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Der gestrige Abend hatte seine Spuren hinterlassen. Kraftlos stand er auf, kochte Tee, schlurfte ins Badezimmer und betrachtete sich wie immer kurz und kritisch im Spiegel.

Ärgerlich zupfte er ein sich durchkämpfendes einzelnes graues Haar über dem Ohr aus und schimpfte verhalten. Weniger wegen des kurzen Schmerzes als wegen der Tatsache des unaufhaltsamen Alterns. Ansonsten zufrieden fuhr er sich mit den nassen Händen durchs zerzauste, aber noch immer volle, dunkle Haar und nahm danach einige homöopathische Kügelchen ein, obwohl er diese Art der Therapie wie alle anderen auch grundsätzlich für zwecklos hielt. Eine beginnende Verkühlung ließ sich ohnehin durch nichts und niemanden verhindern. Ärzte, Apotheker und Pharmafirmen sahen das nicht so und schwatzten einem alles auf, was gut und vor allem teuer war. Ein Interessenkonflikt. Allerdings, da er das Fläschchen nun schon besaß, wäre es eine Verschwendung gewesen, es nicht zu verwenden. Immerhin beinhaltete es mehrere Hundert solcher Kügelchen, dachte er und schlurfte zurück in die mit handbemalten Fliesen ausgelegte Küche.

Das „Tsing“ des herausspringenden Toasts war für Orsini das Zeichen, den Tag ernsthaft zu beginnen – die Uhrzeit war dabei eine Variable. Nachdem er die Zeitung überflogen hatte, zog er das Telefon näher an sich heran.

Kein Kontakt mit dem Notar, hatte Sophie Pfeifer beharrlich verlangt. Aber irgendwie musste man an Informationen kommen.

„Kanzlei Dr. Skrovisky und Partner Sie sprechen mit ­Petra Wagner was kann ich für Sie tun?“ Wie ein einziges auf ihn zudonnerndes Wort überrollte ihn die Ansage.

„Skrov...siky, spreche ich das richtig aus?“

„Nein, Skro-vis-ky,“ wiederholte die junge Stimme am anderen Ende belehrend.

„Entschuldigung, Conrad Orsini, ich rufe an wegen der Erbschaft der Familie Novak.“

„Ich kann und darf Ihnen bezüglich dieser Erbschaft weder telefonisch noch sonst wie Auskunft geben. Da müssen Sie sich direkt an Dr. Skrovisky wenden, er betreut die Familie Novak selbst, ist aber im Moment nicht im Büro“, kam es wie aus der Pistole geschossen und für Orsinis Aufnahmefähigkeit zu dieser frühen Stunde viel zu schnell retour.

„Ah ja.“

„Sie sind, wie ich vermute, ein Angehöriger.“

„Nicht direkt“, tappte Orsini in die Falle. Sofort wollte er die beiden Worte wieder in sich einsaugen und wusste zugleich doch, was folgen würde.

„Da Sie kein direkter Angehöriger sind, kann ich Ihnen leider keine weiteren Auskünfte geben.“ Pause, und: „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“

Achselzuckend legte Orsini den Hörer nieder. Es war nichts anderes zu erwarten gewesen, dachte er und blickte auf seine Armbanduhr. Zeit, sich auf den Weg zu machen.

Die Nacht hatte es durchgeregnet. Tief stehende Wolken drückten der Stadt einen gräulich trüben Stempel auf. Wie so oft um diese Jahreszeit erfasste Orsini ein unbestimmtes Gefühl der Rastlosigkeit. Nach dem Abbruch des Jurastudiums war er mehrere Jahre ziellos umhergestreunt und hatte von der Hand in den Mund gelebt. Das Bild einer verschlafenen Insel – rostige Klapptische mit duftendem Kaffee und salzige Meeresluft – drängte sich zwischen die tropfnassen Auslagen der Häuserzeilen.

