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Beim Theater für den kleinen Mann, dem Volkstheater, stieg Orsini aus der U-Bahn, um das letzte Stück zu Fuß zu gehen. Von hier ging es leicht bergauf. Die Anhöhe war ursprünglich landwirtschaftlich genutzt worden und gehörte einst zum Wiener Bürgerspital, weshalb sie auch Spitalberg und danach, im Volksmund, Spittelberg genannt wurde. Die damals billigen Gründe zogen zuwandernde Slowaken und Kroaten aus den Kronländern an und so wurde die Gegend bald auch „Krowotendörfel“ genannt. Seinen „besonderen“ Ruf erhielt der kleine Hügel aber erst unter Kaiser Joseph II. Denn fast jedes Haus hatte die sogenannte Schankberechtigung, was nichts anderes bedeutete, als dass in den Hinterzimmern die Prostitution blühte. Im Unterschied zur feinen Innenstadt gingen hier nicht die „Grabennymphen“, sondern die sogenannten „Bierhäuslmenscher“ ihrem Gewerbe nach. Eine Immaculata-Figur, die Statue der unbefleckten Empfängnis, gab es aber hier genauso wie im feineren ersten Bezirk.

Eines der verrufensten Lokale jener Zeit war der Gasthof „Zum weißen Löwen“. Selbst der Kaiser soll eines schönen Tages, nachdem er die berühmt-berüchtigte „Sonnenfels-Waberl“ beglückt hatte, aus dem Lokal geflogen sein. Noch heute erinnert eine Inschrift im Gewölbe des Flurs an diese Begebenheit.

Orsini ging an all dem vorbei und stand kurz darauf vor einem Geschäft. „Vladimir Tandler, Altwaren und Kunstgegenstände“, prangte in goldenen Lettern auf schwarzem Grund auf einer verglasten Tafel über dem Geschäftseingang. Das Gold blätterte an manchen Stellen ab und die Farbe zeigte Risse. Die Auslagenscheiben waren im unteren Drittel vom Kondenswasser angelaufen. Seitlich an den Schaufensterwänden hingen alte Ölbilder in kunstvoll verzierten Rahmen. Die Ablage darunter war angefüllt mit allen möglichen und unmöglichen Gegenständen, die ein Sammlerherz zumindest neugierig machten. Neugierig auf das Innere – das war ja auch der Zweck. Nicht ganz so herausgeputzt wie ähnliche Geschäfte in besseren Lagen, auf jeden Fall aber standesbewusst.

Orsini öffnete die verglaste Eingangstür, trat ein und sah sich um. Nur Sekunden später wurde ein roter Vorhang beiseitegeschoben und ein kleiner, drahtiger, alter Mann kam aus dem Nebenraum, nahm einen dicken Zigarrenstummel aus dem Mundwinkel und sagte: „Grüß Gott, kann ich Ihnen helfen?“

Orsini erwiderte den Gruß, studierte mit gespieltem Interesse ausführlich eines der Bilder und suchte nach einem Einstieg.

„Sie haben aber einen passenden Namen!“, meinte er endlich.

„Wieso?“

„Sind Sie denn nicht Herr Tandler?“, fragte Orsini, „Na ja, Tandler ... und Altwarentandler.“

„Das ist mir noch gar nicht aufgefallen, Sie sind der Erste, der das bemerkt hat“, entgegnete der Altwarenhändler lapidar. Nachdem er Orsinis peinlich betretenen Gesichtsausdruck eine Weile genossen hatte, fuhr er fort: „Pardon, jetzt schauen Sie nicht gleich so betroffen, was glauben Sie, wie oft ich das schon gehört habe? Da überlegt man sich halt verschiedene Antworten.“ Er lächelte verschmitzt in seinen spitzen grauen Bart. „Darf ich Sie nach dem ausgestandenen Schrecken wenigstens auf einen Kaffee einladen? Er steht noch hinten auf der Platte, Sie können sich ja einstweilen im Geschäft umsehen.“

Orsini fühlte sich von dem Alten durchschaut. Jahrzehntelange Erfahrung mit unterschiedlichsten Käufern strahlte aus seinen Augen, denen man kaum mehr etwas vormachen konnte. Runde, verbogene Nickelbrillen, ein leicht verschlissener Anzug, graue, aber immer noch lockige Haare und ein rostrotes, ungebügeltes Hemd mit Flecken darauf. Die gesamte Erscheinung spiegelte in etwa den Inhalt des Geschäftes wider.

