Читать книгу Der Posamentenhändler - Georg Koytek - Страница 5
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ОглавлениеAbgesehen von weiteren Namen von Baufirmen war die Ausbeute an Informationen nach den beiden nächsten Geschäften gleich null, brachte dafür materielle Gewinne in Form eines Geschirrtuchsets und einer Akkutaschenlampe, deren antiquierte Form ihm sogar gefiel.
Orsini war vor einer ungewöhnlichen steinernen Gruppe angelangt. Die Statue über ihm zeigte nur mehr mit dem Stummel des Zeigefingers in die Höhe. Sie war Teil eines Ensembles: Vater, Mutter, Kinder – ... der Alte und dem seine Familie ..., hallten die Worte des Verkäufers in ihm wider. Eine heile Familie, die nichts anderes zu tun hatte, als um das Erbe zu streiten – zu Stein erstarrte, abbröckelnde Sprachlosigkeit?
Wenig später betrat er ein Spielzeugeisenbahngeschäft direkt in der Zieglergasse. Schon die Auslage ließ jedes – somit auch Orsinis – Bubenherz höher schlagen. Zumindest, wenn man von der verstaubten und mit vergilbten Bildern aus Alpentälern und anderen Gegenden drapierten Auslage absah.
„Guten Tag der Herr, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ Ein älterer Mann mit erstaunlich dichtem grauem Haar saß hinter einem der Tische und hielt eine alte filigrane Dampflok in den Händen, die er sorgsam abstaubte. Mit der entsprechenden Kappe hätte er durchaus als Bahnhofsvorstand durchgehen können.
„Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich hier das Richtige finde ..., ich suche nämlich ein Geschenk ... für ... meinen Neffen“, erwiderte Orsini. „Aber ... können Sie mir zuerst sagen, warum hier alles so verdreckt ist?“
„Darüber ... da will ich am liebsten gar nicht reden, der Zustand ist katastrophal, genauso wie der Geschäftsgang! Hier ist nichts mehr wie früher und sogar einen Mord hatten wir ... und das hier in unsrer Gasse!“
„Wer wurde denn ermordet?“, fragte Orsini, die gespielte Ahnungslosigkeit perfektionierend.
„Man könnt fast sagen mein Nachbar. Liegt nur ein Haus zwischen unsern Geschäften. Der alte Heinrich war noch ein richtiger Herr, konnt keiner Fliege was zuleide tun und wird dann im eignen Geschäft ermordet!“
„Kannten Sie ihn denn?“
„Ja natürlich ..., aber eigentlich nur vom Vorbeigehen und Grüßen. Manchmal haben wir uns beim Friseur gsehn und miteinander gredet. Der Herr Novak war ja sehr eitel für sein Alter und ist sehr oft beim Patschinsky, das ist der Friseur, gwesen. Aus welcher Richtung sind S’ denn zu mir kommen, wenn ich fragen darf?“
„Von der Mariahilfer Straße.“
„Na dann sind S’ ja direkt an seinem Geschäft vorbei kommen. Ist ja noch immer von der Polizei abgsperrt und von der Familie war seitdem auch noch keiner drinn“, bemerkte der Eisenbahnhändler. Vorsichtig drehte er dabei die Lokomotive um und inspizierte nun das Räderwerk.
„Sie meinen das Geschäft mit den vielen Bändern und Knöpfen?“
„Ja, ja ... das Posamentengeschäft ... das hat ihm ghört und dort ist er auch umbracht wordn.“
„Im Geschäft?“
„Ja.“
„Hat die Polizei eigentlich schon jemand festgenommen?“
„Das weiß ich nicht genau, aber wenn S’ mich fragn, kommen sowieso nur diese Drogensüchtigen in Frage. Machn ja schon seit Monaten das Viertel unsicher. Ghörn alle arretiert. Aber die Polizei kümmert sich einfach nicht um unser Grätzel!“ Ärgerlich schmiss der Alte den Putzlappen in eine Holzkiste auf dem Boden.
