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Die Tramwaystation war leer. Vermutlich hatte er die Straßenbahn gerade verpasst und bis die nächste kam ... Achselzuckend blickte er auf seine Uhr und entschied zu Fuß zu gehen. Quer durch die Innere Stadt, das musste zu schaffen sein. Normalerweise, wenn nichts Außergewöhnliches anstand, wurde zwischen ein und zwei Uhr eine Mittagspause eingelegt. Wenn er Glück hatte, konnte er sie beim Eingang abfangen. Fünf Minuten nach eins traf er ein. Paula war nirgends zu sehen. Um keinen ehemaligen Kollegen zu begegnen, blieb Orsini auf der anderen Straßenseite und setzte sich trotz der Kälte auf eine Bank.

Das Wochenende hatte er hauptsächlich mit einer Observation für einen Bekannten verbracht. Während die Frau, die er beobachten sollte, sich in der Villa möglicherweise vergnügte, saß er im Auto und wartete. Jedes Mal allerdings, wenn der Gedanke an den weiß-bräunlichen Lappen und die verschrumpelten Würste auftauchte, sah Orsini sich gezwungen, die Wagentür zu öffnen und die Gegend mit einer Melange schleimig-grünen Inhalts zu verschönern. Als er seine Fotos endlich im Kasten hatte, beschloss er, sie seinem Bekannten vorerst nicht zu zeigen. Manchmal heizte ein kleiner Seitensprung eine lauwarm dahinköchelnde Ehe erst so richtig an.

Einige Leute, manche allein, manche in kleinen Gruppen, verließen nun plaudernd das unscheinbare Bürogebäude, um in der näheren Umgebung essen zu gehen. Er sah einige bekannte Gesichter, Paula war allerdings nicht darunter. Knapp vor zwei saß er immer noch auf der Holzbank und fror erbärmlich. Seine Fingerspitzen fühlten sich wie Eiszapfen an und die Zehen waren bereits gefühllos. Mit eng um den Körper geschlungenen Armen beobachtete er die Beamten, die nach und nach zu ihren Aktenstapeln zurückkehrten. Jahrelang war auch er hier täglich aus und ein gegangen. Wie die Ameisen, dachte er mit gemischten Gefühlen. Ein Ameisenbau war im Verhältnis zur Größe der Tierchen ein beeindruckendes Bauwerk, das mit seinem sozialen Gefüge auch Geborgenheit und Schutz bot. Orsini allerdings war hier nie richtig zuhause gewesen, ein Fremdkörper, der drohte, die Kanälchen zu verstopfen und die emsige Routine zum Erliegen zu bringen. Gleichzeitig hatte er mit seiner unkonventionellen Art jedoch auch Fälle gelöst, an denen die anderen gescheitert waren. Als er schließlich völlig unerwartet gekündigt hatte, hatte er auch diejenigen, die zuvor zu ihm gehalten hatten, großteils vergrämt.

Punkt zwei. Er stand auf, machte ein paar Strecksprünge, um sich aufzuwärmen und kam sich dabei vor wie der größte Idiot.

Arbeitet wahrscheinlich außerhalb. Pech! Er vergrub die Hände tief in den Taschen, sah noch ein Mal zum Eingang und machte sich auf den Heimweg. Einen Häuserblock weiter hielt er an, unwillig einfach klein beizugeben. Einer inneren Stimme folgend kehrte er um, beschloss, Paula noch fünfzehn Minuten zuzubilligen und setzte sich wieder auf die Bank. Kaum, dass er sich niedergelassen hatte, ging die Tür auf, Paula hastete flüchtig grüßend an zwei Beamten vorbei und bog nach rechts ab.

Hat sie mich vom Fenster aus gesehen und sich absichtlich Zeit gelassen? Orsini folgte ihr über die breite Straße. Noch immer derselbe Gang, der ihn schon früher verrückt gemacht hatte. Der gleiche Kleidermix, angesiedelt zwischen praktisch und passend. Diesmal bestehend aus Jeans, farblich abgestimmten blauen Stiefeln und einem dunkelbraunen Mantel, sowie der unvermeidlichen Prise Exzentrik. Heute drückte sich dieser kleine, aber alles entscheidende Punkt in Form eines roten Schals aus, den sie locker über den Mantel geworfen hatte, und eines vermutlich Ton in Ton darauf abgestimmten Lippenstiftes. Und ohne ihr Gesicht von der Nähe gesehen zu haben, ahnte Orsini, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach auch heute in diesem Punkt mit ihr disharmonierte. Das auszusprechen hatte er nicht gewagt und nur manchmal leise Zweifel angemeldet, die sie aber jedes Mal brüsk zurückwies. Die Haare trug sie länger, doch immer noch verwirrt-gelockt, wie er es einmal zu beschreiben versucht hatte.