„Ein Kaffee wäre nicht schlecht, wenn Ihnen das nicht zu viel Umstände bereitet.“

„Was denn für Umstände?“ Der Altwarenhändler zog sich wieder in den Nebenraum zurück. „Sie trinken doch türkischen?“

„Ja natürlich, gerne sogar“, bekräftigte Orsini. „Ausgefallene Sachen haben Sie da.“

„Mit Zucker?“

„Ja, aber wenig bitte.“

Der Händler kam mit einem fein ziselierten Tablett zurück und stellte es auf einen alten, runden, marmornen Kaffeehaustisch. Er setzte sich und forderte Orsini mit einer Handbewegung auf: „Holen Sie sich irgendeinen Stuhl, das Jahrhundert dürfen Sie sich aussuchen!“

Orsini entschied sich für einen kunstvoll geschwungenen Bugholzsessel mit gepolsterten Armlehnen. „Gute Wahl, solides Stück, wurde ab 1859 gebaut. Der Rahmen – aus massiver Buche. Unter Dampf gebogen und dann in Form gebracht. Ein Original, wurde hier in unserer Stadt produziert. Eigentlich eine Okkasion.“ Mit einem wissenden Lächeln betrachtete der Alte den Sessel und fuhr dann verärgert fort: „Leider hat irgendein stupider Mensch an den Armlehnen diese grässlichen Auflagepolster angebracht. Was sage ich angebracht! Dieser Banause hat durch das Holz gebohrt und sie von unten verschraubt. Das muss man sich einmal vorstellen!“ Feine Äderchen zeichneten sich an seiner Schläfe ab. „Mit billigen Schrauben aus dem Baumarkt noch dazu. Ein Sakrileg ist so was! Dieser Kretin gehört – nein, ich will’s gar nicht aussprechen.“ Zwei kleine, zornige Augen hinter Gläsern starrten Orsini für einen winzigen Moment an. Der Altwarenhändler hatte sich aber sofort wieder unter Kontrolle und fuhr sich durch die gewellten Haare. Dann nahm er mit ruhiger Hand seine Schale vom Tablett und trank vorsichtig einen Schluck. „Ist Gott sei Dank ein Meisterwerk, das bringt auch der größte Pfuscher nicht um.“

„Zudem sitzt man auch recht komfortabel“, antwortete Orsini, um die Situation wieder zu entspannen, „und das ist doch eigentlich das Wichtigste, oder?“

„Nicht immer, ich glaube, Sie können Ihren Kaffee jetzt trinken, er sollte kühl genug sein.“

„Haben Sie ihn denn auch dreimal aufgekocht?“, trieb Orsini ihr Geplänkel spitzbübisch weiter.

„Alles andere wäre ja ein Affront dem Kaffee gegenüber“, entgegnete der Händler und hob gleichzeitig die linke Augenbraue.

Warum fragt er eigentlich nicht, was ich hier will? Scheint ihm völlig egal zu sein.

„Die Baustelle vor Ihrem Haus, beeinträchtigt die das Geschäft eigentlich sehr? Oder haben Sie sowieso nur Stammkunden, denen das nichts ausmacht?“, fragte Orsini nach einer längeren, fast peinlichen Pause.

„Es beeinträchtigt hauptsächlich mich. Erstens meine Gesundheit, durch den vielen Staub, und glauben Sie mir, junger Mann, es geht mit der Zeit aufs Gemüt.“

„Konnte ich bis jetzt aber nicht feststellen.“

„Schaun Sie sich nur um, alles verstaubt! Jeden Tag könnte man mit dem Putzen von vorne anfangen. Die reinste Sekkatur von diesen ... diesen Künettengrabern. Die gehören alle unter Kuratel gestellt, diese Bagage! Und der Dreck vor dem Laden! Vom Geschäftsentgang will ich gar nicht reden, wenn ich meine Stammkunden nicht hätte ... Pardon, dass ich mich so ... echauffiere, aber diese ...“

„Haben Sie denn schon überlegt zu verkaufen?“

„Sie meinen, weil die Immobilienfirmen hier alles akquirieren? Ob ich schon Angebote bekommen habe? Die Pestilenz soll sie holen! Nicht nur eines – wissen Sie, was die aus meinem Geschäft machen würden?“

„Nein, was denn?“

„Eine Garage, ... eine große Garage! Können Sie sich das vorstellen? Aus meinem schönen Geschäft eine Garage für diese neureichen Finanzhasardeure, die dann im Dachgeschoß oder was weiß ich wo wohnen. Womöglich noch mit einer dieser hässlichen Badewannen obenauf ... Wie heißen diese Luftblasen absondernden Abscheulichkeiten noch?“

„Whirlpools?“, entgegnete Orsini unsicher.

