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ОглавлениеVermutlich hatte das Posamentengeschäft einen Ausgang zum Hof, überlegte Orsini und trat zur Gegensprechanlage bei der Haustür. Jemand hatte offensichtlich mit einem schweren Gegenstand darauf eingedroschen, die Namensschildchen waren zerstört und die ganze Anlage hing in schiefem Winkel an einem dünnen Kabel herunter. Die Eingangstür selbst war mit einem großen, provisorisch wirkenden Vorhängeschloss versperrt. Offensichtlich war das normale Schloss ebenfalls defekt. Orsini besaß zwar einen Postschlüssel, den er immer bei sich trug, für ein Vorhängeschloss dieser Art, passte er aber nicht. Vergebens rüttelte er an der Tür und marschierte dann zur Einfahrt nebenan, die er tags zuvor schon inspiziert hatte. Doch es war noch zu früh, um von dort unbeachtet in die anderen Innenhöfe zu gelangen.
Zwei Arbeiter in Freizeitstimmung schlenderten an ihm vorbei. Er folgte ihnen, blieb neben der Kirche stehen und beobachtete, wie sie über die Kreuzung gingen und geradeaus weiterzogen. Illegale Beschäftige? Für einen Moment gewann der barbusige, höchst unchristlich präsentierte Inhalt einer Auslage den Wettstreit um sein Interesse. Als seine Augen wieder nach den beiden Arbeitern suchten, waren sie verschwunden. Dafür registrierte Orsini eine Frau, die ihn vorwurfsvoll anstarrte. Augenblicklich richtete er sich auf und studierte eindringlich das Magazin für Gartenkultur ein Fach darüber. Besonders die „heißen Wintertipps für Kübelpflanzen“ hatten es ihm angetan.
Die Auslage mit den Magazinen gehörte zur Trafik, eines der drei schmalen, wie an die Kirchenmauer angeklebten Häuschen. Das Tabakgeschäft war eingeklemmt zwischen einem Blumenkiosk und einem Würstelstand. Durch die gläserne Tür sah er zwei vollschlanke Kundinnen, die das winzige Kabäuschen praktisch ausfüllten und somit für Orsini keinen Platz zum Eintreten übrig ließen. Augenscheinlich unterhielten sich die beiden mit der Besitzerin, die er zwar gedämpft hören, nicht aber sehen konnte, prächtig. Doch gerade, als er beschloss, sich trotzdem in die Enge hineinzuquetschen, öffnete sich die Glastür und eine der Damen verabschiedete sich laut lachend. Orsini hielt ihr erleichtert die Tür auf.
„Ein echter Gent, ham S’ des gsehn? Ein Kavalier der alten Schule“, lobte die Trafikantin Orsini.
„Ich geh dann jetzt auch“, meinte die zweite Dame. Es blieb Orsini nichts anderes übrig, als die Tür – von innen nun eher linkisch – abermals zu öffnen, um die breite Dame durch die schmale Tür hinauszulassen.
„Sie wärn ein erstklassiger Türsteher und die Frauenherzen würden Ihnen auch noch zufliegn, aber Sie sind sicher schon verheiratet, oder?“
„Noch nicht“, entgegnete Orsini verlegen und hatte erst jetzt Zeit, einen Blick auf die Trafikantin zu werfen. Eine Erscheinung erster Klasse bot sich ihm, aufgedonnert war noch untertrieben: üppige dauergewellte, blondierte Haare, üppige rote Lippen, üppiges Make-up und üppige Figur, verpackt in ein nicht zu üppiges Kostüm. Alles in allem war ihr ein Hang zu Erotik und Barock nicht abzusprechen.
„Sie ... Sie sind nicht aus der Gegend?“, schaute sie Orsini fragend an. „Zumindest kann ich mich nicht erinnern, Sie hier schon einmal gsehn zu haben? Ich kann mich natürlich auch täuschen. Passiert mir zwar selten ...“
„Nein nein, Sie täuschen sich nicht, ich bin nur zufällig hier.“
„Sind Sie gar von der Polizei? Weil da warn in letzter Zeit immer wieder welche bei mir und haben sich Zigarettn gholt. Wie ein Polizist schaun S’ mir zwar eigentlich nicht aus, eher wie ein Anwalt vielleicht ...“
„Wieso Polizei, ist eingebrochen worden bei Ihnen?“, gelang es Orsini schnell einen Satz in die kleine entstandene Lücke zu zwängen.
