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Betonierte Wanne mit flüssigem Inhalt, dachte Orsini und versuchte den niemals aufhörenden Verkehrslärm, der vom Schwedenplatz auf ihn herabdröhnte, aus seinem Bewusstsein zu filtern. Hochgewachsene Pappeln, ein anhaltendes Lichterspektakel, Schiffe, U-Bahn, Hunde, Ratten, Nachtleben und Geschäftigkeit. Eindrücke, die Orsini in sich aufsog und mit seinen Gedanken verwob, wie immer, wenn er zu Fuß unterwegs war.

Kurz nach zehn war er aufgebrochen, um Hans im „neuen Etablissement“ – wie er sich kryptisch ausgedrückt hatte – einen Besuch abzustatten.

Hans war früher Unteroffizier und Orsinis Vorgesetzter während seiner Zeit beim Militär gewesen. Ein Kurzschluss – anders war es nicht zu formulieren – hatte Orsini bewogen, eine Karriere als Offizier zu beginnen. Hans war einer seiner Ausbildner gewesen und es war in dieser Zeit so etwas wie Freundschaft zwischen den beiden entstanden. Orsini war es immer schleierhaft gewesen, wie der lebensfrohe, kontaktfreudige Hans es so lange in dieser hierarchischen Gesellschaft ausgehalten hatte, und er war deshalb auch nicht überrascht gewesen, als sie ungefähr zur selben Zeit aus dem Dienst geschieden waren. Orsini freiwillig, Hans unfreiwillig.

Der Zufall hatte sie wieder zusammengebracht und das gemeinsam Erlebte verband sie seitdem. Hans hatte Kontakte in alle und zu allen möglichen Kreisen der Gesellschaft. Schon in Orsinis Zeit als Kriminalbeamter hatte er dessen Hilfe einige Male in Anspruch genommen. Wie Hans an seine Informationen kam, wollte Orsini gar nicht so genau wissen. Eines wusste er allerdings mit ziemlicher Sicherheit: dass morgen mit Kopfschmerzen zu rechnen war.

Zu Beginn seiner Militärzeit hatte er nämlich zeitweise in der Unteroffiziersmesse aushelfen müssen. Dort wurde an sich schon enorm viel getrunken, der ungeschlagene Spitzenreiter war aber Hans. Orsini war jedes Mal aufs Neue erstaunt gewesen, welche Mengen Alkoholika Hans in sich hineinschüttete, ohne danach – so wie die meisten anderen – völlig wegzutreten. Hans schien auch nach den ärgsten Gelagen noch Herr der Lage zu sein.

Einmal war er allerdings nicht Herr der Lage und das genügte. Den höheren Dienstgraden schon länger ein Dorn im Auge, wurde er fristlos entlassen. Danach hielt er sich durch verschiedenste Arbeiten über Wasser und landete schließlich an der Quelle seines Problems, einer Bar in einem Etablissement.

Orsini stieg die wackeligen Trittbretter der Straßenbahn hinunter und ging das letzte Stück den Gürtel entlang. Das Etablissement – Orsini staunte nicht schlecht: Wo noch bei seinem letzten Besuch riesengroße rote Lettern und kitschige Schaukästen mit jungen Nacktheiten die Fassade gezierten hatten, war jetzt nichts.

Nicht nichts im eigentlichen Sinn, auch kein schwarzes Loch, vielmehr ein krisensicherer Arbeitsplatz für Fensterputzer: eine nach außen verspiegelte Glasfläche, die sich über die Länge der ganzen Fassade zog. Orsini trat ein. Aus dem ehemals verwinkelten, mit versteckten plüschbezogenen Nischen ausgestatteten Lokal war nun ein einziger riesiger Raum entstanden. Entkernt gewissermaßen, überlegte Orsini, was aber auch nicht ganz stimmte. Denn die neuen Inhaber hatten sogar die Haut, wenn nicht entfernt, dann zumindest erneuern lassen. Ein überdeutlicher optischer Bruch mit der Vergangenheit jedenfalls.