Der Eindruck des Wohnviertels war bei Tag noch deprimierender. Ein Konglomerat aus verfallenden Häusern und Siebzigerjahre-Zweckbauten. Zweimal um die Ecke hingegen, in der belebten Mariahilfer Straße, gaben Teenager in ihren Freistunden das Taschengeld in coolen Shops aus. Hier aber konnte man vom Alles-ein-Euro-Laden über den chinesischen Supermarkt bis zum Massagesalon Tina und Erich – der ein spezielles „für dich“ Verwöhnservice anbot – hauptsächlich das finden, was einen stetig anhaltenden Abstieg bedeutete. Nur vereinzelt kämpften die einst angesehenen Gewerbebetriebe und skurrilen Fachgeschäfte trotzig ums Überleben.

Orsini kam an derselben Stelle vorbei, wo er sich am Abend zuvor den Schuh mit Wasser angefüllt hatte. Eigentlich wollte er nach den Obdachlosen suchen, was zurzeit jedoch kaum möglich war, da ein Betonmischwagen genau die Einfahrt verstellte. Rundum herrschte hektische Betriebsamkeit, und der Schmutz hatte sich durch den nächtlichen Regen nur noch mehr verteilt. Nur notdürftig war eine Klarsichthülle, in der ein Formular steckte, an ein faseriges Holzbrett genagelt. Niemand nahm von ihm Notiz, als er es hervorzog und sich die Namen zweier Immobilienfirmen mit dazugehörigen Adressen aufschrieb. Mit klammen Fingern steckte er den Stift in die Tasche.

Vor dem Nebenhaus, das auf beiden Seiten von Baustellen in die Zange genommen wurde, blieb Orsini stehen. Hier war Sophies Vater, Heinrich Novak, bis vor Kurzem noch ein- und ausgegangen. Ein alter Mann am Ende seines Lebensweges. Wegen eines bisschen Bargelds hatte man ihn um die letzten Jahre gebracht.

Angestrengt blickte er durch das schmutzige Glas auf fein säuberlich aufgereihte Quasten, Fransen und Schnüre in verblichenen Farben. Verstaubte Knöpfe und Reißverschlüsse lagen ordentlich auf einer Ablage. Orsini erkannte den gewissen, nicht mehr zeitgemäßen Stolz des Gewerbetreibenden auf Waren, die kaum mehr jemand brauchte. Der Raum dahinter, in dem die Leiche gelegen haben musste, war kaum zu sehen.

Von der einfachsten bis zur güldnen Schnür, alles macht der Posamentier, stand in matten silbernen Lettern auf einem Schild über der Tür. Reimt sich nicht ganz, dachte er im Weitergehen, wich einer tierischen Hinterlassenschaft aus und landete vor einer überdimensionalen Werbefläche. Die offiziellen Daten der Firmen waren in einer Ecke verschämt winzig angegeben. Der Slogan „Wir halten was wir versprechen – Immotreu“ hingegen knallte in auffälligem Rot quer über das Plakat.

Auf dieser Baustelle machte die Belegschaft gerade Pause. Orsini blickte in den hinteren Teil der Liegenschaft. Der Hof war angefüllt mit Bauwerkzeugen und Gerümpel aller Art: Mischmaschinen, eine Tischkreissäge, Teile von Gerüsten. Der Regen und der dadurch aufgeweichte Boden hatten eine Art Miniteich entstehen lassen – ideale Bedingungen fürs Schlammcatchen – Müllsäcke, Essensreste und leere Dose lagen in einer Ecke. Ein unangenehmer Geruch erfüllte wie bei der ersten Baustelle die Luft. In einem Baucontainer saßen Arbeiter, machten sich über ihre Verpflegung her und ließen den Bierkonsum nicht zu kurz kommen. Auf einem weiteren Container klebte ein Schild mit der Aufschrift Büro. Beide waren in demselben Knallrot gestrichen und wirkten wie eine irrtümlich abgestellte Skulptur inmitten der verzweigten, durch Zäune und niedere Mauern voneinander abgetrennten alten Hinterhöfe. Bewohner waren keine zu sehen. Einzig eine Katze trippelte vorsichtig über den betonierten Teil des Hofes und verschwand hinter einer Tonne. Orsini umrundete die Container, bemerkte eine weitere Baustelle an der gegenüberliegenden Seite und links darüber einen begonnenen Dachausbau. Rechts davon, hinter einem grasbewachsenen Hügel verstellte eine etwas höhere Mauer die Sicht.