„Einbrochn ... nein, wo denkn S’ denn hin! Die warn natürlich alle wegn dem Mord da. Schaun Sie denn in keine Zeitung? Allerdings, es passiert ja so viel, man derlest ja gar net alles.“
„Eigentlich lese ich schon ...“
„Der alte Herr Novak, mit einer Schnur stranguliert, müssn S’ Ihnen vorstelln! Und der alte Podlatschek hat ihn gfundn, grad wie er am Abend in die Kirchn gehn wollt. Ein schöner Anblick war des bestimmt net, des können S’ mir glauben! Ich wär auf der Stell ohnmächtig wordn und hätt mich direkt neben den Herrn Novak glegt ...“
Orsini versuchte kurz, sich dieses Bild vor Augen zu führen, wurde aber schon wieder unterbrochen.
„Und was des für die Familie heißt, gar nicht auszudenkn! Gut – den zwei Töchtern wird’s egal sein. Obwohl, wenn’s der eigne Vater ist?“
„Wieso glauben Sie, dass es den Töchtern egal ist?“
„Man sagt ja nix ... aber’s wird halt mal was gebn habn ... in der Familie. Ich weiß nur so viel, dass die zwei schon ganz jung auszogen sind von z’haus und sich schon seit Jahren nicht mehr haben blickn lassn. Undankbar is des schon, oder? Frag mich nur, ob die überhaupt beim Begräbnis warn? Der Herr Novak hat doch das Gschäft praktisch ganz allein gführt – sein Sohn, den kann man ja nicht direkt als Hilfe bezeichnen. Allerdings, um die Mutter hat er sich schon immer kümmert, des muss ma ihm lassen. Weil allein machn kann die nix mehr.
Ah, ... Grüß Gott der Herr, ein Packerl Zebra Export wie immer!“
Ein Mann hatte die Tür geöffnet und den Wasserfall an Worten aufgehalten. Kurz. Denn die Trafikantin gab ihm nur rasch eine Schachtel Zigaretten und war sogleich wieder in ihrem Element. „Zahln tun Sie ... aha, ... asso ... aha nächste Woche, ... is recht. Auf Wiederschaun ... Stelln S’ Ihnen vor, jetzt ist Monatsanfang und der hat jetzt scho ka Geld mehr! Wie das nur mit dem weitergehn soll? Aber wo war ich eigentlich stehn bliebn?! Wolln Sie eigentlich auch was kaufen? Vor lauter Redn hab ich das glatt vergessen.“
„Ich ... ich nehm dann ... auch eine Packung von diesen Export Zigaretten und zahle dann gleich, aber reden Sie trotzdem ruhig weiter“, erwiderte Orsini leicht genervt, gab ihr das Geld und dachte an Flucht.
„Na ja, leicht hat’s der Herr Novak wirklich net ghabt. Das Gschäft is schlecht gangen. Wer kauft heut noch Posamenten, frag ich Sie? Die Frau krank und mit einem Hang zur ... Bigotterie, wenn S’ verstehn was ich mein. Auf der andern Seite ... ein Pedant war der schon. Oft war er ja nicht bei mir herinnen, aber die paar Mal – Trinkgeld hat der keins daglassn, auch früher nicht, wie’s Gschäft noch gangen ist. Der hat sich ja jeden Groschen, jetzt heißt’s ja Zent, rausgebn lassen. Ein wirklicher Groscherlzähler halt. Einem Toten soll man zwar nix nachsagn, aber das mit der Genauigkeit und dem Sparen, des hat sogar der Vladimir gsagt ...“
„Vladimir?“, fragte Orsini erschöpft, aber auch neugierig, vor allem deswegen, weil er an den berühmten Vampir denken musste.