Halbvoll, höchstens. Auf einem Podest war ein DJ am Werk, der sich gerade musikalisch aufzuwärmen schien, was Lautstärke und Musikstil betraf. Wenigstens ansprechende Musik, fand Orsini und begab sich an die lange, mit rostigen Eisenplatten ausgestattete Theke, wo sofort ein junger, sonnengebräunter Mann in körperbetontem ärmellosem T-Shirt auf ihn zukam.

„Möchtest du etwas bestellen?“

Orsini war knapp davor, dem karottenbraunen übernetten Jüngling das Du-Wort wieder zu entziehen, beließ es aber nach einem tiefen Atemzug dabei. „Ja, ein Cola. Aber eigentlich bin ich hergekommen, um mit Hans zu sprechen, der arbeitet doch hier?“

„Hans ..., ja, der steht in der Küche und raucht gerade. Soll ich ihn holen?“, kam es mit hoher, sanfter Stimme retour.

„Das wäre nett von dir, aber lass ihn ruhig zu Ende rauchen, er hat sicher sehr viel zu tun, wie du ja bestimmt auch. Oder?“, säuselte Orsini und wiegte den Kopf.

Der sportliche Kellner verschwand hinter einer undurchsichtigen gläsernen Wand, einen Ausdruck des Erstaunens auf dem Gesicht.

„Conrad!! So geht das aber wirklich nicht“ Hans kam hinter dem gläsernen Verschlag hervor. Er schüttelte ihm überschwänglich die Hand und umarmte ihn über die Theke. Etwas kleiner als Orsini, kompakter Körperbau und wie immer – und von ihm selbst als letztes Überbleibsel seiner Vergangenheit bezeichnet – der kurze Bürstenhaarschnitt. Die Haare zwar mittlerweile grau, aber immer noch kräftig, standen wie die Borsten eines Igels vom Kopf ab. Zusammen mit der engen, schwarzen Kleidung, die alle Angestellten trugen, wirkte er jünger, als er tatsächlich war. „Mit mir trinkst auf jeden Fall was Ordentliches, net des braune ungsunde Gsöff, da ruinierst dir doch die Leber! Also was willst wirklich?“

„Sind bei euch alle so braun gebrannt und sportlich wie der Kollege?“, versuchte Orsini auszuweichen.

„Ist eine andere Generation“, lachte Hans, „aber sonst harmlos. Also Wodka, Whisky oder was Härteres?“

Orsini hatte naiverweise geglaubt, zumindest das erste Getränk alkoholfrei bestellen zu können. Hätte ich wenigstens auf mein Cola gewartet und erst dann nach ihm gefragt, ärgerte er sich. „Na wenn’s sein muss, ein kleines Bier.“

„Ein großes Bier, das ist ja schon ganz was andres und auch wesentlich gsünder.“

Orsini fügte sich seinem Schicksal und dachte kurz an den nächsten Morgen, wischte den Gedanken aber sofort beiseite. Er brauchte Informationen, da musste man Opfer bringen.

„Also Prost Conrad, auf unsre gemeinsame Vergangenheit.“

„Aber ..., du trinkst ja nur Sodawasser!“

„Na ja, nicht ganz“, erwiderte Hans leise, um dann mit normaler Lautstärke fortzufahren: „Ja, leider, die neuen Geschäftsinhaber, junge Leut, kein Verständnis. Absolutes Alkoholverbot für alle Bediensteten – kannst dir das vorstelln? Soll angeblich sehr gsund sein.“

„Und das schaffst du, ich mein meistens halt?“, kam Orsini aus dem Staunen nicht heraus.

„Wenn ich den Job behalten will, muss ich’s schaffen, sonst, ... Was sagst du eigentlich zu dem Schuppen?“, wechselte Hans abrupt das Thema.