„Genau Wörlpuuls“, dehnte der Altwarenhändler das Wort verächtlich. „Alleine der Name stößt einem unangenehm auf.“

„Aber wenn der Preis stimmt, könnte Ihnen das doch egal sein“, legte Orsini nach.

„Ist es aber nicht“, erwiderte der Händler aufgebracht.

„Haben Sie denn schon verhandelt?“

„Natürlich habe ich mit Ihnen geredet, oder verhandelt, wie Sie das auch nennen wollen.“

Also doch Garage, sofern der Preis stimmt – wie immer also, stellte Orsini fest.

„Allerdings mit denen ... mit denen gibt es kein Verhandeln, die diktieren den Preis, und wenn einem der nicht passt, probieren sie es anders.“

„Was meinen Sie mit probieren sie es anders?“

„Unrat vor der Tür, eine eingeschlagene Fensterscheibe oder ein Wasserrohrbruch – das sind die Pastellfarben auf ihrer Palette. Danach kommen die kräftigen Töne. Einschüchterungsversuche mit Rechtsanwälten, Drohungen und zuletzt auch körperliche Gewalt.“

„Das heißt, Sie ...“

„Junger Mann, kennen Sie das Sprichwort mit dem alten Baum?“

„Natürlich.“

„Dann verstehen Sie ja. Die Zeiten haben sich eben geändert, das muss man akzeptieren. Ich möchte auch keineswegs in den vielstimmigen Chor der Früher-war-alles-besser-Sänger einstimmen. Aber von hier weg ...“ Mit einem Blick auf Orsini trank er danach zuerst einen Schluck, steckte dann den Zigarrenstummel wieder in den Mund und zündete ihn an. Seine Hände zitterten dabei leicht. „Sogar einen Mord an einem Geschäftsmann hat es hier kürzlich gegeben.“

„Einen Mord?“

Der Altwarenhändler stieß ein Rauchwolke aus, ließ dadurch eine Pause entstehen und verlieh der nachfolgenden Frage somit mehr Gewicht.

„Ja“, er sah Orsini direkt in die Augen, „deswegen sind Sie doch hergekommen, oder?“

Orsini hatte das ungute Gefühl, vorgeführt zu werden. Er durchschaut mich wie seine gläserne Eingangstür ... Aber noch bevor Orsini etwas erwidern konnte, fuhr der Händler fort und wieder hatte er das gleiche schlaue Lächeln auf den Lippen, wie schon zuvor. „Sie brauchen keine Angst zu haben, ich nehme Ihnen Ihren Kaffee schon nicht weg, nur weil Sie für eine Zeitung arbeiten! Welche ist mir übrigens völlig egal. Obwohl – Qualitätszeitung wäre mir schon lieber.“ Er nestelte umständlich an seinem Anzug herum und trank einen Schluck aus der winzigen Tasse. Offensichtlich genoss er diesen Moment der Überlegenheit. „Wirklich, Sie können ruhig sitzen bleiben, ich konversiere gerne mit Journalisten. Außerdem sind Sie nicht der Erste aus dieser – verzeihen Sie den Ausdruck – Meute, und die Polizei war auch schon bei mir.“

Die gläserne Eingangstür hatte zumindest einen Fleck ..., war Orsini erleichtert, dass der alte Händler zumindest nicht alles über ihn erraten hatte, und versuchte einen Schuss aus der Hüfte: „Ich habe gehört, Sie waren der einzige Freund des ermordeten Heinrich Novak, stimmt das?“

„Von wem haben Sie das?“

„Hört man eben so.“

„Kann’s mir schon denken, egal, aber ja, es stimmt wahrscheinlich auch. In unserem ... meinem Alter, verringern sich die Freunde leider auf natürliche Weise, bis man dann irgendwann plötzlich sein einziger Freund ist.“ Nachdenklich schaute der Händler an Orsini vorbei auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne, zog an der Zigarre und blieb danach still.

„Das heißt, Sie und der Verstorbene waren ungefähr ... gleich alt?“

Ein Moment verstrich, bis sich der alte Händler wieder gefangen hatte. „Ja fast, er war um ein Jahr älter, ist 1924 geboren.“

„Kannten Sie einander schon lange?“

„Lange ..., lassen Sie mich überlegen.“ Es entstand eine kurze Pause. „Eigentlich erst seit ich mein Geschäft hier eröffnet habe.“

„Wann war das?“

„In den Sechzigern, einundsechzig, um genau zu sein.“

„Kannten, ich meine kennen Sie auch seine Familie?“

„Natürlich, die wohnen ja gleich um die Ecke, gegenüber der Kirche, und ich war eine Zeit lang wie ein Onkel zu den Kindern. Als die zwei Töchter ausgezogen sind, ist das dann langsam abgeflaut. Seit Heinrich nicht mehr ist, lebt nur noch Karl mit seiner Mutter in der Wohnung. Judith, das ist Heinrichs Frau“, erklärte er weiter, „geht es ja schon seit Jahren nicht gut. Wenn ihr Sohn nicht wäre, müsste sie sicher in ein Sanatorium, so schlecht steht es um sie“, fügte er noch gedankenverloren an.