„Ja, der Vladimir, dem sein Gschäft, er handelt mit Altwaren und Kunst, geht ja auch scho lang nimmer gut. Und der Vladimir, des war immerhin dem Herrn Novak sein einziger Freund, schon seit ewig. Aber der lasst sich selbst heut nicht jedn Zent und Euro rausgebn, obwohl er’s brauchen würd. Des wär übrigens auch noch so ein Thema, der Euro und die EU und das Ganze, aber da werdn wir zwei bis morgen nicht fertig.“
„Scheint ja eine gefährliche Gegend zu s...“, setzte Orsini an, seine Redegeschwindigkeit war jedoch zu langsam.
„Ja, da haben S’ recht und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer! Bitte, über mein Gschäft kann ich das zwar nicht sagen. Weil“, senkte sie die Stimme, „gsoffn, graucht und na sie wissen schon was, wird immer. Aber den meisten in der Gegend geht’s wirklich net gut. Lebn ja nur mehr alte Leut da, oder die, die sich’s halt nicht leistn können wegzuziehn!“
Die Tür ging auf. Zwei Jugendliche in schwarzer Tracht und mit unzähligen Piercings und Ketten am Körper traten ein, was Orsini für einen Fluchtversuch nützte, sich aber trotzdem höflich verabschiedete. „Auf Wiedersehen, sollte ich wieder mal in der Gegend sein, ...“
„Ja, bis zum nächsten Mal, Wiederschaun.“
Bestand Orsinis Kunst normalerweise darin, die Leute zum Sprechen zu bringen, lag der Fall bei der Trafikantin gänzlich anders. Die Kunst hätte vielmehr darin bestanden, diesen lebenden Wortschwall aufzustauen und zu kanalisieren. Kopfschüttelnd musste Orsini sein Versagen auf ganzer Linie eingestehen. Wie benommen sah er sich nach einem Ort um, wo er eine Erholungspause einlegen konnte. Die Trafiktür wurde in dem Augenblick wieder geöffnet und die Jugendlichen verließen das Geschäft. Wieder schwappten Sätze aus dem Türrahmen und ergossen sich auf das Trottoir.
Das kleine Café, in dem er mit den beiden Kohlenhändlern gesprochen hatte, lag praktisch genau gegenüber. Nachdem er in der kleinen Nische beim einzigen Fenster Platz genommen hatte, kam auch schon der Kellner auf ihn zu. Es war derselbe, der ihn schon vor etwa einer Stunde bedient hatte.
„Tee mit viel Zitrone?“
„Nein, mit sehr viel Rum, den brauch ich jetzt.“
„So richtig gsund schaun Sie aber nicht aus!“
„... und, gibt’s vielleicht was zu essen?“
„Ein kleines Gulasch, Frankfurter oder einen Toast könnt ich Ihnen anbieten.“
„Ich nehm ... geben Sie mir das Gulasch, aber mit zwei Semmeln bitte.“
„Tee mit sehr viel Rum und ein kleines Gulasch mit zwei Semmeln, kommt sofort der Herr!“
Orsini blickte durch das kleine Fenster auf die Straße. Dass es mit der Gegend bergab und mit den Immobilienfirmen bergauf ging, war an sich noch kein krimineller Tatbestand, überlegte er. Selbst wenn der mit Bleistift eingefügte Betrag auf dem Anbot tatsächlich der Kaufpreis für Heinrich Novaks Haus war, bewies das noch gar nichts. Warum hatte der Alte dann nicht einfach verkauft, zumal die Geschäftslage ja alles andere als rosig zu sein schien? Das Haus war alt und renovierungsbedürftig, mit dem Betrag hätte sich der Händler einen schönen Lebensabend machen können. Das Einzige, was Orsini dazu einfiel, war Alterssturheit. Oder hatte Heinrich Novak verkaufen wollen, vielleicht sogar Gespräche geführt? Und sein Sohn Karl – welche Rolle spielte er, verschwieg er etwas? Orsinis Neugier richtete