Orsini hatte das kurze Zögern und die Änderung des Tonfalls in seiner Stimme bemerkt, ging jedoch nicht darauf ein. „Bisschen wie ein ... Seziersaal, oder? Scheint trotzdem gut zu gehen.“

„Seziersaal ist gut, muss ich mir merken. Da wird ja auch viel ausgräumt, wieder zugmacht und dann die Oberfläche poliert. Bin übrigens der einzige Überlebende.“

„Wie meinst du das?“

„Na vom alten Seziersaal, das restliche Personal halt. Alle weg ... bis auf mich. Schöne neue Welt – solangst noch jung bist!“

„Die Musik ist aber okay.“

„Na ja, mein Gschmack is es nicht, aber den jungen Leuten gfällt’s. Ist fast jeden Tag voll. Fängt eigentlich erst richtig um halb zwölf, zwölf an. Wirst schon sehn.“

Hoffentlich erwartet er nicht, dass ich solang dableibe und mit ihm trinke! „Prost Conrad, sag was brauchst eigentlich von mir? Moment – bin gleich wieder zurück.“

Das Lokal füllte sich wie auf ein vereinbartes Zeichen und der DJ schraubte kontinuierlich die Lautstärke in die Höhe.

Nach einer Weile tauchte Hans wieder auf. „So ... Prost. Nachschub gefällig?“

Orsini wollte abwehren, aber es war zwecklos.

„Und, gehst noch zum Training, fightest noch?“, deutete Hans einen Schwinger mit der Rechten an, während er mit der Linken nach einem frischen Glas griff.

„Manchmal, hab aber grade den Club gewechselt.“

„So, frisch gezapft! Wo waren wir stehn blieben?“

„Ich ermittle in einer Erbschaft und brauch deine Hilfe.“ Orsini musste jetzt immer lauter reden, um die Musik zu übertönen. Kurz erzählte er Hans von der Auftraggeberin.

„Ist aber ein Abstieg für dich, oder?“

„Nicht ganz, der Erblasser ist nämlich ermordet worden.“

„Aha – und von wem?“

„Die Polizei hat ein paar Drogensüchtige im Visier.“

„Versteh, und was sagst du dazu? Nein, lass mich raten! Nicht das Gleiche wie die Polizei, stimmt’s?“ Hans warf Orsini einen vielsagenden Blick zu und fuhr dann fort, ohne ihn antworten zu lassen: „Bei Mord helf ich dir gern, aber Erbschaft ist unter deinem Niveau. Also, schieß los!“

Zusätzlich zur lauten Musik war die Unterhaltung nicht ganz einfach zu führen, da Hans laufend Gläser füllte, Cocktails zubereitete und an der Bar zunehmend dichteres Gedränge herrschte. Ständig wurde ihr Gespräch unterbrochen, bis Hans wieder für einen Moment Zeit hatte. Orsini gab ihm einen Zettel mit dem Namen des Ermordeten, seiner Bankverbindung und der Anschrift des Geschäftslokals.

„Versuch was rauszufinden über den Mann ..., und vielleicht auch über seinen Sohn!“

„In welcher Richtung soll ich suchen?“

„Keine Ahnung.“

„Wird schwierig ohne Anhaltspunkt. Gib mir zumindest einen Deut mehr.“

„Könnte im Zusammenhang mit Bauspekulationen stehen – ist eine reine Vermutung. Warte, gib mir noch mal den Zettel, ich schreib dir den Namen einer Immobilienfirma auf. Und, was mir noch einfällt“, sagte Orsini, während er schrieb, „der Händler war schon im fünfundachtzigsten Lebensjahr. Ich weiß zwar nicht, ob das irgendeine Rolle spielt, aber ich denke, du solltest es einfach wissen.“

„Ist nicht wirklich viel“, antwortete Hans, der danach zum x-ten Mal hinter der Glasfront verschwand, gleich da­rauf mit einem Tablett Gläser zurückkehrte und begann, sie in Regale zu schlichten. „Noch was zu trinken?“

Orsini gab sich geschlagen und entschied sich für einen Longdrink.

„Wo ist sein Geschäft und die Wohnung, sagst du?“

„Im Siebten, Zieglergasse, bei der Westbahnstraße.“

„Kenn ich.“ Hans nahm noch einmal den Zettel in die Hand, las ihn durch und steckte ihn in seine Hosentasche. „Immotreu, … werd mich umhören, aber versprechen kann ich dir nichts. Schwarzarbeit, oder?“

„Nicht nur, vermutlich auch Einschüchterungsversuche, Drohungen, das Übliche. Sei vorsichtig – die scheinen höchst nervös zu sein.“

„Wie hängen die zusammen, ich mein, der alte Händler und die Firma?“

„Was ich so gehört hab, kaufen die in der Gegend alles auf. Dann bauen sie groß aus und cashen ab. Vielleicht ist er ihnen einfach im Weg gestanden.“

„Kann aber dauern, Conrad.“

„Nicht schon wieder.“

„Wie?“

„Nein nichts …, es ist nur, dass ich den Satz heut schon einmal gehört hab.“

Abermals verschwand Hans. Diesmal länger. Orsini wollte schon den solariumbraunen Kollegen fragen, als Hans wieder auftauchte. Beladen mit einem doppelstöckigen Tablett und verschwitzt bis zu den Ärmeln.