„Drogensüchtige?“
„Ja natürlich, Drogensüchtige, Obdachlose und arbeitsscheues Gsindl halt, irgendwer von denen wird’s schon gwesen sein!“
„Wieso sind Sie da so sicher?“
„Wieso ich mir da sicher bin, ha! Fragen S’ halt den Patschinsky oder irgendwen andren, die werdn Ihnen das Gleiche sagn.“
„Und diese Süchtigen und Obdachlosen, haben die schon immer hier gewoh ... gehaust?“
„Wo denken S’ hin!? Früher war das eine anständige Gegend, nur ehrbare Leut habn hier gwohnt!“ Die Stimme des Eisenbahnhändlers schraubte sich vor Erregung allmählich in die Höhe, kleine rote Flecken übersäten seinen Hals.
„Aber jetzt scheint es ja wieder bergauf zu gehen, wenn man sich die Bautätigkeit so ansieht ...“
„Ja, aber nur für die, die’s sich leistn können. Wir ... wir habn da nichts davon, außer natürlich den Lärm und den Dreck. Wie die zu baun begonnen haben, hat’s ja erst so richtig angfangen mit den Drogen und den anderen kriminellen Dingen. Außerdem sind da am Bau illegale Arbeiter beschäftigt – davon bin ich überzeugt.“
„Weshalb?“
„Na, weil ich sie jeden Tag seh, und von da sind die bestimmt nicht! Aber der Patschinsky hat da mal was beobachtet, den können S’ ja fragen, sein Geschäft ist ja gleich da drüben, wenn S’ mir nicht glauben!“, steigerte sich der Eisenbahnhändler weiter in eine kurzatmige Rage.
„Natürlich glaube ich Ihnen“, versuchte Orsini ihn zu besänftigen.
„So, bei dem Gerede hab ich ganz vergessn, was Sie eigentlich kaufen wolltn, aber Sie müssen schon verstehn, ein Mord kommt halt nicht alle Tage vor.“
Orsini war klar, dass er der einzige Kunde des heutigen Tages war und brachte es nicht übers Herz, sich von dem alten Mann zu verabschieden, ohne etwas mitzunehmen. „Bitte packen Sie mir die Lokomotive ein, die Sie grade in der Hand haben, die ist wirklich wunderschön und wird meinem ... Neffen sicher gefallen.“
„Da bin ich mir sogar sicher, das ist nämlich eine Tenderlok mit Fahrtrichtungsumschalter, einer Antriebsachse, Hartreifen und Kupplungshaken“, sagte der Alte mit dem Stolz des Wissenden in der Stimme.
„Ah, ja – interessant“, erwiderte Orsini, der keinen Schimmer von Eisenbahnen hatte.
„Die wurden früher zum Rangieren und für Zubringerdienste verwendet. Sie waren schnell, wendig und verbrauchten nur wenig Energie.“
Orsini schaute dem Mann zu, wie er das kleine Geschenk sorgfältig verpackte.
„Wenn ich so überleg ...“, hielt er plötzlich bei seiner Tätigkeit inne und schaute Orsini an, „... hätt’s mich genauso erwischen können.“
„Hm ...“, murmelte Orsini unbestimmt und sah Angst in den Augen des Mannes.
„Ich glaub ... das war kein schneller Tod.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Na ja, die Beamten warn dreimal bei mir ... und was ich so von denen ghört hab ...“
„Möglich“, antwortete Orsini unbestimmt.
„Und irgendwas war seltsam.“
„Seltsam?“
„Ja, das hab ich so rausghört“, antwortete der Alte, bückte sich und holte ein Papiersäckchen hervor.