sich immer stärker auf die finanziellen Verhältnisse des Alten. Sophie Pfeifer war diesbezüglich erstaunlich uninformiert. Sie hatte ihm den Namen der Bank genannt, die früher Novaks Geld verwaltet hatte, jedoch hinzugefügt: „Ein alter Pedant wie er wechselt zwar nicht so schnell das Institut! Aber sicher bin ich nicht, ich hatte ja schon seit Langem keinen Kontakt zu ihm, vielleicht hat er irgendwo bessere Konditionen bekommen. In Geldangelegenheiten war er, na ja, mehr als knausrig, um nicht zu sagen geizig!“
Die Heftigkeit, mit der sie die letzten Worte betont hatte, hatte Orsini überrascht. Auch das Wort Pedant, bezogen auf den Alten, hatte er heute erneut gehört. Fünfundachtzig Jahre, hatte Sophie Pfeifer gesagt. Das hieß, zwischen zwei Weltkriegen geboren, Kindheit und Jugend während des Zweiten, schlimmstenfalls gerade noch an die Front geschickt. Wer wusste schon, was Heinrich Novak erlebt hatte ... Dem einzigen Freund, dem Altwarenhändler, würde er auf jeden Fall einen Besuch abstatten, unter Umständen hatte ja auch er Bekanntschaft mit Immobilienhaien gemacht oder zumindest mit dem Ermordeten darüber gesprochen.
„So, das kleine Gulasch mit zwei Semmeln, der Herr, und darf´s noch was zu trinken sein? Ein Tee noch?“, wurde Orsini plötzlich aus seinen Gedanken gerissen.
„Tee? Nein, bringen Sie mir bitte ein Bier, das passt besser zum Gulasch.“
„Ein großes Bier, kommt sofort!“
Das Gulasch schmeckte vorzüglich. Köchelt wahrscheinlich schon seit Tagen dahin, wie es sich gehört. Zufrieden sah Orsini um sich. Bis jetzt hielt sich außer dem Kellner und Orsini selbst nur ein stiller Zecher im Lokal auf. Der Mann hatte seinen Blick stur ins Glas gerichtet und die glasigen Augen verrieten seinen jetzigen, wahrscheinlich aber dauerhaften Zustand. Ruckartig ging die Tür auf, eine Gruppe Handwerker trat lautstark diskutierend ein und störte die Ruhe. Die Männer in ihren grauen Overalls verteilten sich an der Bar, wo Orsini vor Kurzem noch mit den beiden Kohlenhändlern gestanden war. Er schaute auf seine Uhr: knapp nach fünf. Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Hinter Orsini wurde es zunehmend lauter und der nächste Trupp betrat das Lokal. Der Kellner kam mit dem Aufnehmen der Bestellungen kaum nach und übersah deshalb auch Orsinis verzweifelte Handzeichen. Wieder öffnete jemand die Tür und binnen Kurzem war das Lokal angefüllt bis zum letzten Platz.
Das kleine Kaffeehaus schien der Afterwork-Treffpunkt des gesamten Viertels zu sein. Sauerstoff war jetzt Mangelware, denn ausnahmslos alle rauchten. Die geringe Kubatur des Raumes konnte den Rauch und die Ausdünstungen der Männer nicht aufnehmen und die geschlossene Tür verhinderte eine Zirkulation der Luft. Stickig war eine harmlose Umschreibung für die plötzlich herrschende Atmosphäre. Die Männer schien das nicht im Geringsten zu stören. In Orsinis Hals jedoch kratzte die Luft wie ein harter Scheuerlappen die Schleimhäute wund, bis er schließlich aus seiner Innentasche das Fläschchen mit den homöopathischen Kugeln holte und eine viel zu große Anzahl auf die Zunge rieseln ließ. Mit dem letzten Schluck Bier spülte er zusätzlich noch eine Grippetablette hinunter, knallte einen viel zu großen Geldschein auf den Tresen und verließ fluchtartig das Café.