Orsini schnappte sich einen herumliegenden Sessel, stellte sich auf das wackelige Ding und spähte über die Mauer. Nebenan lag ein gepflegter Garten, offensichtlich zur angrenzenden Pfarre gehörig. Säulen aus Granit, eine mit Moos bewachsene Statue und alte Rosenhecken. Es war eine kleine Idylle mitten in der Stadt.

Weniger idyllisch war hingegen der Mann, der lautstark gestikulierend auf ihn zukam.

„Heee! ... was machen Sie hier? Haben S’ die Schilder ned gsehn!? Eintritt verboten!“ Er zog das „o“ in die Länge, als müsste er einem Debilen das Alphabet erklären. „Das ist eine Baustelle, verschwinden Sie, aber rasch, sonst gibt’s eine Anzeige!!“

„Wegen Hausfriedensbruch, oder was?“ Betont langsam stieg Orsini vom Stuhl.

Den Mann brachte das nur noch mehr in Rage. „Arschloch“, zischte er und trat gegen den Stuhl. Kurz bevor das Gespräch zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung eskalierte, stürzte aber ein Mann mit gelbem Schutzhelm auf dem Kopf aus dem zweiten Container.

„Hans, geh sofort an die Arbeit! Den Herrn hier übernehme ich, ich weiß wie man mit solchen Leuten umgeht!“, befahl er. Hochgewachsen und hager, richtiggehend ausgemergelt baute er sich vor Orsini auf. Unter dem übergroßen, gelben Helm setzte sich dieser Eindruck fort. Dünne, tiefe Falten durchzogen das Gesicht und eine spitze Adlernase verlieh dem Blick etwas Scharfes.

Ing. E. Baswal, konnte Orsini auf einer kleinen, am Revers der Arbeitskleidung angebrachten Metallplankette lesen, natürlich in der gleichen Farbe wie der auf den Containern und den Werbetafeln.

„Corporate idendity“, verkniff Orsini es sich nicht, sein knöchriges Gegenüber zu provozieren, indem er auf das kleine Schild deutete. „Ingenieur E. Baswal, den Namen muss ich mir merken, falls ...“

„Ich fordere Sie hiermit auf, diese amtlich registrierte Baustelle sofort zu verlassen und mit sofort meine ich jetzt! Ansonsten ...“ Der Ingenieur unterbrach den Satz, um sein Handy aus der Tasche zu holen. Anstatt die Polizei zu rufen, trat er allerdings schmallippig lächelnd näher und schoss ein Foto von Orsini.

„Hobbyfotograf, hm ...? Ich versteh nicht, wieso ihr hier alle so nervös seid – ich wollt mir eigentlich nur den hübschen Hof anschauen.“ Übertrieben gemächlich begab Orsini sich auf den Rückzug und schlenderte Richtung Ausgang. Im Vorübergehen besichtigte er noch ausgiebig einen Sandhaufen und eine Mischmaschine. Beiläufig provozierte er weiter: „Sind hier vielleicht illegale Arbeiter beschäftigt?“

Eisiges Schweigen. Die steilen Falten über der Nase des Ingenieurs vertieften sich noch um einige Millimeter, bis er schließlich zwischen geschlossenen Zähnen hervorstieß: „Das nächste Mal pfeif ich den Hans nicht mehr zurück!“ und Orsini stehen ließ.

„Wiederschauen, Inge Baswal!“, rief Orsini ihm nach, als er an dem Container mit den Arbeitern vorbeiging. Noch von der Straße konnte er daraufhin aus dem Container schallendes Lachen hören, das jedoch nach einem herrischen Kommando abrupt aufhörte.

Im einstöckigen Gründerzeithaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein Geschäft mit der Aufschrift „Werkzeuge und Waren aller Art“. Daneben eines, das Polier- und Schleifmittel anbot. Verachtet mir die Meister nicht und ehret ihre Kunst, stand auf einem grauen Karton, der an die Scheibe geklebt war. Jemand hatte einen Stein in die Auslage geworfen, das Glas war sternförmig zerborsten und mit schwarzem Klebeband nur behelfsmäßig geflickt. Der Stein lag immer noch da – allein.