„Früher im Etablissement war’s gemütlicher“, bemerkte Orsini.

„Scheiße.“

Ein Glas war zu Boden gefallen und zersprungen.

„Kann ich dir helfen?“

„Nein, ist schon okay. Ist jeden Tag das Gleiche. Zuviel Gäste und zu wenig Personal, geht bis um vier Uhr so.“

„Na dann verabschiede ich mich mal …“

„Hey, kommt überhaupt nicht in Frage – ist ja noch viel zu früh! Wir haben doch noch gar nicht über …“

„Okay, okay, einen Cocktail nehm ich noch, dann ist Schluss, sonst komm ich noch zu spät zu meiner Verabredung“, log Orsini.

„Paula noch immer?“

„Schon lang nicht mehr. Hast du sie vielleicht irgendwann getroffen?“, wollte Orsini neugierig und schon einigermaßen beschwingt wissen.

„Ja einmal, gar nicht lange her. Tolle Frau.“

„Hast du mit ihr geredet?“

„Über dich?“

„Nein, allgemein.“

„Ich kenn sie doch kaum und außerdem hat sie’s eilig ghabt.“

„Eilig warum?“

„Du stellst Fragen. Wie soll ich wissen, warum sie’s eilig ghabt hat. Vermutlich wegen dem Kind.“

„Was für ein Kind?“

„Conrad, was ist los mit dir? Hat sie dir vielleicht doch mehr …?“

„Natürlich nicht, ich …“

„Natürlich nicht“, äffte Hans ihn nach, „für wie blöd hältst mich eigentlich?“

„Okay, vergiss es einfach“, reagierte Orsini eine Spur beleidigt.

„Schnapp nicht gleich ein! Sie hat ein Kind auf dem Arm getragen, wir haben uns gegrüßt. Sie hat gesagt, dass sie es eilig hat, weil sie in den Kindergarten muss und das war’s auch schon.“

„Glaubst du, es war ihr Kind?“

„So wie sie es im Arm gehalten hat – schon.“

„Gib mir noch einen. Nein! Lieber einen Doppelten.“

Unschlüssig stand Orsini gegenüber der Universität und fror. Letztlich hatten sie doch noch alte Erinnerungen aufleben lassen. Hans auf ungewöhnliche Weise stocknüchtern und Orsini in zunehmenden Maße betrunken. Irgendwie war es ihm gelungen zu entkommen, obwohl er schon kurz davor war, die Tanzfläche zu betreten. Das wäre mit Sicherheit der totale Absturz geworden ...

Hunger – eines der grundlegendsten Bedürfnisse. Schalter Hunger ein, essen, Schalter aus. So einfach war das. Nur nicht zu dieser Stunde. Orsini spazierte ziellos entlang der auch um diese Zeit noch stark befahrenen Ringstraße. Auf den Alleebäumen hingen nur noch vereinzelt runzelige Blätter. Eine kleine orange Reinigungsmaschine kam direkt auf Orsini zugefahren, was er aber nicht bemerkte. Gedankenverloren marschierte er weiter. Der Lenker der Miniaturausgabe hupte, wich aus, kurbelte danach das Fenster herunter und schrie ­,Orsini hinterher: „Bsoffenes Orschloch! Bist geistesgstört oder was? Des nächste Mal walz i di nieda, ... du Schnapsleich!“

Orsini war so in Gedanken versunken, dass er den Zwischenfall kaum bemerkte und auch die Beschimpfung an ihm vorbeiwehte. Schwer angeschlagen kurvte er in Schlangenlinien am Parlament vorüber und bog unbewusst ab. Hans hatte unabsichtlich in einer Wunde geschürt. Paula mit Kind!?