„Hallo Paula“, rief Orsini halblaut.

Paula blieb stehen und drehte sich um. Eine Spur zu erwartet für Orsinis Gefühl.

„Conrad? Was machst du da?“

„Ja also, ich ...“ Nun, da er ihr nach so langer Zeit – es waren mehr als vier Jahre vergangen – endlich wieder gegenüberstand, fehlten ihm die Worte. Was hatte er nicht alles sagen wollen oder zu einer imaginären Paula längst gesagt! „Kann ich dich ... kurz sprechen?“, druckste er herum.

„Tust du ja schon“, antwortete Paula und musterte ihn. Er hatte sich kaum verändert. Kleine Fältchen an den Augen, unrasiert wie immer, sogar derselbe Mantel ... Was er nach all den Jahren plötzlich von ihr wollte?

Orsini hielt ihrem Blick stand. „Darf ich dich zum Essen einladen?“

„Zum Essen?“ Zorn stieg in Paula hoch. „Du meldest dich vier Jahre nicht, bist unauffindbar – und dann willst du einfach essen gehen!? Sonst fällt dir nichts ein?“ Sie zog ihren Schal enger um den Hals und wandte sich zum Gehen.

„Warte Paula! So hab ich’s nicht gemeint – es tut mir leid! Ich wollte dich anrufen, ich ...“

Paula sah ihn funkelnd an. „Was?!“

Orsini schwieg, hatte es sich leichter vorgestellt – aber Paula hatte recht ... „Ich bin ein Idiot“, gab er klein bei, „ich wollte mich bei dir entschuldigen, glaub mir, aber zuerst hab ich nicht gewusst, wie, und dann ... dann war’s zu spät.“

„Zu spät!“, antwortete sie mit erhobener Stimme sah ihn abwägend an. Nur langsam vermischte sich ihr Zorn mit Nachsicht und ging über in ein vages Schmunzeln. Immerhin hatte er über eine Stunde in der Kälte auf sie gewartet, wenn auch – darauf wollte sie wetten – nicht nur aus alter Freundschaft, sondern gewiss noch aus einem anderen, praktischen Grund.

„Gut, meinetwegen. Hunger hab ich ...“

„Danke“, antwortete Orsini erleichtert und holte endlich wieder Luft. „Könnten wir irgendwo hingehen, wo keine ehemaligen ...“

„… Kollegen sind? Klar, lass uns in die Institutsmensa gehen. Da kommt bestimmt keiner hin.“

„Okay“, antwortete Orsini.

Sie wirkt nicht überrascht, ging es ihm abermals durch den Kopf.

Leicht verunsichert gingen sie nebeneinander her, wie zwei Fremde. Ohne es aufhalten zu können, stieg die Erinnerung an die allzu seltenen Male der Zweisamkeit in Orsini hoch und er sah sich Arm in Arm mit ihr durch die Stadt spazieren. Und jetzt: Distanz.

„Wie geht’s dir?“, fragte Paula nach einer Weile wie nebenbei und stieg auf die abwärts führende Treppe in die Fußgängerunterführung.

„Gut eigentlich ... kann nicht klagen“, entgegnete Orsini aus den Gedanken gerissen und blieb kurz in der Passage zwischen den zwei laut rumpelnden Rolltreppen stehen. „Und dir?“

„Totaler Stress ... aber das kennst du ja von früher“, sagte Paula und stellte sich auf eine der geriffelten Metallstufen, die nach oben führten. Beim Ausgang herrschte Gedränge und eine Straßenbahn fuhr in die Haltestelle ein. „Bin aufgestiegen.“

„Ah, gratuliere.“

„Und du? Ich hab gehört du bist privat unterwegs, oder hast du plötzlich Heimweh nach dem Büro?“

„Nein, kein Heimweh“, lächelte Orsini, „aber ich arbeite gerade an einem ... interessanten Fall.“

Wieder durchbohrten ihn ihre Blicke. „Du bist also wegen des Falls hergekommen?“

„Nein, nicht nur“, beschwichtige Orsini sofort, wurde aber von der anfahrenden Straßenbahn übertönt.

„Was hast du gesagt, Conrad? Ich hab dich nicht richtig verstanden!“

„ Nein ..., ja, das heißt: Ich stecke fest und bräuchte deine Hilfe.“

„Wieso grade ich?“

Orsini erwiderte ihren scharfen Blick und zuckte hilflos mit den Schultern. Schweigend marschierten sie weiter. Was sollte er antworten? Ich bin ein verdammter Feigling – wieso sage ich ihr nicht, dass ich vor allem wegen ihr hier bin?, dachte er und hielt ihr die Tür zum Institutsgebäude auf.