Die kühle frische Luft tat gut, und auf den Baustellen war es nun tatsächlich ruhiger – keine Arbeiter, keine Bewohner und erstaunlicherweise: keine Obdachlosen. Nur die einsame Glühbirne verströmte wie schon vor zwei Tagen ihr düsteres Licht. Kurzentschlossen marschierte er unter der Glühbirne durch. Im Durchgang stank es immer noch erbärmlich nach abgestandenem Alkohol und Erbrochenem. Der Geruch von kaltem Schweiß auf ungewaschener Haut hing trotz der Kälte in der Luft. Verständlich, dass, wer konnte, diese Gegend verließ. Seitlich lagerte neben einer Mischmaschine und einem Stapel Ziegeln diverses Baumaterial. Im Vorübergehen schnappte er sich ein Stück Draht. Man konnte nie wissen ... Eine windschiefe Tür führte direkt in den Hof, provisorisch mit einem rostigen Nagel verschlossen. Der Nagel war schnell umgebogen, die Tür leise angehoben und zur Seite geschoben. Gerade so viel, dass Orsini durchschlüpfen konnte. Der mit Granitsteinen gepflasterte Hof lag nun im Halbdunkel vor ihm. Das wenige Licht, das aus den Fenstern fiel, reichte Orsini aus, um zu erkennen, dass eine kleine Mauer an das Haus anschloss. Behutsam schlich er am Gebäude entlang, bis er die Mauer erreichte. Auf Zehenspitzen stehend konnte er in den Nachbarhof blicken. Eine Reihe Sträucher und ein Baum – wie er in der Dunkelheit nur vermuten konnte – verhinderten allerdings die direkte Sicht auf die Rückseite des Posamentenladens. Weiter drüben trennte eine zweite, niedrigere Mauer wiederum den Innenhof des Hauses mit der Posamentenhandlung vom nächsten, in dem die beiden knallroten Baucontainer standen.
Aus einem der beiden Container fiel Licht. Inge muss Überstunden machen, dachte Orsini schadenfroh, eilte einige Schritte weiter zu einem in die Mauer eingelassenen, steinernen Waschbecken und prüfte die Stabilität. Er musste vorsichtig sein. Ein tastender Schritt auf den Rand des Beckens, ein Satz auf die Mauer, dann noch ein Sprung zur Erde und schon war er in Nachbars Garten gelandet.
Allerdings in einem dornigen Rosenstrauch, weshalb sich sofort der linke Unterschenkel durch ein leichtes Brennen bemerkbar machte. Ignorieren. Achtsam, um keine Geräusche zu verursachen, schlich er an dem kurzen Mauerstück entlang. Nur aus einem Fenster im oberen Stock drang schwaches Licht. Nach einigen Schritten hatte er den Schatten des Baumes erreicht, der ihn vor etwaigen Blicken schützte. Von dort konnte er im Dunklen an der Hinterseite des Posamentenladens Umrisse einer Tür ausmachen sowie ein vergittertes Fenster, das vollkommen mit Efeu überwuchert war. Die Tür war entgegen seiner Annahme aus Metall und wirkte stabil, das Schloss hingegen noch aus Großvaters Zeiten. Behutsam versuchte er, den Türgriff hinunterzudrücken. Die Tür gab keinen Zentimeter nach. Orsini holte sein Minitool aus der Hosentasche, knipste die kleine Taschenlampe an und besah sich das Schloss genauer. Er bog den Draht ein wenig zurecht und schob ihn dann vorsichtig ins Schloss, suchte nach einem Widerstand und ... Ein durchdringendes Geräusch durchschnitt plötzlich wie eine Säge die Stille – das Quietschen einer ungeölten Tür? Mehrere Stimmen unterhielten sich. Mit einem Satz war er hinter dem Baum im Schatten verschwunden und wartete. Kam das Gespräch aus dem Nachbarhof? Das Licht im Container wurde abgeschaltet, jemand sperrte eine Tür zu. Gesprächsfetzen, Klirren von Schlüsseln. Orsini drückte sich gegen den Baumstamm, hörte Gelächter und Schritte, die nach und nach leiser wurden, schließlich ganz verebbten.