„Was ich Sie aber noch als Letztes fragen wollte“, wechselte Orsini nochmals das Thema, „hat denn eigentlich niemand hier aus der Gegend etwas gegen diese Zustände unternommen?“
„Doch, was glauben Sie denn! Von Pontius zu Pilatus sind wir glaufen, hat aber alles nichts gnützt – die haben fleißig und ungestört weitergebaut. Wenn S’ mich fragen, ist das von oben abgsegnet.“ Der Alte hielt ihm das mit zauberhaft filigranen Abbildungen kleiner Lokomotiven bedruckte Sackerl hin. Orsini konnte den Stolz in seinen leuchtenden Augen erkennen, den Stolz auf sein kleines Geschäft und seine Tätigkeit. „Kostet eigentlich fünfundsechzig, aber ich geb sie Ihnen um sechzig, weil wir so nett geplaudert haben.“
Orsini fühlte sich nach diesem Satz einerseits etwas verlegen, da er den Mann ja eigentlich ausgehorcht hatte. Andererseits hatten sie ja wirklich geplaudert und er hatte dem Mann auch noch die vermutlich einzige Einnahme des Tages gebracht. Sechzig Euro waren als kleine Sühne dafür angebracht.
„Auf Wiedersehen, Sie werden sehen, Ihr Neffe wird viel Spaß dran haben!“
Vor dem Friseurgeschäft blieb Orsini kurz stehen. Tatsächlich empfand er eine Art Zuneigung für seinen fiktiven Neffen, dem er das nette Spielzeug gekauft hatte. Während er die Fortschritte in der Erbschaftsangelegenheit durchging, betrachtete er den winzigen, mit einem violetten Mosaik verkleideten Eingangsbereich.
Auf der Habenseite schien auf: Die Liste mit den Adressen der Immobilienfirmen sowie die Bestätigung der Geschäftsleute, dass die Preise für Immobilien tatsächlich gestiegen waren. Sophie Pfeifers Verdacht hatte sich zunächst also erhärtet. Andererseits war das bis jetzt nur Hörensagen und hatte womöglich auch mit dem latenten Neid auf die Besitzenden zu tun. Keine Auskunft beim Notar und ein Streit mit einem scharfzüngigen Ingenieur standen allerdings auf der Negativseite. Die rote Kombizange, das Geschirrtuchset und die Akkutaschenlampe würde er vermutlich auf die Spesenliste setzen, weshalb die Zuordnung nicht ganz klar war. Die kleine Lokomotive ...
An der Frontseite des Friseurladens hing über dem nach hinten versetzten Eingang ein Kabel aus der Mauer, umrahmt von verrosteten Schrauben. Dass Werbung ein Teil des Geschäftes war, hatte sich bis hierher noch nicht herumgesprochen. Nichts, außer einem abgenutzten Türgriff in Form einer Schere deutete auf einen Friseurladen hin. Orsini wollte den Scherengriff gerade in die Hand nehmen, als er das auf einen Zettel gekritzelte „Bin in zehn Minuten zurück“ las.
„Bin auch in zehn Minuten zurück“, antwortete er laut und verschwand um die Ecke. Dort hatte er den Zwillingsbruder des Friseurgeschäftes entdeckt, ein ebenso winziges Café. Eine Art dreirädriges Motorrad in verblassendem Grün parkte davor. Der Lack des Gefährts war an den Ecken schon so weit abgeschliffen, dass blankes Metall zum Vorschein kam. Hinter dem breiten Traktorsitz für den Fahrer der eigenartigen Konstruktion stapelten sich auf einer kleinen Ladefläche Ölkanister, Holzbündel und grobe Jutesäcke mit Kohle. In Orsinis Wohngegend hatten diese Händler schon vor Jahren ihre Geschäfte aufgegeben, weil kaum jemand mehr mit diesen Brennstoffen heizte.
In seiner Kindheit hatte es vis-à-vis eine solche Kohlenhandlung gegeben. Oft genug hatte er den Kohlenhändlern als Bub fasziniert zugesehen. Vor allem der vom Tragen schwerer Lasten gekrümmte Rücken und die dreckige Kleidung hatten ihn beeindruckt. Außerdem waren Gesicht und Hände der dunklen Gesellen immer mit einer schwarzen Rußschicht bedeckt gewesen, was die Männer unheimlich, beinahe dämonisch wirken ließ.
Einen Vorfall in seiner unmittelbaren Umgebung würde er nie vergessen: In einer klirrend kalten Adventnacht hatte sich einer der Kohlenhändler über den steilen Stufen, die vom Gehsteig in seinen Keller führten, erhängt.