Orsini beschloss, den Werkzeugen und Waren aller Art einen Besuch abzustatten. In der bis auf den letzten Quadratzentimeter angefüllten Auslage hatte es Orsini das ihm besonders praktisch erscheinende „Traveller-Set“ bestehend aus Taschenlampe, Rasierer und Ventilator in einem angetan. Gerade als er eintreten wollte, näherte sich eine alte Dame mit einem ebenso betagten Hund und steuerte auf das Geschäft zu. Orsini schätzte sie auf mindestens achtzig. Die Leine hatte sich um das Hinterbein des Tieres gewickelt, deshalb humpelte er auf nur drei Beinen dahin. Direkt vor dem Eingang hielt die Dame also an, entwirrte mit zittrigen Händen umständlich das Lederband und richtete sich mit einem Griff aufs Kreuz ächzend auf.

Die Witwe Bolte mit ihrem Spitz, dachte Orsini, kam ihr rasch zuvor und hielt ihr galant die Tür auf. Drinnen zeigte das daraufhin hell erklingende „Ding Dong“ allerdings keine Wirkung. Der kleine Lautsprecher oberhalb der Eingangstür hatte sich erfolglos abgemüht. Niemand erschien. Und auch nachdem die Tür krachend zugefallen war, regte sich nichts.

„Findet man nicht oft, dass jemand noch solche Manieren hat“, nützte die Witwe Bolte die Warterei und griff sich beinahe kokett an die violettstichig gefärbten Haare.

„Aber das ist doch eine Selbstverständlichkeit,“ entgegnete Orsini, wohl wissend, dass sie recht hatte.

„Nein wirklich, das erlebt man in meinem Alter nicht mehr sehr oft, früher ...“

„Wohnen Sie denn hier?“, fragte Orsini möglichst beiläufig.

„Ja, leider ... in meinem Alter und mit meiner Pension sind keine großen Sprünge mehr möglich. Wenn ich nämlich könnt, wie ich wollt, wär ich ja schon längst weg aus der Gegend! ... Früher hat’s hier ganz anders ausgschaut, müssen S’ wissen.“

„Ahja, wie denn?“, bereute Orsini augenblicklich die Frage und stellte sich auf eine lange Antwort ein.

„Wie ...“, zog sie das Wort in die Länge und hob gleichzeitig die linke Augenbraue. „Na, nicht so heruntergekommen wie jetzt. Das war früher eine ehrenwerte Gegend! Aber jetzt ... verfalln, zugsperrt oder“, ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern „in ausländischer Hand. Schaun Sie sich um, nur mehr herumlungerndes Gsindel und der ganze Dreck! Junger Mann, wissen Sie überhaupt wie man die Gegend früher gnannt hat?“

„Nein.“

„Brillantengrund!“

„Brillantengrund“, wiederholte er und begann gleichzeitig nachzudenken, warum er den Namen kannte.

„Genau, Brillanten- oder Diamantengrund. Aber nicht weil irgendwelche Steine da gfunden worden sind, sondern weil die ansässigen Stoff- und Seidenfabrikanten so reich warn. Ganze Straßenzüge habn denen da ghört. Und von unserm Bezirk aus haben s’ die ganze Monarchie beliefert. Bis in den letzten Winkel.“

„Jetzt gibt’s aber keine mehr“, wandte Orsini ein.

„Nein schon lang nimmer, die Fabriken sind ja schon seit der Jahrhundertwende weg und der letzte größere Handwerksbetrieb, der hat zugsperrt ... warten S’ ... das muss gwesn sein ... na! ... Na wie dieses ... dieses Lied da aufkommen is und die Gegend in Verruf bracht hat.“

„Ja, mein Vater war ein Hausherr und ein Seidenfabrikant ...“, sprach Orsini ihr die ihm bekannte Textzeile vor, um ihr behilflich zu sein. Unwirsch wurde er von der alten Dame, die er nun nach näherer Betrachtung auf zumindest neunzig schätzte, unterbrochen.