„Höflich wie immer“, ätzte Paula, obwohl sie genau das immer an ihm geschätzt hatte. Sie war entschlossen, ihn büßen zu lassen.

„Und die Rechnung geht auf mich“, versuchte Orsini tapfer die Stimmung zu glätten. Wortlos nickte Paula und ließ sich auch noch aus dem Mantel helfen.

„Danke“, sagte sie schließlich, „ich nehm das Menü eins und ein Mineralwasser.“

Orsini sah auf die handgeschriebene Tafel, entschied sich für Menü drei und ging zur Essensausgabe.

Vielleicht hätte ich ihn nicht so lange auf der Bank warten lassen sollen – noch dazu bei der Temperatur ..., regte sich ein wenig Paulas schlechtes Gewissen. Dass ausgerechnet ihr Vorgesetzter Pokorny ihn durchs Fenster gesehen hatte, war natürlich ein kurioser Zufall. Zumindest umarmen hätte er mich können!, rutschte ihr ein unerwarteter Gedanke dazwischen.

„So“, sagte Orsini und verteilte die Teller.

„Immer noch derselbe Mantel“, stichelte Paula.

„Hab eigentlich einen neuen, aber der ist gerade in der Reinigung. Da musste ich ihn halt wieder hervorholen ... Leder hält ja bekanntlich ewig.“

„Hast du eigentlich noch Kontakt zu ehemaligen ...?“, fragte Paula beiläufig, obwohl sie wusste, dass er die Kollegen von früher mied.

„Eigentlich nicht“, erwiderte Orsini aufrichtig, wich ihrem Blick aber aus.

„Bist du gar nicht neugierig?“

„Weiß nicht – vielleicht auf die neueste Theorie vom Elmar“, kratze er die Kurve, um der unangenehmen Frage auszuweichen.

„Tätowierungen“, unterbrach Paula und musste spontan lachen.

„Tätowierungen?“, wiederholte Orsini, während er das Fleisch auf seinem Teller zerteilte.

„Ja! Vom riesigen Totenkopf auf der Brust bis zum winzigen Ich-trau-mich-auch-Schmetterling auf dem Schulter­blatt hat Elmar eine Einteilung vorgenommen, die zusammen mit Größe, Körperstelle und was weiß ich noch eine Kategorisierung zulässt. Monatelang hat er daran herumgetüftelt, ist in den absonderlichsten Kellern und Studios he­rumgekrochen und war nicht mehr davon abzubringen.“

„Unglaublich, wär ich nie drauf gekommen, die Menschen so einzuteilen“, erwiderte Orsini, froh, dass sie zu ­einem leichter verdaulichen Thema hingefunden hatten.

„Davor waren es übrigens Gürtelträger, ist doch ein nahtloser Übergang, findest du nicht auch?“

„Stimmt“, lachte Orsini und erzählte eine weitere Anekdote über ihren ehemaligen Kollegen, der ein Faible für skurrile Methoden der Qualifizierung von Menschen sowie deren Obsessionen hatte. Er hatte immer wieder für Erstaunen und Heiterkeitsausbrüche im Team gesorgt, manchmal aber auch Treffer gelandet, die sich niemand erklären konnte.

Sie plauderten eine Weile belanglos dahin. Paula fragte sich, wie lange er brauchen würde, um zur Sache zu kommen. Helfen würde sie ihm dabei gewiss nicht!

Und so waren sie beim Dessert angelangt, als Orsini endlich damit herausrückte. „Ich bräuchte deine Hilfe“, begann er zaghaft.

„Wobei?“

„Bei einer ... Erbschaft.“

„Erbschaft? Und dazu brauchst du mich? Ist das nicht unter deinem ...“

„Ja, ich weiß“, sagte Orsini leicht verärgert, „der Erblasser ist allerdings nicht von selbst gestorben.“

„Und du hast da irgendwelche Zweifel, stimmt’s?“

„Stimmt. Schmeckt’s eigentlich?“

„Ganz passabel für ein Menü.“

„Und was brauchst du jetzt von mir?“

„Nichts weniger als“, Orsini machte eine Pause und warf einen verstohlenen Blick auf Paulas Wange. Jochbeinbruch, hatten sie ihm gesagt, Gehirnerschütterung und ein ausgeschlagener Zahn. Die Narbe war zwar gut verheilt, aber doch sichtbar. Er trank einen Schluck und fuhr fort: „... als die gesamten polizeilichen Ermittlungsergebnisse.“

„Nicht grade wenig. Um welchen Fall geht’s überhaupt?“

Orsini erklärte ihr kurz die Details, die er für notwendig hielt und sagte dann: „Natürlich weiß ich, was ich von dir verlange, und ich verstehe auch, wenn du nein sagst.“

Paula starrte geradeaus, strich sich unruhig mit einem Finger über die Wange und streifte dabei die Narbe.