Seit Heinrich nicht mehr ist – so vermied er wohl das Wort gestorben oder tot. Verständlich in seinem Alter, dachte Orsini, um dann zu sagen: „Aber um Sie mache ich mir keine Sorgen, Sie sehen höchstens aus wie siebzig und scheinen mir bei bester Gesundheit zu sein.“

„Gesund – gesund war Heinrich auch. Und dann das! Wer ist zu so etwas fähig, einen alten Mann und dann noch dazu, auf so grauenhafte Weise?“

„Die Polizei hat doch schon Verdächtige, oder?“

„Die Polizei, lesen Sie eigentlich Zeitung?“

Nicht schon wieder, dachte Orsini verzweifelt.

„Pardon, in Ihrem Fall würd ich verstehen, wenn Sie es nicht tun. Allerdings sehen Sie doch sicher fern?“

„Ja, gelegentlich“, antwortete Orsini, der nicht wusste worauf der Händler hinauswollte.

„Wenn Sie das also gelegentlich tun, dann müssten Sie bemerkt haben, dass es ein brutaleres Verbrechen gegeben hat. Drei Tote und jung dazu, glauben Sie wirklich, dass sich da jemand um einen alten Mann kümmert, der stranguliert wurde? Ein paar Süchtige als Verdächtige sind schnell zur Hand und der Fall ist nach ein, zwei Tagen nicht mehr in den Medien.“

„Da haben Sie nicht gänzlich unrecht, aber Sie haben eben von zwei Töchtern gesprochen …“

„Ja, Sophie und Anna. Sophie ist die ältere von den beiden“, murmelte der Händler vor sich hin, wie um sein eigenes Gedächtnis zu überprüfen, „ich habe alle zwei seit Jahren nicht mehr gesehen. Erst wieder vorige Woche bei der Beerdigung. Beide gleich hübsch wie die Mutter früher …“

„Gab es einen Grund, warum die beiden Töchter von zuhause ausgezogen sind?“

„Das Übliche eben ...“ Orsini registrierte ein leichtes Zögern. „Sie müssen wissen, Heinrich ..., Heinrich war eben ein Pedant. Er konnte nicht anders, vielleicht hing das mit seinem Geschäft zusammen. Darum hat er wahrscheinlich seine Erziehungsmethoden ... zu eng ausgelegt. Hören Sie, ich will nicht unhöflich sein“, schien der Alte plötzlich aus den Gedanken gerissen, „ich habe noch einiges zu erledigen. Sie können sich aber noch gerne weiter umsehen, wenn Sie wollen.“ Während er diesen Satz sagte, stand er auf und gab somit Orsini ein unmissverständliches Zeichen. Wie schon zuvor entstand eine für Orsini unangenehme Pause. Verlegen trank er den letzten Schluck aus der Tasse, erhob sich und brachte den Bugholzsessel an seinen Platz zurück. Der Altwarenhändler war unterdessen mit dem Tablett in den Nebenraum marschiert, ohne Orsini noch einmal anzusehen und wollte gerade den Vorhang hinter sich schließen.

„Wieso haben Sie eigentlich gewusst, dass ich nichts kaufen werde?“, fragte Orsini herausfordernd. Der alte Händler hielt den Vorhang in der Hand, schien zu überlegen und blickte in die Ferne und antwortete: „Es war die Art, wie Sie die Gegenstände betrachtet haben.“ Er zog den Vorhang zu und ließ einen verdutzten Orsini zurück.

Draußen stand Orsini grübelnd vor einer der beiden Auslagen und fixierte ein kunstvoll bemaltes, mehrteiliges Porzellanservice. In Gedanken saß er jedoch immer noch im Geschäft und versuchte das Gespräch und vor allem den Händler zu analysieren. Aber sosehr Orsini auch die filigran gemalten Figuren auf dem Service anstarrte, sie gaben keine Antwort, was Herrn Tandler mit dem außergewöhnlichen Vornamen Vladimir anlangte.

Der Posamentenhändler

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