„Nicht das, das andre, das mit dem grauslichen Text ... dass mir das nicht einfällt! Herrgottsakra! Vergesslich wird man langsam.“

„Viellei...“, wollte Orsini behilflich sein.

„Nix vielleicht!“, summte sie mit geschlossenen Augen vor sich hin. „Unterbrechn S’ mich net, ich hab’s glei ... die alte ... genau ... das mit der Engelmacherin.“

„Ach so, Sie meinen ,die alte Engelmacherin vom Diamantengrund’ von Bronner und Qualtin...!“

„Haaallo!!“, rief die alte Dame unvermittelt mit empörter Stimme nach hinten ins Geschäft und unterbrach Orsini.

„Das muss so Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger gewesen sein“, fuhr Orsini fort und hatte sofort die eingängige Melodie dazu im Kopf. Textlich kam er zwar nicht über die erste Zeile hinaus, konnte sich aber noch an den makabren Inhalt – illegale Schwangerschaftsabbrüche – erinnern.

„Grauslich, nicht wahr? Auf jeden Fall“, fuhr sie nach einem Seufzer fort, „hat um die Zeit herum der Abstieg begonnen, und ich hoff, es geht nicht noch tiefer. Ich weiß schon gar nicht mehr, wo ich mit meinem Hund hingehen soll. Ist übrigens ein Spitz, ganz a seltene Rasse. Nur mehr am Kinderspielplatz ist es noch einigermaßen sauber und der Oskar braucht einfach seinen täglichen Auslauf.“

Aus den hinteren Räumlichkeiten waren auf einmal Geräusche zu vernehmen. Dann sich nähernde Schritte eines offenbar aus dem Schlaf gerissenen Verkäufers mit einem mürrischen Ausdruck im und einem Abdruck auf dem Gesicht. Er war mittelgroß und etwa Mitte fünfzig. Seine blässliche Gesichtsfarbe und der verschlissene Arbeitsmantel hatten sich über die Jahre offensichtlich dem im Geschäft vorherrschenden Farbton angepasst.

„Grüß Gott, was kann ich für Sie tun?“, fragte er mürrisch. Mit einem für sie wohl zu leisem „Schon wieder!“ wandte er sich der Dame zu.

Während sie nun zu einer langwierigen Erläuterung ­ihres Anliegens ansetzte, fischte der Verkäufer einen kleinen schwarzen Kamm aus der Brusttasche und fuhr sich langsam durchs strähnige Haar. Es war mit Duftwasser eingelassen, registrierte Orsini und machte einen Schritt zurück. Endlich war die Dame mit ihren Ausführungen zu Ende, was den Verkäufer zu einem hörbar tiefen Ausatmen bewog. Genervt packte er drei Schrauben in einen kleinen Papiersack, verlangte einen in Orsinis Augen völlig überhöhten Preis und überreichte ihn der Kundin mit den Worten: „Bis bald, Gnädigste!“

Mit einem Nicken wandte er sich Orsini zu, der gerade überlegte, welches Werkzeug er kaufen sollte.

„Treue Kundin“, meinte Orsini, nachdem die Witwe Bolte samt Spitz verschwunden war.

„Ja, aber hoffentlich nimmer lang“, bemerkte der Verkäufer trocken, dass es Orsini beinah die Sprache verschlug.

„Ich ... äh ... bräuchte eine ... eine ... Kombizange bitte.“

„Klein, mittel, groß, Billigware oder Qualitätsprodukt,“ kam es monoton zurück.

„Normal günstig halt, aber doch Qualität.“

„Möcht jeder haben, gibt’s aber nicht.“

„Dann eher Qualität, wenn’s nicht zu teuer ist ... und könnt ich sie mal sehen?“

„Kommen S’ mit, der Herr.“

„Sagen Sie, ... wird hier in dieser Straße schon lange so viel gebaut und renoviert?“

„Wieso ... ja, warum wolln S’ das wissen?“

„Na ja, ... weil ich mich für eine Wohnung interessiere“, log Orsini. „Die Preise sind hier wahrscheinlich noch nicht so hoch wie in anderen Gegenden, wissen Sie zufällig, was hier für eine mittelgroße Wohnung verlangt wird?“

„Über Preise kann ich Ihnen nichts sagen, aber dass hier z’viel und z’lang gebaut wird, das kann ich Ihnen schon sagen.“ Ein nervöses Zucken hatte sich seines linken Augenlids bemächtigt.