Vorbei am Haus des Volkes überquerte er die viel befahrene „ehemalige Zweierlinie“, nachdem die Ampel bereits auf Rot gesprungen war. Ein Hupkonzert war die Folge. Wieder kurbelte jemand ein Fenster herunter und schrie Orsini mit Innbrunst, aber gnädigerweise geänderter Reihenfolge, ein herzliches „Orschloch, bsoffenes!“ zu.

Vielleicht ist es nicht ihr eigenes ... Er registrierte die aufgebrachten Autolenker kaum und starrte geradeaus. Ist sie mit jemand zusammen? Ich muss sie treffen. Aber wozu eigentlich? Sie hat ein Kind und ist bestimmt glücklich verheiratet ... In leichter Schlangenlinie marschierte er die Burggasse weiter stadtauswärts und bog ziellos links ab. Die frische Luft tat zwar dem Hals nicht gut, klärte aber den benebelten Verstand.

Paula, verheiratet? – Nein ...

Oder doch?

Ohne es zu bemerken war er in der Zieglergasse stehen geblieben, ausgerechnet vor dem steinernen Ensemble, das ihm schon früher aufgefallen war. Obwohl es einige Meter weiter auch einen Vater mit Kind gab, starrte er doch nur auf die Mutter mit Kind. War es möglich?

Wenig später landete er vor dem schon geschlossenen, aber noch beleuchteten Würstelstand neben der Kirche. Ein Mann mit Besen in der Hand reinigte gerade das Innere, bemerkte ihn jedoch nicht. Orsini nahm inzwischen das letzte, schon etwas derangierte Paar Würste auf der Grillplatte ins Visier. Dünn, rotbraun und verschrumpelt lag es einsam und verloren da. Orsini klopfte an die geschlossene Scheibe. Der müde Verkäufer hatte einen weiß-bräunlichen Stofflappen in der Hand, schob die Scheibe zurück und sagte: „Wir ham scho zu!“, schnappte mit der Linken die zwei Würste und putzte mit dem Stofflappen in seiner Rechten die ölig schimmernde Metallplatte.

„Geben Sie mir wenigsten die da!“ Orsini zeigte auf das verschrumpelte Paar Frankfurter in seiner Hand. Deren Erfinder, ein gewisser Johann Lahner aus Frankfurt, hatte nur unweit – nämlich in der Kaiserstraße – das Rezept zu diesem Welterfolg kreiert. Gegessen freilich hätte der dieses hässliche Paar nicht mehr.

„Ist aber nur mehr lauwarm.“ Der Verkäufer wog es prüfend zwischen seinen Fingern. Dann nahm er den Lappen wieder zur Hand und putzte weiter.

„Auch schon egal, her damit!“

„Süß, scharf?“

„Scharf, viel!“

„Brot. Semmel gibt’s keine mehr.“

„Ja gut, und ein Bier.“

„Gut, ein Bier auch noch …, sind Sie sicher?“

„Ja, wieso?“

„Na ja, gut schaun Sie nimmer aus, ich hoff Sie wohnen wenigstens da.“

Orsini biss von der Wurst ab und antwortete: „Ich wohn nicht hier ..., hab aber oft geschäftlich hier zu tun.“

„Gschäftlich, in der Gegend?“

„Ja, kennen Sie das Posamentengeschäft?“

„Da werdn S’ aber jetzt nimmer oft herkommen brauchen, weil der Alte ist tot, … ermordet“, sagte der Verkäufer und reinigte mit dem verschlissenen öligen Lappen nun die Teller.

„Ja, weiß ich.“

„War übrigens ein guter Kunde. Die beiden waren früher oft jeden zweiten, dritten Tag da und haben was gessn.“

„Welche beiden?“, fragte Orsini während er aß.