Am nächsten Tag blickte daher die erste Kundin in ein kohlrabenschwarzes Gesicht, aus dem nur die weißen Augen blutunterlaufen hervorquollen, wie sie später schaudernd jedem erzählte. Heimlich, hinter dem Vorhang seines Kinderzimmers verborgen, hatte Orsini den Abtransport des Toten beobachtet. Zwei Männer schleppten den erstarrten Leichnam mit Mühe die engen Stufen hoch, blieben dabei aber an einem Stapel Brennholz hängen und kamen nicht vom Fleck. Eigentlich wollte er wegsehen, doch ein innerer Drang zwang ihn hinzustarren. Mit Gewalt bogen die beiden die Glieder des Kohlenhändlers zurecht, dass es bis über die Straße krachte, und marschierten dann mit ihrem makabren Gut direkt unter dem Fenster der Orsinis zum Leichenwagen. So rasch wie möglich schloss er das Fenster und zog den Vorhang zu, doch das Geräusch der brechenden Knochen hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt.
Kaum war er in das Café eingetreten, sah Orsini auch schon einen kohlrabenschwarzen Rücken. Eine Pullmannmütze saß auf dem dazugehörigen Kopf. Dass in dem kleinen Raum sogar eine Bar Platz hatte, war von außen nicht zu vermuten. Neben dem Kohlenhändler waren noch zwei Barhocker frei. Orsini nahm Platz und wollte gerade bestellen, als er unterbrochen wurde.
„Tschuldigung ... da sitzt eigentlich mei Kollege, der hat nur grad a ... dringende Sitzung“, sagte der Mann mit der Mütze. Aus dem rußgeschwärzten Gesicht blinkte es Orsini entgegen. Mehrere Goldzähne schlossen die vorderen Zahnlücken. Weiter hinten warteten ausgebuddelte Löcher auf die modernen Schatzgräber in ihren Hightech-Ambulatorien.
„Dann setze ich mich da drüben hin, kein Problem.“
„Danke, der Herr, er wird glei kuman ... es is nur, damit’s ka Gwirks gibt!“
„Und wie geht’s Gschäft?“, nützte Orsini die Gelegenheit, ein Gespräch zu beginnen.
„Na, wie soll’s scho gehn? Be ... schi ... ssen, und des zur bestn Jahreszeit und bei der Kältn!“
In diesem Moment kam der zweite mit Ruß verschmierte Geselle aus der Toilette und setzte sich zwischen Orsini und seinen Kollegen. Hünenhaft wie ein Silberrücken drängte er Orsini zur Seite. Der Geruch, den er verbreitete, konnte sich durchaus mit dem der afrikanischen Berggorillas messen. Ebenso wie sein Kollege trug er einen zerschlissenen Pullover. An den Ellbogen klafften zudem zwei große Löcher. Die menschliche Mauer, die nun entstanden war, verhinderte die Fortführung des Gesprächs. Also bestellte Orsini erst einmal entgegen seiner Gewohnheiten einen schwarzen Tee mit viel Zitrone.
Überraschenderweise beugte sich jetzt der Mann mit der Pullmannmütze nach vor, verharrte in der unnatürlichen Stellung, um Orsini zu sehen und sprach: „Wissen S’ ... normal is da Herbst die Zeit, wo die Leut Heizvorräte anlegn ... stimmt’s Hermann?“
„Stimmt“, sagte der angesprochene Hüne leise, fand es jedoch nicht nötig sich so zu drehen, dass Orsini und der Mützenmann einander besser sehen konnten.
„Ist’s zu warm für die Jahreszeit?“, fragte Orsini unschuldig.
