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Die Geschichte dieses Buches
Wenn man Jahre, Jahrzehnte hindurch Aufmerksamkeitsübungen macht, hat man eine ähnliche Erfahrung wie beim wiederholten Lesen eines anspruchsvollen Buches: Es leuchten immer wieder neue Entdeckungen, neue Aspekte, Facetten des Tuns beziehungsweise des Textes auf. Wenn das geschieht, fühlt man sich immer wieder schuldig, da man die späteren Entdeckungen in frühere Beschreibungen noch nicht einbeziehen konnte. Im Hinblick auf den Übungsweg (Erkenntnisweg, inneren Pfad) möchte ich in diesem Buch einiges nachholen. Dabei muss ich manches Wesentliche wiederholen, das in früheren Werken von mir schon beschrieben wurde – auch um dem Leser das Nachschlagen zu ersparen.
Je länger man übt, umso klarer erfährt man die Bewegungen des Bewusstseins während des Übens; sie werden durchsichtig für die tätige Aufmerksamkeit selbst. Erst werden die Bewegungen des Denkens sichtbar, dann die des Fühlens, zuletzt die Willenstätigkeiten, wobei alle drei immer vermischt und zusammen erscheinen; der Wille beispielsweise wirkt immer in den Übungen mit, nur hat eines von diesen dreien den Vorrang. Hell werden Fühlen und Wollen nur, wenn sie wenigstens beginnen erkennend zu werden, das heißt wenn sich das Denken in das Fühlen hinein oder das schon erkennende Fühlen in den Willen hinein auflöst.
Die Beschäftigung mit den Willensarten beim Menschen begann bei mir schon vor langem (davon zeugen der Aufsatz «Die Umkehr des Willens» aus dem Jahre 1986, Goetheanum, 9.2., siehe Anhang 2, wie auch die Schrift «Die Schulung der Aufmerksamkeit» in dem Band Die Freiheit erüben, 1988). 1996 hat mein Freund Dr. Hartwig Volbehr die Frage gestellt, wie eigentlich die Ki-Übungen (beschrieben im Kapitel Willensübungen, Übung 36, S. 78 f.), die er schon seit längerem kannte, menschenkundlich verstanden werden können. Damit begann eine experimentierende und meditative Forschungsarbeit, deren Ergebnis zum großen Teil dieses Buch ist. Für den Impuls möchte ich Dr. Volbehr hiermit meinen sehr herzlichen Dank aussprechen, der auch für die seitdem entstandene Zusammenarbeit gilt.
Um zu der hellen, erkennenden Erfahrung des Willens zu gelangen, müssen die vorangehenden Stufen sehr intensiv durchlaufen werden. Wenn der Übende nicht das lebendige, reine, das heißt formfreie Denken, das sich in das schon vorbereitete Fühlen hineinzieht, erfährt, wird das Fühlen zwar als lichtvoll und beglückend, aber nicht erkennend erlebt. Ähnlich ist es auch im Verhältnis von Fühlen und Wollen.
Es war ein langer Weg, den sanften Willen in seiner Ursprünglichkeit zu erforschen, und das Ergebnis kann schon auf den Anfang des Erkenntnisweges hilfreich zurückwirken. Jegliche Übung ist eigentlich nur durch den sanften Willen ausführbar, und es ist gut, das zu wissen, auch wenn man diesen Willen am Anfang noch nicht voll einsetzen kann: Er glänzt im Laufe des Übungsweges auf.
Was man «Körpererfahrung» nennt, entpuppte sich als die Erfahrung, das Empfinden einer Empfindungshülle, die den Körper «umgibt» – man kann das Nicht-Räumliche kaum anders als durch räumliche Bilder darstellen. Zugleich erwies sich der Sinn von «Körperübungen» – zum Beispiel auf das Atmen zu achten – als das Herausfordern, Ins-Bewusstsein-Bringen des Subjekts, das die Übungen macht und sie beobachtet, erfährt und das in keinem Fall der Körper oder die Empfindung ist: Letztere sind Objekte, die das Subjekt erfährt. Den Dienst, auf das Subjekt hinzuweisen, könnte allerdings jedes Objekt tun; im Alltag jedoch werden die Objekte größtenteils ihrer Nützlichkeit nach gesehen, verstanden und gewertet, sodass das Subjekt «vergessen» wird, da es «unwichtig» ist. In den Übungen werden die Objekte ohne Bezug auf ihre Nützlichkeitsverwendung gewählt, sie erhalten die ursprüngliche Funktion aller Objekte, nämlich: auf das wahre Subjekt zu verweisen.
Der sanfte Wille ist frei von dem Mich-Fühlen, im Gegensatz zu den Tätigkeiten des harten Willens, der durch die Hülle der Egoität, meistens durch den Tastsinn, wirkt1 und gerade dadurch in jedem Sinne an Effektivität verliert, abgedämpft ist.
Der erwünschte oder ideale Stil der alltäglichen Aktivitäten wird in den verhältnismäßig kurzen Zeitspannen des Übens vorbereitet. Gelangt man in den Übungen zu Erfahrungen, so werden sich die in den kurzen Übungszeiten erreichten Ergebnisse nach und nach auch auf den Alltag ausdehnen. Dieser wird heute in unserer Zivilisation durch das Prinzip der Nützlichkeit und damit durch den harten Willen der Egoität regiert. Dadurch ist die Welt schon an den Rand einer Katastrophe manövriert worden, was auch immer Technokraten darüber denken oder sagen mögen. Ich sehe nur dann eine Hoffnung, den Untergang zu vermeiden, wenn sich die Mentalität ändert, das heißt wenn wir den harten Willen in den sanften verwandeln. Das wäre die Metanoesis, das «Ändert den Sinn» Johannes des Täufers, die neue Sinngebung des menschlichen Daseins.
Praktische Hinweise für den Leser
Dieses Buch ist, wie schon manches vorangegangene, nicht leicht zu lesen; sein voller «Inhalt» entwickelt sich nur im Tun, durch das Tun des Lesers, durch dessen eigene Besinnung und Meditation. Im Text sind «Besinnungen» und «Besinnungen / Meditationen» zu finden. Erstere sind Gedanken, die man durch Denken vertieft, fortsetzt, weiterdenkt, zweitere sind Meditationstexte, die man auch besinnen kann und sollte, bevor man sie meditiert. Diese Prozesse sind im Kapitel «Meditation» (S. 88) und in mehreren meiner vorangegangenen Bücher beschrieben. Ihrer aller Ziel ist es, dem Lesenden dazu zu verhelfen, über das Alltagsdenken – Vergangenheitsdenken, dialektische Denken, diskursive Denken – hinaus für kurze Zeiten auf eine höhere Ebene des Denkens und der Erkenntnis zu gelangen. Alles Wissen davon, alles vermeintliche Verstehen geistiger Forschungsergebnisse durch das Alltagsdenken ist in meinen Augen eher Hindernis, Ballastanhäufung. Leider.
Budapest, September 1999 | Georg Kühlewind |