln. Die wenigen archäologischen Funde aus frühester Zeit erlauben es der Wissenschaft nicht, wissenschaftlich exakt aus ihnen zu erschließen, wie diese frühen menschlichen Lebewesen fühlten und dachten. Allenfalls kann eine gewisse Analogie zum Fühlen und Denken, wie wir es heute bei Kindern wahrnehmen, ein Licht in das Dunkel der Vorgeschichte werfen.

Gewiss gibt es keine Parallelität zwischen den Entwicklungslinien des einzelnen Individuums (also der Ontogenese) und denen der Menschheit (der Phylogenese). Aber einiges am kindlichen Verhalten kann doch wohl auch auf die Kindheit der Menschheit zurückprojiziert werden. Dazu gehört wesentlich die Beobachtung, dass Kinder sehr gut damit umgehen können, wenn in Märchen und Mythen erzählt wird, dass Tiere, Pflanzen, ja sogar Steine zu den Menschen reden, sie ansprechen können. Es gibt für kleinere Kinder eigentlich nichts, was nur dinghaften Charakter besitzt und nur unter Nützlichkeitsgesichtspunkten betrachtet wird. Alles Vorhandene und alles Tun und Lassen hat über seine bloße Daseins- oder Nützlichkeitsfunktion hinaus noch einen immateriellen Wert und die Fähigkeit eines menschlichen Zuspruchs und Anspruchs.

Man kann diesen Sachverhalt nicht psychologistisch als bei Kindern und Primitiven sich findenden „Animismus“ abtun, als Glauben an ein All-Beseeltsein, so, als ob diese frühen und kindlichen Menschen dabei nur ihr innerseelisches Empfinden in die Außenwelt projizieren würden. Der Vater der Lehre von den seelischen Archetypen, C. G. Jung, sagt selbst, dass in dieser Sachlage das Wort „Projektion“ eigentlich schlecht passe, „denn es ist nichts aus der Seele hinausgeworfen worden, sondern vielmehr ist die Psyche durch eine Reihe von Introjektionsakten zu der Komplexität geworden, als die wir sie heute kennen“.1 Gottheiten und Götter, wie sie im innerpsychischen Erleben als Archetypen auftauchen, wurden nur dadurch zu psychischen Faktoren, dass der Mensch die ursprüngliche und kindliche Fähigkeit verlor, an den Dingen und Vorgängen eine Dimension wahrzunehmen, die das bloße Vorhandensein und die bloße Funktion übersteigt. Verloren ging die Fähigkeit, die Wirklichkeit in ihrer symbolischen, Zweck und bloßes Vorhandensein übersteigenden Dimension wahrzunehmen. Erst dadurch entstand das kollektive Unbewusste, das C. G. Jung in das Zentrum seiner Arbeiten stellt: „Es bedurfte schon einer beispiellosen Verarmung an Symbolik, um die Götter als psychische Faktoren, nämlich als Archetypen des Unbewussten, wieder zu entdecken.“2 Erst „seit die Sterne vom Himmel gefallen und unsere höchsten Symbole verblasst sind, herrscht geheimes Leben im Unbewussten. Deshalb haben wir heutzutage eine Psychologie und deshalb reden wir vom Unbewussten. All dies wäre und ist auch in der Tat ganz überflüssig in einer Zeit und in einer Kulturform, welche Symbole hat.“3

Nicht die Kinder und nicht der Urmensch, die noch wie selbstverständlich mit dem Leben und der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit der Dinge und Vorgänge in der Welt umgehen, sind „primitiv“, sondern primitiv, d.h. in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit geschädigt, sind wir, die wir die Fähigkeit, die uns begegnende Welt in ihrem symbolischen Ausdruck wahrzunehmen, weitgehend verloren haben.

Was zum Verlust dieser Fähigkeit geführt hat, kann hier nicht im Einzelnen erörtert werden. Es ist leicht einzusehen, dass dieser Verlust einerseits die exakt beschreibende Naturwissenschaft und die daraus folgende Technik gefördert und ermöglicht hat, damit andererseits aber auch Natur und Welt dem direkten Zugriff des Menschen, seiner zerstörerischen Ausbeutung, ausgesetzt hat.

Religionsgeschichtlich steht dabei die These eines Übergangs vom Polytheismus zum biblisch-prophetischen und philosophischen Monotheismus im Hintergrund. Die vorgefundenen Phänomene weisen darauf hin, dass am Ursprung der menschlichen Religiosität ein gleichsam uferloser Polytheismus stand, wobei sich auch der biblische Gottesglaube erst langsam und allmählich auf dem Weg über die Monolatrie, d. h. die Anbetung nur eines Gottes unter mehreren als gegeben angesehenen Gottheiten zu dem strengen philosophischen Monotheismus des Judentums, Christentums und Islam hin entwickelt hat.

Alles, was dem Menschen in seiner Welt begegnet, „alles was der Mensch tut, erlebt oder liebt“, kann zu einer Hierophanie, einer Erscheinung des Göttlichen und des Heiligen, werden, sagt der Religionswissenschaftler Mircea Eliade.4 Dem entspricht, dass in der sehr alten japanischen Religion des Shintoismus achtzig „Myriaden“ sogenannte kami-Gottheiten verehrt werden. Allerdings zeigt sich auch in dieser Religion die überall zu beobachtende Tendenz, diese uferlosen Hierophanien zu strukturieren und eine Art Hierarchie zu bilden. So ist im Shintoismus vor allem die vom Kaiser, vom Tenno, ausstrahlende kami-Gottheit zuerst als Ahnengottheit und später als die Sonnengottheit Amaterasu den anderen Gottheiten übergeordnet worden. Allerdings ist dies weit entfernt von der Verehrung nur eines Gottes; auch die übrigen Wirklichkeiten behielten ihre numinose Qualität. Die Ausbildung dieser Hierarchie ist vielmehr Ausdruck der Erfahrung, welch ungeheure Macht der Kaiser auf das Leben der japanischen Menschen ausüben konnte.

Es ist anzunehmen, dass auch am Ursprung des Menschseins ähnliche Verhältnisse herrschten. Zwar ist alles beseelt und spricht lebendig zum Menschen, doch einige dieser begegnenden Wirklichkeiten sind dem Menschen näher und prägen stärker sein Leben, sein Denken und Fühlen als andere Wirklichkeiten. Der immaterielle Wert, die symbolische Botschaft dieser besonders wichtigen Wirklichkeiten ist deshalb auch in besonderer Stärke und Ausdruckskraft wahrgenommen worden. In der Evolution bildeten die Mutter und das Raubtier solche Wirklichkeiten. Möglicherweise liegt hier der Ursprung für die enge, aber nicht unaufhebbare Verbindung von Religion und Gewalt.

Gewalt in den Weltreligionen

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