„Z’warm, ... hast des ghört Hermann? Des is guat! ... z’warm! Geld haben s’ kans mehr d’ Leut ... scho gor ned in der Gegend ... und die, die eins habn, die stelln doch alle auf Gas um. Stimmt’s Hermann?“
Gemächlich ergriff der Silberrücken eine auf der Bar liegende Zigarettenpackung, fischte mit seinen riesigen Fingern erstaunlich flink eine Zigarette heraus, steckte sie mit einem Zündholz an und brummte ein tiefes „Stimmt.“
„Und stelln Sie sich Ihna vor, jetzt haben s’ uns sogar no an von unsre bestn Kundn umbracht, wie solln wir da überleben?“
Hellhörig geworden griff Orsini den Faden auf. „Wie, einer Ihrer Kunden ist umgebracht worden?“
„Ja, der alte Novak, der letzte Posamentenhändler im ganzn Bezirk, wenn ned der ganzen Stadt, eine Wochn ist des her ... höchstens, stimmt’s Hermann?“
Der fast vollständig in eine Rauchwolke gehüllte Silberrücken hielt diese Frage allerdings keiner Antwort für würdig und schwieg.
„Und haben Sie eine Ahnung, warum ... und wer ... oder hat die Polizei schon wen verhaftet?“
Immer noch in einer unnatürlichen Stellung verharrend zündete sich der kettenrauchende Kohlenhändler erneut eine Zigarette an und versuchte mit den Händen den Rauch von sich wegzutreiben. Der Kellner stellte den Tee vor Orsini auf den Tisch und sagte: „Mit extra viel Zitrone. Und übrigens, die Polizei, die können S’ vergessn! Glauben S’, die interessiern sich für unser Grätzl und für an alten Händler ohne Geld? Bei uns is vor einem Monat ein Fenster eingschmissn wordn. Von die Herrn Beamtn hat keiner auch nur ein Ohrwaschl grührt, nicht einmal aufgnommen haben s’ den Vorfall!“
„Da hat der René völlig recht, ... die schaun do nur, dass irgendwem die Schuld in die Schuach schiebn, in dem Fall sind’s halt a paar Kiffer, damit a Ruah is“, meldete sich nun wieder der Mützenmann zu Wort, inhalierte tief und fuhr fort: „Kann scho sein, dass des die Süchtler warn, aber warum is dann nix gstohln wordn? ... Und außerdem, was soll der scho ghabt habn, was man stehln könnt ... oder Hermann?“
„Stimmt“, gab der Gorilla zwischen zwei tiefen Lungenzügen zurück.
„Und, haben Sie einen Verdacht?“
„Einen Verdacht ... natürlich habn wir an Verdacht, aber den ... den sprechen wir nicht aus, schon gar ned hier herinnen in einem öffentlichen Lokal – René zahln bitte!“
„Würd ich auch nicht“, sagte Orsini, „kann leicht sein, dass man dann eine üble Nachrede hat.“
„Stimmt“, sagte der Silberrücken, dämpfte seine Zigarette aus, trank den letzten Schluck Kaffee und ging zur Tür. Der Mützenmann gab dem Kellner einen Schein in die Hand und wartete rauchend auf sein Retourgeld. „Mit der üblen Nachred haben S’ völlig recht, aber ans sag i Ihnen scho“, – der Kellner gab ihm in dem Moment das Retourgeld – „die Baufirmen, die hättn scho an Grund ghabt ... und mit der Familie, da stimmt auch nicht alles – aber i sag nix.“ Mit diesen Worten folgte er seinem Kollegen.
„Ich zahl dann auch gleich!“ Orsini hielt dem Kellner das Geld hin. Während der noch nach dem passenden Kleingeld kramte, war ein lautes Knattern zu hören.
Zweitakter, dachte Orsini und verließ das Lokal. Draußen konnte er noch die Rauchschwaden und den Gestank wahrnehmen, den das Gefährt verursacht hatte. Der seltsame Wagen bog gerade um die Ecke Richtung Westbahnhof ab. Hinten auf der Ladefläche saß der riesige Silberrücken und vorne auf dem Kutschbock der Mützenmann. Eine blaue Rauchwolke stieg auf und das harte Knattern übertönte sogar den Verkehrslärm.
Der Teufel und sein Gehilfe, dachte Orsini, fehlt nur noch der Funkenflug und dass einer von den beiden einbeinig wäre.