„Wenn du darüber reden willst“, setzte er an, wurde aber barsch unterbrochen.

„Dieser Posa...“

„Posamentenhändler“, half Orsini.

„Dieser Händler, wieso kommst du auf die Idee, dass da etwas nicht stimmen könnte?“

„Um ehrlich zu sein, ich weiß es selbst nicht genau, aber ...“

„War ja noch nie anders bei dir.“

„Also“, fragte Orsini besorgt, „könntest du mir die nötigen Unterlagen besorgen? Falls du mir überhaupt hilfst ...“

Paula räusperte sich. Ihr Zorn hatte sich in etwas verwandelt, das sie noch nicht begriff. Plötzlich fragte sie sich, ob er sich immer noch gleich anfühlte, ob er immer noch ... „Okay Conrad, ich helfe dir.“

„Danke.“ Ein kleiner Etappensieg.

„Aber auf keinen Fall was Schriftliches! Alles, was du wissen willst, erfährst du direkt von mir.“

„Ist okay.“

„Und, es gibt noch eine Bedingung!“

„Welche Bedingung?“

Paula zögerte.

„Babysitten.“

„Wie, Babysitten?“

„Auf ein Kind aufpassen eben.“

„Was für ein Kind“, fragte Orsini erstaunt, obwohl er die Antwort ahnte.

„Meines. Ich hab eine kleine Tochter.“

„Eine Tochter ...“

„Ja, eine Tochter“, ahmte Paula ihn mit leicht angespannter Stimme nach, die Orsini nur allzu gut kannte, und beobachtete ihn kühl, wie er in sich zusammenschrumpfte.

„Ich ..., ich ..., ich kann das nicht.“

„Dann musst du es eben lernen. Außerdem sind’s nur ein paar Stunden. Also entweder ...“, verschärfte sich Paulas Tonfall.

„Ja. Ja, gut, ich mach’s. Wenn’s sein muss. Wann?“

„Morgen um zwanzig Uhr, bis ... bis ich alles habe, was du brauchst. Kann dauern. Ich hoffe, dass nichts dazwischen kommt!“

„Ich brauch jetzt einen Espresso“, griff Orsini das Wort auf, „du auch?“

„Ja, bitte.“

„Schwarz, ein Löffel Zucker – wie früher?“

Paula nickte kurz, ohne ihn anzusehen. Froh, die Situation entschärft zu haben, stand er rasch auf und holte die zwei kleinen dunklen Beschleuniger.

„Muss ich etwas ..., etwas Spezielles mitnehmen?“, fragte er, nachdem er die Schale vor Paula auf den Tisch gestellt hatte.

„Nein, ist alles da. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, um die Zeit schläft sie sowieso meistens.“ Ihr Tonfall hatte sich wieder normalisiert. Trotzdem trank sie ihren Kaffee in einem Zug aus, erhob sich und sagte, während sie in den Mantel schlüpfte und sich den Schal überwarf: „Bis morgen Conrad, zwanzig Uhr, ich verlass mich auf dich.“

„Ja, bis morgen. Zwanzig Uhr. Hat mich gefreut, dich wieder mal zu sehen!“

„Mich auch“, gab sie Conrad einen angedeuteten Kuss auf die Wange, drehte sich um und ging, ohne Orsini noch einmal angesehen zu haben. Überrumpelt von der kurz angebundenen Verabschiedung sah er ihr noch bewundernd nach, bis sie verschwunden war und erstarrte, nachdem sich ein unangenehmer Gedanke durchgesetzt hatte.

Der Gedanke verwandelte sich zu einem Problem, das konkrete Gestalt annahm und auch einen Namen trug.

Nämlich Anneliese Zechner, die junge, hilfsbereite Bankbeamtin, mit der Orsini ein Treffen vereinbart hatte, und zwar um neunzehn Uhr des gleichen Tages, jedoch an einem anderen Ort. Unentschlossen verließ er das Institutsgebäude. Nach so langer Zeit Paula wiederzusehen, tat gut und er merkte, dass er noch immer etwas für sie empfand. Ob das auch umgekehrt zutraf? Monatelang keine Verabredungen und jetzt am selben Tag gleich zwei, ärgerte er sich dennoch.

Der Posamentenhändler

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