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Versklavung
ОглавлениеUnterschiede dieser Art entstanden durch Blutrache und Krieg. Auch die sesshaft werdenden Sippen gaben ja durch die Sesshaftwerdung ihren als göttlich erachteten Jäger- und Kriegerstatus nicht auf. Zwar lebten und dokumentierten sie diesen Status nicht mehr durch Ausübung der Großwildjagd, durch den Kampf gegen Raubtiere und durch Krieg. Stattdessen entwickelten sie jedoch einen ausgeprägten, teilweise exzessiven Opferkult, der auch das Menschenopfer einschloss. Bei der Aussaat und Ernte des Getreides, beim Wechsel der Jahreszeiten, bei der Ausführung größerer Bauten, bei drohender Dürre und Trockenheit und ähnlichen Bedrohungen wurden öffentlich blutige Opfer dargebracht, durch die einerseits die Gottheit versöhnt und ihre Drohung abgewendet werden sollte, durch die sie jedoch andererseits auch dokumentierten, dass sie selbst über göttliche Tötungsgewalt verfügten und sich im Opfermahl mit der beschenkten Gottheit gemeinsam an einen Tisch setzen konnten.
Die ursprünglich im Raubtier symbolisierte Gottheit verändert in dieser Phase der Menschheitsgeschichte zwar ihre Symbolik, aber nicht ihren Charakter. Das Raubtier war ursprünglich gleichzeitig lebensnotwendiger Nahrungsspender und schicksalhafter Todbringer. Jetzt übernimmt der Himmel diese Funktion. Von ihm her kommen der fruchtbare Regen und der die Pflanzen zum Aufblühen bringende Sonnenschein. Die Menschen leben von seiner Güte. Von ihm her kommen aber auch immer wieder die verheerenden Unwetter und Stürme sowie die mitleidlos alles versengende Hitze, Dürre und Trockenheit, in der die Menschen dem Hungertod ausgeliefert waren. An die Stelle der Raubtiergottheit trat deshalb in den sesshaft gewordenen Bauern- und Hirtenkulturen der Himmelsgott, von dem alles Leben abhing.
Doch auch dieser wurde – neben seiner Güte – als willkürlich und oft mitleidlos gewalttätig erfahren. Deshalb geschah auch die Nachahmung dieser Gottheit und der Versuch, sie – nunmehr magisch – zu manipulieren durch ein gewalttätiges Opferhandeln: In einer Art „zuvorkommenden Gehorsams“ lieferte man ihr freiwillig aus, was sie sich sonst auf furchtbare Weise in weitaus größerer Zahl selber holte: Kinder und Lebenskraft. Vor allem James G. Frazer bringt in seinen materialreichen ethnologischen Studien eine Fülle von Belegen aus der ganzen Welt, besonders aber aus dem Vorderen Orient, dass bei Aussaat und Ernte oft sehr grausame Menschenopfer, insbesondere Kinderopfer, dargebracht wurden.57 Auch die Hinrichtungsart der Kreuzigung ist ursprünglich aus einem solchen Ritus entstanden.58 Der Opferkult ist in dieser Phase der Menschheitsgeschichte so ausgeprägt, dass einige Forscher – darunter auch A. E. Jensen – die Meinung vertreten, diese Art von Religiosität habe sich erst in Pflanzer- und Ackerbaukulturen entwickelt. Sie übersehen dabei jedoch den kultischen Charakter der Großwildjagd, der vor allem durch die eiszeitlichen Höhlenmalereien und durch die Bärenkulte belegt ist. Beim Opfern der sesshaft gewordenen Pflanzer wie bei der Großwildjagd geht es darum, die als göttlich erachtete Tötungsgewalt auszuleben und in ihrer Ausübung einen göttlichen Seinsstatus aufzurichten. Beides sind Opferhandlungen.
Eine besondere Infragestellung des „göttlichen“ Krieger- und Jägerstatus ist der Krieg. Sippen, Stämme und Völker, die gegeneinander Krieg führen, bewegen sich beide in diesem als göttlich erachteten Seinsstatus. Im gegenseitigen Töten und Getötetwerden richten beide Kriegsparteien diesen Status auf. Der in der Schlacht Fallende – man sagt dazu bezeichnenderweise nicht der „Sterbende“ – erwirbt diesen Status ebenso wie der Sieger. Wurden in der Schlacht Menschen nicht sofort getötet, sondern gefangen genommen, wurden sie ursprünglich anschließend den Göttern geopfert und konnten auf diese Weise ihren Status erhalten. Als man jedoch anfing, Kriegsgefangene nicht mehr zu töten, sondern sie mit Frau und Kindern für sich arbeiten zu lassen, war auf diese Weise der Stand des Sklaven und Leibeigenen geschaffen: der im Beutetierstatus lebende Mensch.
Menschheitsgeschichtlich geschah dies vor allem in der sogenannten „Steppenvölkerinvasion“.59 Im Laufe der Jahrtausende hatten sich die Hirten als Viehzüchter von den matriarchalen Bauernkulturen abgetrennt und bildeten eigene Völkerstämme. Da sie mit ihren Herden ständig auf der Suche nach günstigen Weideplätzen waren, nahmen sie die nomadisierende Lebensweise wieder auf. Sie mussten ihre Herde auch ständig gegen Raubtiere und räuberische Sippen verteidigen. Ihr Jäger- und Kriegerstatus war deshalb stets aktuell. Als Viehzüchter lernten sie außerdem auf breiter Basis, dass bei Säugetieren und Menschen neues Leben durch Zeugung entsteht; sie lernten die Rolle des Mannes in der Entstehung neuen menschlichen Lebens kennen. Da auch das Töten beim Menschen eine „sexuell-aggressive Rangdemonstration“ (Eibl-Eibesfeldt) ist, wurde der „Rang“ dieser Hirtenkrieger, ihr als göttlich erachteter Seinsstatus, gleichzeitig durch sexuelle Zeugung und durch Gewaltanwendung erworben und demonstriert. Die in Kriegen auch heute noch immer wieder vorkommenden Vergewaltigungen haben hier ihre menschheitsgeschichtliche Wurzel.
Die Raubtiersymbolik gewann in diesen Hirtenstämmen wieder die Oberhand und es entwickelte sich in ihnen ein strenges und oftmals auch sehr gewalttätiges Patriarchat. Vom Weideland der Steppen kommend, fielen sie in die mutterrechtlich organisierten Pflanzer- und Bauernkulturen ein und eroberten sie. Dabei töteten sie die Besiegten nicht – zumindest nicht generell –, sondern zwangen sie, die für sie ungewohnte körperlich schwere Bauernarbeit weiter zu verrichten und die Erträge an sie abzuliefern. Auf diese Weise entstand der versklavte, im nördlichen Europa „leibeigene“ Bauer, der im Gegensatz zum kriegerischen Eroberer, dem freiem Adeligen, im Beutetierstatus lebte. Am härtesten verlief dieser Prozess in Indien, wo die unterworfene Urbevölkerung zu den kastenlosen Parias, den „Unberührbaren“, degradiert wurde. Dort jedoch, wo später Bauern auch zum Kriegsdienst herangezogen wurden – im antiken Griechenland und Rom sowie im deutschen Rittertum –, gewannen sie ihren göttlichen Kriegerstatus zurück; es entstanden im Altertum die Hopliten und im Mittelalter der niedere Adel.