Wie um ihn von den dämonischen Gedanken abzubringen, begann sich ein Vibrieren in seinem Kopf breitzumachen, hartnäckig und regelmäßig. Es dauerte einen unangenehm langen Moment, bis ihm klar wurde, dass es lediglich das metallische Dröhnen der Kirchenglocken war. Der monumentale Fassadenturm der Schottenfeldkirche beherrschte das ganze Viertel wie ein Wahrzeichen. Ein allein wegen seiner schieren Größe beeindruckendes Symbol der Ruhe und Gelassenheit oder aber der nun schon verblassenden Macht – das war Ansichtssache.
Im Inneren der Kirche roch es nach Weihrauch. Nur mehr gedämpft drang der Verkehrslärm an sein Ohr. Barockklassizismus, Altartische aus Rotmarmor, von einer aufgelassenen Friedhofskapelle hierher transportiert, las er von einem neben dem Eingang aufgehängten Blatt. Großer, geräumiger Kirchenbau, der von jedem Platz aus eine optimale Sicht zum Hochaltar ermöglichen soll, erfuhr Orsini noch. Schon die Kirchenfürsten von damals wussten, wie man sich Aufmerksamkeit sicherte, nach dem Prinzip sehen und gesehen werden.
Sein Blick schweifte über das Gewölbe zum linken Seitenaltar und blieb dann an einer Marienstatue mit Kind im Arm hängen. Das Haupt der Mutter Gottes umgab ein Heiligenschein aus kleinen leuchtenden Glühbirnen. Davor kniete eine Frau in dunklem Mantel. Auf dem Kopf trug sie ein gelbes Tuch. Der rechte Seitenaltar zeigt den gekreuzigten Jesus, las er weiter. Davon war aber nichts zu sehen, da der rechte Teil des Innenraums mit Plastikplanen verhängt war. Auf einem Gerüst standen zwei Restauratoren und unterhielten sich. Dann nahmen sie Hammer und Meißel zur Hand und begannen, die heilige Ruhe zu stören. Die kniende Frau erhob sich mühsam, warf Geld in einen Behälter und zündete eine Kerze an.
Der handgeschriebene Zettel hing nicht mehr an der Tür. Also trat Orsini in das nun beleuchtete Friseurlokal. Es war so winzig, dass er praktisch mit dem Türgriff in der Hand stehen bleiben musste. Der Friseur schnitt gerade auf einem der zwei vorhandenen Sessel einem Kunden die Haare. Wegen der durchgehend verspiegelten linken Seite wirkte der Raum um einiges größer und ein hochgewachsener Philodendron beherrschte das ansonsten schmucklose Geschäftsinnere. Einzig über der verspiegelten Wand stand in geschwungener altmodischer Schrift Friseursalon Patschinsky. Das Wort Salon fand Orsini eine leichte Übertreibung. Der elegante Schriftzug, die alten Stühle mit der verspiegelten Wand und die riesige Pflanze in der Ecke ergaben aber durchaus ein harmonisches Ganzes. Verglichen mit den uniformen Einrichtungen moderner Friseursalons war dieses Geschäft ein Kleinod. Zwar ein vergessenes – was Raumempfinden und Formsprache anlangte, konnte es dennoch jeden Vergleich mit Designerläden von heute aufnehmen. Ein Kind seiner Zeit, wie auch die Person des Friseurs.
„Grüß Gott, ich würde mir gerne die Haare schneiden lassen. Wie lang würde es dauern, bis ich drankomm?“
Mit der Schere in der Hand deutete der Friseur auf den freien Stuhl neben sich. „Nehmen S’ gleich Platz, wenn’s genehm ist!“
Es roch nach altmodischem Haarwasser. Birkensaft – Orsini konnte sich noch gut an den Geruch erinnern, den sein Großvater verströmt hatte, wenn er auszugehen pflegte und sich deswegen in Schale warf. Er setzte sich auf den angebotenen Platz und sah dem Friseur zu, wie er seinem Kunden die letzten Haarreste aus dem Nacken pinselte und ihn danach mit einer geschickten Bewegung auf seinem Stuhl Richtung Ausgang drehte. Als der Kunde bezahlt hatte, hielt der Friseur elegant die Türe auf und verabschiedete sich.
