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Schon auf dem Weg von der U-Bahn bis zum Altwarengeschäft hatte er vergeblich nach einer der hässlichen grauen Boxen Ausschau gehalten.

Muss mir wohl doch ein Handy zulegen, brütete er ärgerlich vor sich hin, während er in die Westbahnstraße abbog. Zwei Gassen weiter fand er eine Telefonzelle. Der Zustand, in dem sich das Innere befand, war jedoch so, dass Orsini nicht eintreten, geschweige denn den Hörer berühren wollte. Wieder ein Argument für ein kleines tragbares Telefon, dachte er zerknirscht und marschierte kopfschüttelnd weiter. Am Europaplatz blieb er stehen und starrte auf das ausgehölte Skelett des Bahnhofsgebäudes. Insgesamt sechs Kräne drehten hoch über den Köpfen der Menschen ihre Arme. Darunter werkten zahllose Arbeiter auf der Großbaustelle.

Knapp vor Kriegsende war das alte, noch aus der Zeit Kaiserin Elisabeths stammende Bahnhofsgebäude abgebrannt. Zu Beginn der Fünfzigerjahre hatte man die Bahnhofshalle neu errichtet. Seitdem allerdings war die eindrucksvolle Konstruktion vernachlässigt worden – was aber auch einen Teil des Charmes ausgemacht hatte, den der Kopfbahnhof bis ins neue Jahrtausend verteidigt hatte. Nun aber sollte er einen Großteil seiner Funktionen an den zukünftigen Zentralbahnhof abtreten und stattdessen eine ultramoderne Shoppingmeile erhalten.

Das Café Westend kam ihm in den Sinn. Früher war das große Café gegenüber vom Bahnhof einer seiner Lieblingsorte gewesen, um Leute zu beobachten und dabei zu grübeln. Der nahe Bahnhof und die Einkaufsstraße sorgten für ein ständiges Kommen und Gehen. Die hohen Räume mit dem schweren Stuck und die vielen reizvollen Fensternischen luden zum Verweilen ein. Sogar die nicht historischen Kristallluster fügten sich harmonisch ins Ambiente. Auch wenn das Fischgrätparkett schon einigermaßen abgetreten war und aus der einen oder anderen Sitzbank das Innenleben zum Vorschein kam: Die Atmosphäre war unvergleichlich. Vor allem am späten Nachmittag, wenn die kraftloser werdende Sonne alles in ein die Farben vertiefendes Licht tauchte. Wenn er sich recht erinnerte, gab es dort eins dieser altertümlichen Kabäuschen mit Telefon. Außerdem schmeckte der Kaffee besser als anderswo und die Auswahl an Tageszeitungen ...

Erleichtert stellte er fest, dass sich seit seinem letzten Besuch nicht allzu viel verändert hatte. Zufrieden bestellte er eine Melange, überflog kurz die Zeitungen und war sich bewusst, dass er etwas hinausschob, was nicht länger hi­nauszuschieben war. Er brauchte Informationen – detaillierte Informationen über die Verbindlichkeiten des Posamentenhändlers, und er wusste nur eine Möglichkeit, wie er diese bekommen konnte, wenn überhaupt. Diese Möglichkeit hatte auch einen Namen: Alexandra.

Alexandra arbeitete in einer Bank und war schon vor Langem ins mittlere Management aufgestiegen. Orsini kannte sie noch aus Studienzeiten. Eigentlich aus den Zeiten zwischen den Studien. Ein kurzer Flirt, mehr war nicht daraus geworden. Zu unterschiedlich waren ihre Interessen. Vor einiger Zeit hatte er ihr in einer schwierigen Situation mit einem Stalker geholfen. Seitdem hatte sich eine lose Zusammenarbeit zwischen ihnen entwickelt. Er holte sein Notizbuch aus der Manteltasche und begab sich in die enge, mit Holz verkleidete Telefonzelle.

„Alexandra Trampusch.“

„Conrad spricht.“

„Hallo Conrad!“

„Kannst du reden?“

„Moment, so jetzt, mach schnell, ich muss zu einer Besprechung.“

„Ich arbeite gerade an einem Fall ...“

„Machst du doch immer ...“

„Ja, aber dieser wird gerade ... kompliziert. Kurz gesagt, ich bräuchte Auskunft über ein Bankkonto, ein Geschäftskonto eigentlich.“

„Lautend auf?“

„Heinrich Novak, Geschäftsmann, schreibst du mit?“

„Was glaubst du, ich will nicht zu spät zur Besprechung kommen.“

„Also Heinrich Novak, Posamentenhändler.“

„Posa... was?“

„Posamenten, das sind Kordeln, Quasten und so Zeugs. Also, der Mann hat ein Geschäft und ist vor Kurzem ermordet worden.“

„Verstehe, das heißt, du brauchst von mir alle Kontodaten dieses ... Heinrich Novak?“

„Ja und von seinem Sohn Karl auch, falls er eines hat.“

„Auch noch! Das wird aber länger dauern, ist nämlich nicht ungefährlich für mich.“

„Ich weiß ..., aber da wäre noch ...“

„Sag schon!“

„Er hat das Konto nicht bei deiner Bank.“

„Nicht? Weißt du eigentlich, was du da von mir verlangst?“

„Ja ...“

„Wenn auch nur irgendjemand erfährt, worüber ich mit dir gerade rede, verliere ich sofort meinen Job. Ist dir das klar?“

„Ja, ... aber du machst es, oder?“

„Um welches Institut handelt es sich denn?“

Als Orsini ihr den Namen genannt hatte, hörte er nur noch ein leises „Scheiße“ und dann: „Conrad, ... das wird verdammt schwierig. Versprechen kann ich dir nichts!“

„Aber du wirst es versuchen?“

„Mehr aber schon nicht, und es kann dauern. Du hast hoffentlich mittlerweile wieder ein Handy, oder?“, fragte sie herausfordernd.

