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III. Gewaltrituale in der archaischen Religiosität

Der Sündenbockmechanismus als Ursprung des Opferrituals

In seinen späteren Schriften – nicht schon in Homo Necans42 – sieht der Altphilologe und Mythenforscher Walter Burkert in der Bedrohung der Hominidenhorde durch das Raubtier eine reale Situation, aus der sich wahrscheinlich die in allen archaischen Religionen vorhandenen Opferrituale entwickelt haben: „Ein Mitglied der Gruppe wird Opfer der hungrigen Fleischfresser, dann sind die anderen eine Zeitlang außer Gefahr. Zum Opfer wird am ehesten ein Fremder, ein Gebrechlicher oder ein junges Tier. Diese Situation – Verfolgung durch Raubtiere – muss in der Entwicklung der Kultur eine bedeutende Rolle gespielt haben, während der Mensch als Jäger selbst zum Raubtier wurde.“43 Da sich diese Art der „Rettung“ im Leben der frühen Menschen sehr oft wiederholt hat, ist es verständlich, dass daraus ein Ritus entstand, der immer dann angewandt wird, wenn die Gemeinschaft von einer Gefahr bedroht ist oder der Gottheit für eine Errettung aus der Gefahr gedankt werden soll. Wenn Dürre und Trockenheit oder umgekehrt Sturm und Überschwemmung drohten, wenn die Vegetation im Winter erlosch und man ihr neues Erblühen sehnsüchtig und angstvoll erwartete, wenn Feinde das Land bedrohten: In all diesen Situationen wurden auf vielfältige Weise Opfer dargebracht. In archaischer Zeit waren dies auch nicht selten Menschenopfer. Der sogenannte Pharmakos etwa war zum Teil noch in historischer Zeit bei den Griechen eine Person, die als zum Opfer auserwählt in einer Stadt lebte und bei einer besonderen Gefährdung der Stadt entweder getötet oder vertrieben wurde. Im Alten Testament wird erzählt, dass der König von Moab, als er sah, dass er dem Angriff der Israeliten nicht mehr standhalten könne, seinen erstgeborenen Sohn, der nach ihm König werden sollte, auf der Stadtmauer als Brandopfer darbrachte, worauf die belagernden Israeliten abzogen (2 Kön 3,27).

Auf vielfältige Weise geschah die Ritualisierung des Sündenbockmechanismus zum kultischen Opfer. In seinem Hauptwerk Das Heilige und die Gewalt hat Girard den Sündenbockmechanismus als die Urform und das Grundmuster des religiösen Opfers aufgezeigt.44 Auf den genaueren Charakter des Opfers soll jedoch später eingegangen werden. Hier geht es zunächst um die Frage, wie es psychologisch möglich ist, dass aus einem Sammler und Aasesser ein „Raubtier“, ein Wesen, das ein – biologisch natürlich unrealistisches – Raubtierverhalten nachahmt, werden kann. Nur festzustellen, der Mensch sei von seinem Wesen her gewalttätig und aggressiv, ist eine blanke Behauptung, die keinen Erklärungswert besitzt. Um sinnvolle Methoden und menschliche Haltungen zur Eindämmung der Gewalt zu suchen, muss danach gefragt werden, woher sie kommt.

Wie schon aufgezeigt, ist, im weitesten Sinne des Wortes verstanden, das Religiöse die Fähigkeit des menschlichen Wesens, eine das faktisch Gegebene übersteigende Dimension, eine symbolische Ausstrahlung in der begegnenden Wirklichkeit wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Die Mutter und die Mutter-Kind-Beziehung als Zentrum solcher Ausstrahlung führen, wenn sie nachgeahmt werden, zu gegenseitiger Hilfe und zu einer friedlichen Vergesellschaftung des Menschen. Aufgrund der biologischen Lebenssituation am Ursprung des Menschseins ist jedoch auch das Raubtier als Nahrungsbeschaffer und schicksalhafter Todbringer des Menschen eine symbolisch hoch besetzte Wirklichkeit, die als solche im Menschen den Wunsch weckt, sie nachzuahmen. Die Nachahmung dieses Symbols aber führt zu einer aggressiven Rivalität innerhalb der menschlichen Gemeinschaft, die sich durch gegenseitige Nachahmung der Rivalen schier ins Unendliche steigert, bis schließlich Aggressionen und Frustrationen an einem Sündenbock abreagiert werden, dessen Tod wenigstens für eine Zeitlang wieder Frieden und Eintracht unter den Menschen herstellt.

Der Ursprung der Gewalt liegt also in der religiösen Fähigkeit des Menschen. Innerhalb des Religiösen muss deshalb auch nach Wegen zur Überwindung der Gewalt gesucht werden. Zunächst aber gilt es genauer zu betrachten, wie Religion und Gewalt innerhalb der vielen Hunderttausenden von Jahren in der archaischen Menschheit zusammengespielt haben.

Gewalt in den Weltreligionen

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