Auf der schmalen Anrichte lagen die verschiedensten Gerätschaften. Kämme und große Haarklammern aus Horn, Rasiermesser und diverse Scheren. Das einzige Zugeständnis an die Moderne schien eine elektrische Haarschneidemaschine zu sein. Nicht einmal ein Radio, stellte Orsini erleichtert fest.
„Sie sind doch Herr Patschinsky, wenn ich fragen darf?“
„Ja, warum, sollte ich Sie kennen?“
Der kleine rundliche Mann musste auf die siebzig zugehen, schätzte Orsini, war dafür aber erstaunlich flink. Behände verstaute er ein benütztes Lavoir und räumte dann noch einige Utensilien weg.
„Nein, ich glaube nicht, dass Sie mich kennen ... es ist nur … ich war gerade im Geschäft gegenüber, hab dort eine Lokomotive für meinen Neffen gekauft und anschließend nach einem Friseur gefragt. Der nette Herr hat mich an Sie verwiesen und gesagt, dass Sie der beste in der Gegend wären“, versuchte Orsini eine Annäherung.
„Ah, ... der Schiemer und seine Eisenbahnen.“ Der Friseur kehrte die Haare auf dem Boden zusammen und schob sich die Brille zurecht. „So, und was kann ich jetzt für Sie tun?“
„Ein komplettes Service und alles um ein bis zwei Zentimeter kürzer bitte.“
„Also fassonieren, darf ich Ihnen die Haare vorher waschen?“
„Heute lieber nicht, ich bin nämlich verkühlt.“
„Da haben Sie recht, vor allem bei dem Wetter wäre das nicht ratsam.“
Der Friseur legte Orsini eine Halskrause um, breitete dann die Schürze über ihm aus und begann zu schneiden.
Halskrausen, die nicht kratzen, damit könnte man noch reich werden, dachte Orsini noch, bevor er auf sein eigentliches Thema zu sprechen kam.
„Der Herr Schie... wie war noch gleich sein Name?“
„Schiemer.“
„Der Herr Schiemer hat mir erzählt, dass es hier vor Kurzem einen Mord gegeben hat?“
„Ja, hat es.“
„Haben Sie denn keine Angst?“
„Nein.“
„Das muss ja in derselben Gasse geschehen sein, oder?“
„Ja.“
„Und macht man sich da keine Gedanken?“
„Doch.“
Seit der Friseur begonnen hatte, Orsinis Haare zu schneiden, schien er gänzlich in seine Arbeit vertieft zu sein. Die wenigen grauen Haare waren ihm ins Gesicht gerutscht und auch die Brille hatte sich bis zur Nasenspitze vorgearbeitet, bemerkte Orsini, der ihn durch den Spiegel beobachtete.
„Und wie gehn die Geschäfte?“, versuchte er es nach ein paar Minuten wieder.
„Schlecht, leider.“
„Gehört Ihnen das Geschäft oder sind Sie nur Mieter?“
„Nur Mieter.“
Am Friseur schien Orsini seinen Meister gefunden zu haben. Wortkarg und konzentriert werkte er an den Haaren herum. Umso mehr überraschend kam die nächste Frage.
„Effilierschere?“
„Wie bitte?“
„Effilierschere, wolln S’ das Haar etwas strähniger?“
„Ah, ... ja bitte, warum nicht.“
„Die Ohren frei?“
„Ja, und den Ansatz gerade bitte.“
Eifrig schnipselte Patschinsky am Haaransatz.
„Und, haben Sie das Geschäft schon lange?“, nahm Orsini einen letzen Anlauf.