„Der Heinrich Novak, der was ermordet wordn is, und sein Freund, den werdn S’ aber nicht kennen. Hat ein Altwarengschäft ums Eck.“

„Meinen Sie den Vladimir, den Vladimir Tandler?“

„Ja, dass Sie den auch kennen?“

„Kennen ist übertrieben, nur der Name ...“

„Stimmt, ist ungewöhnlich …, kommt aus dem Osten glaub ich. Noch ein Brot?“

„Nein, danke.“

„Vladimir … möcht nicht so heißen, da denkt man immer gleich an den Blutsauger. Obwohl zu meinem Gschäft würd’s sogar passen, ich verkauf nämlich auch Blutwurst. Ja der Vladimir, ist jetzt auch nicht leicht für ihn. War doch sein Freund, auch wenn sie sich in letzter Zeit viel gstrittn haben ...“

„Gstritten – über was denn?“

„Weiß nicht. Wird wohl mit’m Gschäft zu tun ghabt haben. Seit ein paar Wochn sind die beiden auf jeden Fall nicht mehr bei mir gwesn. Grad der Heinrich is ja immer auf die Minutn kommen, da hat man die Uhr stelln können. Genau wie bei seinem Spaziergang.“

„Was für ein Spaziergang?“, fragte Orsini desinteressiert, weil sich in seinem Kopf bereits alles zu einem Brei vermischte. Das lag einerseits am Alkohol, andererseits an der einschläfernden Stimme des Mannes.

„Solang ich den Heinrich kenn, eigentlich müssert ich ja jetzt kannt hab sagn, hat der doch nie das Grätzl verlassn. Urlaub war für den ein Fremdwort. Nur jeden Freitag um die gleiche Zeit, da hat der sein Spaziergang gmacht. War wohl seine einzige Freud, wenn man da von Freud redn kann.“

„Und wo ist er da hingegangen?“, fragte Orsini lustlos weiter.

„Keine Ahnung, hab ihn nur ein einziges Mal unterwegs troffn. Beim Naschmarkt war des. Ein Tempo hat der ghabt, für sein Alter! Na, habe die Ehre, hab i ma dacht.“

„Interessant.“ Orsini biss von seiner Wurst ab. „Ist er da immer allein gegangen?“

„Ja, glaub schon.“

„Soll ja auch gesund sein.“

„Wie – gsund?“

„Na, fürs Herz … Sport …“

„Ach so, ja wahrscheinlich.“ Der Mann nahm wieder den öligen Lappen zur Hand, mit dem er zuvor die Grillplatte gereinigt hatte, und wischte damit den Fensterrahmen ab.

„Zum Trinken brauchen S’ jetzt aber nix mehr, oder? Weil ich sperr jetzt wirklich zu.“

Der Verkäufer hatte einen Arbeitsmantel an, dessen ursprüngliche Farbe man nur mehr vermuten konnte und aus dem er fast herauszuplatzen schien. Die Knöpfe am Bauch mussten ganze Arbeit leisten und waren nicht zu beneiden. Als Orsini zum hochroten Kopf noch die blutunterlaufenen Hände sah, musste er an Schlachthof und Fleischhauer denken. Nun stellte der Verkäufer einen Kübel mit bräunlich-flüssigem Inhalt vor dem Stand auf den Boden und begann den zuvor verwendeten Lappen auszuwringen. An der Oberfläche der öligen Flüssigkeit schwammen Essensreste und der aufsteigende Geruch verteilte sich.

Orsini lehnte vor dem Würstelstand und schaute dem rotgesichtigen Mann noch bei seinen letzten Tätigkeiten zu. Er dachte besorgt an den Lappen im Kübel, dann an seinen Mageninhalt und kippte schließlich den Rest seines Biers aus reiner Verzweiflung in einem Zug hinunter.

„Auf Wiedersehen“, brachte er noch hervor.

„Gute Nacht, ich hoff es hat gschmeckt und Sie kommen bald wieder!“ Der Verkäufer blickte kurz von seiner Arbeit auf. Aber Orsini hatte sich schon umgedreht und den Stand verlassen. Mit schwankendem Boden unter den Füßen torkelte er über die Straße. Neben ihm öffnete sich eine ­schmale Blechtür, ein Mann im weißen Arbeitskittel erschien und zündete sich eine Zigarette an. Eine kleine weiße Wolke umgab ihn wie ein Heiligenschein. Sogar seine Haare waren weiß. Einer der letzten Bäcker, der noch nicht vor den vorgefertigten geschmacksnivellierten Kunststoffbroten kapituliert hatte, gönnte sich eine Pause.

Der Posamentenhändler

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