„Nein, im Moment nicht …“

„Und wie soll ich dich erreichen? Sag jetzt nicht zuhause!“

„Ich versprech dir, ich werd mir eines besorgen und schick dir dann die neue Nummer“, antwortete Orsini widerwillig, um sie nicht zu verstimmen.

„Das glaub ich erst, wenn’s soweit ist ... jedenfalls bin ich ein paar Tage weg. Vor nächstem Mittwoch brauchst du also nicht mit mir rechnen ...“

„Ist gut“, murmelte Orsini.

„Tschüss“, warf Alexandra ihm noch schnell hin und legte auf.

Orsini trat aus der engen Zelle, setzte sich wieder an seinen Tisch, bestellte einen Espresso und vergaß dabei ganz darauf, dass er noch ein zweites Telefonat führen musste. Nachdem der Espresso serviert wurde, kam es ihm jedoch wieder in den Sinn. Wahrscheinlich war es der livrierte Oberkellner mit den unpassenden Schuhen, der ihn daran erinnerte. Er trank aus, ging wieder zurück in die hölzerne Zelle und wählte. Besetzt. Orsini trat wieder aus dem Häuschen und wartete. Der Platz ermöglichte einen Blick auf einen Teil der belegten Tische und hinaus auf das grauschwarze Bahnhofsskelett.

Er öffnete erneut die Tür, nahm den altmodischen Hörer und wählte. So, zwischen Tür und Angel stehend, beobachtete er ein junges Pärchen mit riesigen Rucksäcken, das gerade vom Bahnhof kommend die Straße überquerte. Noch immer besetzt, ärgerte er sich und schaute wieder auf die zwei offensichtlich verliebten Ankömmlinge. Da die Sonne in ihrem Rücken stand, waren Details nicht erkennbar, nur die Konturen allein ergaben ein eigentümlich schönes, von einem hellen Strahlenkranz ausgefranstes Bild. Hand in Hand steuerten sie jetzt auf das Lokal zu. Zwar konnte er von seinem Platz aus nicht sehen, ob die beiden eingetreten waren, doch prägte sich ihm der Anblick ein. Unwillkürlich musste er an Paula denken. Gedankenverloren wählten seine Finger erneut und nach dem zweiten Klingeln wurde am anderen Ende der Leitung abgenommen.

„Hans, wer spricht?“, ertönte eine kräftige Stimme.

„Conrad Orsini ... Hallo Hans, lange nichts voneinander gehört. Wie geht’s?“

„Conrad?! … Das ist aber eine Überraschung! Mir geht’s gut, was gibt’s?“

„Sag, arbeitest du noch immer in der Bar im Etablissement?“

„Ja schon, warum?“

„Ich müsste mit dir reden.“

„Lässt sich machen, nur dass die Bar und überhaupt alles jetzt anders aussieht.“

„Was meinst du damit?“

„Das alte Etablissement ist leider Vergangenheit, aber mehr will ich dir gar nicht verraten.“

„Das heißt?“

„Dass ich die ganze Nacht Dienst hab, du also kommen kannst, wann du willst.“

„Na dann, bis später.“

Orsinis Laune stieg. Er kehrte auf seinen Lieblingsplatz zurück und ließ sich von einem der Kellner die Speisekarte bringen. Das Paar mit den Rucksäcken hatte offenbar ein anderes Ziel anvisiert. Was zurückblieb war das Konturenbild der beiden. Jetzt kam wieder der Kellner mit dem modischen Fauxpas der unpassenden Schuhe auf ihn zu, um die neuerliche Bestellung aufzunehmen. Auch Hans hatte hin und wieder ein Talent für solche Kombinationen: Hellbraune, abgetragene Schuhe zu makellosem schwarzem Anzug! Eine Todsünde, schüttelte Orsini den Kopf und orderte einen Tafelspitz mit einer Extraportion Semmelkren. Anschließend holte er sich verschiedene Zeitschriften und beobachtete die hin und her huschenden Kellner bei ihrer Arbeit, bis das Essen kam. Die Rösterdäpfel und der Cremespinat passten vorzüglich zum zarten Fleisch. Orsini aß langsam und genoss wie allzu selten. Die langsam hinter dem Bahnhof untergehende Sonne und die angenehme Atmosphäre gaben ihm keinen Anlass, das Lokal zu wechseln. Also bestellte er, nachdem er gegessen hatte, seinen dritten Kaffee und vergrub sich in die zuvor geholte Lektüre.

Das Kaffeehaus lag direkt an der Ecke Gürtel-Mariahilfer Straße und es blieb noch Zeit, um einiges zu erledigen. Seine Garderobe bedurfte einer Erneuerung und der ehemals markante, jetzt aber zur herkömmlichen Geschäftsfassade degradierte Stafa-Rundbau lag keine Gehminute weit entfernt. Gelassen, wie schon die vergangenen hundert Jahre hindurch, blickten sich die in die Fassade integrierten Skulpturen an, ohne es auch nur der Mühe wert zu finden, die vorbeihetzenden Käuferschichten in irgendwelche monetären Kategorien einzuteilen. Gut gelaunt betrat er den ehemaligen Mariahilfer Zentralpalast und wurde rasch fündig. Als er nach einiger Zeit wieder auf der Straße stand, war es bereits dunkel.

Der Posamentenhändler

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