„Einunddreißig Jahre genau.“
„Da müssen Sie den Ermordeten ja gekannt haben ...“
Schwungvoll zog der Friseur nun das altmodische Rasiermesser über einen an der Wand aufgehängten Lederriemen, prüfte kurz die Schneide und begann, den Nacken zu rasieren. Orsini hasste diesen Teil der Prozedur und hatte einfach Angst vor der scharfen Klinge, ließ sie aber trotzdem über sich ergehen. Doch der Friseur war ein Meister seines Faches. Zuvor hatte er die zu rasierenden Stellen leicht befeuchtet und nun zog er mit sicheren, jahrzehntelang geübten Bewegungen die Klinge über Orsinis Haut. Danach wischte er mit einem Handtuch den Nacken trocken. Zuletzt holte er noch einen großen, weichen Dachshaarpinsel aus einer Schublade und entfernte die letzten Haarreste.
„So, fertig! Wenn Sie sich noch im Spiegel betrachten möchten ...“
Orsini gab sich geschlagen, aus dem Mann war nichts herauszuholen, daher sagte er nur: „Passt, danke, sehr schön.“
Kaum hatte er aber die Schere auf den Tisch gelegt, begann der Friseur plötzlich zu reden.
„Natürlich habe ich den Ermordeten gekannt, war sogar einer meiner besten Kunden“, sagte er mit trauriger Stimme und fuhr dann fort: „Angeblich stranguliert ... mit einer Schnur, kein schöner Tod, dauert lang bis ...“, er brach den Satz ab. „Der Heinrich ... ist doch jede Woche zu mir gekommen, für sein Alter war er ganz schön ... eitel, könnte man sagen. Bei ihm musste ich immer besonders aufpassen.“
„Wieso?“
„Na weil ich einen korrekteren Menschen wie ihn mein Lebtag nicht getroffen hab. Wenn da beim Schnitt was nicht ganz akkurat war, jeden kleinen Fehler hat der sofort gemerkt, trotz seiner nicht mehr allzu guten Augen! Aber sonst war er ein netter, höflicher Mensch, hat immer nur gearbeitet. Sein Geschäft – eigentlich das Posamentengeschäft überhaupt, das ging ja schon lange nicht mehr gut ... vielleicht war es das, was ihn zuletzt verändert hat.“
„Verändert?“
„Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll ... mag sein, dass es auch nur das Alter war. Er hat, wenn ich ihm in letzter Zeit die Haare geschnitten hab, nicht mehr so aufgepasst wie früher. War irgendwie abwesend, mit den Gedanken woanders, wenn Sie verstehen ...
Aber wozu erzähl ich Ihnen das alles? Sie haben sicher Wichtigeres zu tun.“
„Nein nein, machen Sie sich keine Gedanken, ich hab heut meinen freien Tag und mich interessieren Geschichten anderer Leute immer. Wie viel bin ich eigentlich schuldig?“
„Macht achtzehn Euro.“
Orsini holte seine Geldbörse aus der Hosentasche und gab ihm zwanzig. „Stimmt so.“
„Danke sehr, vielen Dank!“, antwortete der Friseur überschwänglich.
„Aber wieso man einen alten Mann einfach so ermordet, das kann ich nicht verstehen. Der Herr, der aus dem Eisenbahngeschäft ...“
„Der Herr Schiemer.“
„Ah ja, Schiemer, der hat mir erzählt, dass es heißt, Drogensüchtige hätten ihn umgebracht.“
„Mag sein, lungern auf jeden Fall genug herum. Ich weiß nur, dass der Heinrich Schwierigkeiten mit den Baufirmen hatte. So was Ähnliches hat er zumindest einmal erwähnt. Die wollten wahrscheinlich, dass er sein Geschäft aufgibt und verkauft, dann könnten sie nämlich den ganzen Komplex auf einmal sanieren.“
„Glauben Sie, dass man ihn unter Druck gesetzt hat?“
„Kann sein ...“ Mitten im Satz wandte sich der Friseur zur Tür, hielt sie einer eintretenden Kundschaft auf und meinte: „Wie immer auf die Minute!“
Grüßend verließ Orsini also das Geschäft, schaute im Vorbeigehen kurz in den Spiegel und war sehr zufrieden mit dem, was er darin sah. Sogar seine B-Seite hatte der Friseur so zurechtgetrimmt, dass die leichte Asymmetrie seiner beiden Ohren nur mehr zu erahnen war.