„Aha.“

„Ja, und da steckt Absicht dahinter. Umso länger baut wird, umso mehr Alteingsessne gehn weg, unfreiwillig. Die Häuser, die da renoviert werdn, ghören doch nur einer Handvoll Firmen, die machn sich die Preise untereinander aus, wenn S’ mich fragen. Die haben ja sowieso schon fast alles an sich grissn. Wie’s uns geht, ist denen doch völlig wurscht. Hauptsach, die Marie im Geldbörsl stimmt“, machte er ein Zeichen mit den Fingern. „Die rote oder die blaue?“

„Wie bitte, ... ach so, Sie meinen die Zangen. Ich glaub ich nehm die rote, wenn Sie mir die empfehlen.“

„Würd ich auch nehmen, ist nämlich nicht aus Fernost.“

„Sagen Sie, diese Immobilienfirmen, Immotrade oder Immotreu oder wie heißt die nochmal ...“

„Immotreu ... sind die Ärgsten“, begann der Verkäufer mit erhobener Stimme zu schimpfen. „Die! Die lassn den ganzen Dreck absichtlich liegn! Ich sag Ihna was, ... der Baulärm, der Gstank von die LKWs und der Dreck, des halt niemand länger aus, schon gar net, wenn a Familie Kinder hat! Das gibt ihnen den Rest. Ham ja kan Platz zum Spieln. Und jetzt gibt’s natürlich auch noch Krieg unter die Bewohner.“ Erregt zog er die Augenbrauen eng zusammen und fixierte Orsini, das Lid zuckte dabei immer heftiger.

„Krieg?“

„Klar, Krieg! Auf dem winzign Spielplatz vurn, da trifft sich jetzt alles. Und, wenn ich sag alles, dann mein i alles. Ist außerdem zugschissn von die liebn Hunderl.“ Mit Präzision imitierte er die Witwe und ihren Spitz.

„Das kann ich mir vorstellen“, kam Orsini überraschend doch wieder zu Wort. „Und wird hier auch eingebrochen?“

„Davon könn ma a Lied singn, aber bei uns gibt’s ja net mehr wirklich viel z holn. Macht neunzehn Euro neunzig ... Vor einer Wochn zirka, hat’s sogar an Mord gebn.“

„Einen Mord?“

„Angeblich Raubmord ..., Sie fragn aber ganz schön viel – Sie san doch net etwa von der Presse und horchn mich aus?“

„Nein, nein, ich bin nicht von der Presse, aber wenn ich diese Geschichten von Ihnen so höre, werde ich mir doch eine andere Wohngegend suchen müssen.“ Um den Mann abzulenken, legte Orsini ihm die zwanzig Euro auf den Tresen, sagte: „Wer wurde denn ermordet?“

„Na, der alte Posamentenhändler“, antwortete der Verkäufer in abfälligem Tonfall.

„Wer macht so was?“

„Angeblich obdachloses Gsindl.“

„Warum angeblich?“

„Weil ... na ja, ich will ja nix Schlechtes sagen, aber wenn S’ den Alten kannt hättn und dem seine Familie ...“

„Stimmt schon“, erwiderte Orsini, nahm die Kombizange und fuhr möglichst beiläufig fort, „was ist denn mit der Familie?“

Ein lautes „Ding Dong“ unterbrach jedoch Orsinis Bemühungen, von dem Verkäufer mehr zu erfahren. Die Witwe Bolte hatte dem Anschein nach etwas vergessen. Ohne eine Antwort abzuwarten ergriff Orsini die Flucht.

„Bitte net scho wieder“, hörte er noch die verzweifelte Stimme des Verkäufers.

Der Posamentenhändler

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