Erleichtert atmete er auf. Jetzt herrschte wieder Ruhe, nur das ewige Rauschen der Stadt war zu hören. Noch einmal versuchte er, das Schloss mit dem Draht zu öffnen, doch das rostige Ding wiedersetzte sich ihm hartnäckig. „Scheiße“, entfuhr es ihm. Er würde mit besserer Ausrüstung zurückkehren müssen. Unhörbar lachten ihn die schwere Metalltür und das massive Fenstergitter aus. Schließlich gab er sich geschlagen, durchquerte erneut den Garten und kletterte über die Mauer. Die Luft war rein und so ging er wie er gekommen war. Verschloss die Tür mit dem Nagel und schritt unter der Glühbirne hindurch auf die Straße. Resümee der ganzen Aktion: Ein verdreckter Mantel, eine leicht blutende Wunde und – wie er gerade feststellte – wieder einmal versaute Schuhe.
Missmutig öffnete er die klapprige Tür und trat ins Jell. Er kannte die meist um diese Zeit diensthabende Kellnerin und hob grüßend die Hand.
„Ein großes Bier und einen Aschenbecher“, überging er alle Warnungen, die sein Gehirn aussandte.
„Sie schaun heute aber nicht gut aus“, versuchte die Kellnerin mitfühlend zu sein.
Mitgefühl konnte Orsini allerdings genau jetzt nicht brauchen, außerdem hatte er den fast identen Satz heute schon einmal gehört, weshalb er mürrisch zurückgiftete: „Studieren jetzt schon alle Kellner Medizin?“
Dann holte er die Zigaretten aus seiner Tasche, trommelte damit rhythmisch auf dem Tisch herum und setzte ärgerlich noch eins drauf: „Haben Sie wenigstens Feuer?“
„Natürlich, sofort ... und ein großes Bier.“
Nervös fingerte er eine Zigarette aus der Packung und wartete auf die Kellnerin, die ihm eine Streichholzschachtel brachte und den Aschenbecher vor ihn auf den Tisch knallte. Wie lange hatte er keine mehr geraucht? Der erste Zug fühlte sich gut an, trotz der Halsschmerzen. Wortlos stellte die Kellnerin das Getränk auf die Marmorplatte. Orsini trank die Hälfte davon und rauchte die Zigarette fertig. Wartete, trank und rauchte die nächste Zigarette. Wartete, leerte das erste Bierglas und bestellte ein neues. Sein Gehirn meldete sich daraufhin nicht mehr, sondern schaltete umgehend auf Standby.
Im gut gefüllten Lokal saßen mehrere meist junge Leute beisammen und unterhielten sich. Orsini schien das Lachen der anderen Menschen aufzusaugen und in Negativstimmung umzupolen. Hatte er vorhin noch bei jedem neu eintretenden Gast kurz aufgesehen, war sein Blick nun – wie der des stillen Zechers im kleinen Café – nur mehr auf sein Glas fixiert. Da er die Warnungen seines Gehirns ignoriert hatte, musste der Körper diese Funktion übernehmen. Beim Bestellen des vierten Bieres war es soweit und sein Magen fing an zu revoltieren. Die Mixtur aus Medikament, Alkohol und Nikotin brachte das Fass zum Überlaufen. Orsini sprang auf und rannte. Im letzten Augenblick erreichte er die Toilette, wo ihm sofort der Inhalt seines Magens hochkam. Ein kleines Gulasch.
Kalter Schweiß auf der Stirn, Schwindelgefühl und Darmkrämpfe taten ein Übriges.
Fünfzehn Minuten später lehnte er immer noch blass und zittrig, aber zumindest aufrecht am Spülbecken. Ein Schluck Wasser, um die Suppe im Magen zu verdünnen, kühles Wasser ins Gesicht. Der Weg zur Gaststube kam ihm endlos vor. Mit weichen Knien quälte er sich an den Tischen mit den plaudernden Jugendlichen vorbei, die belustigt aufsahen.
Nur nicht ins Lokal spei..., dachte er, sonst kann ich mich hier nie wieder blicken lassen! Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm schließlich, die Rechnung zu begleichen. Die Kellnerin bemerkte Orsinis Zustand, schwieg jedoch und hielt ihm die Tür auf.