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4.

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Es klopfte an der Tür. Vorsichtig betrat eine junge Frau den Raum. Sie gehörte ganz offensichtlich zu den Bediensteten des Bistumshauses St. Georg, trug sie doch eine entsprechende Tracht mit den Symbolen des Namenpatrons: Reiter, Pferd, Lanze, Drachen. Das Tablett, das sie gekonnt auf der rechten Hand balancierte, war beladen mit Gläsern und zwei Karaffen mit Wasser. „Möchte jemand ein Wasser?“, fragte sie unnötigerweise mit fester Stimme und einem professionell eingeübten Lächeln.

„Gern!“, nickte ihr Kellert zu, der sich immer noch wie ein Verdurstender fühlte, wies aber auch auf die anderen. Wieder betonte er, dass er hier das Sagen hatte, nicht einer der hier eigentlich beheimateten Kleriker, an die sich die Bedienstete automatisch gewandt hatte. Die beiden Geistlichen ließen den Polizisten gewähren.

Nachdem die junge Frau die Gläser verteilt, eingegossen und mit fast lautlosen Schritten das Besprechungszimmer wieder verlassen hatte und alle mindestens einen Schluck zu sich genommen hatten – Kellert hatte sein Glas erneut in einem Zug geleert und es gleich ein weiteres Mal nachgefüllt –, ergriff der Kommissar wieder das Wort.

„Gut!“, setzte er eine Art Zwischenstrich unter das bisher Besprochene. „Aber eines verstehe ich noch nicht.“ ‚Unsinn!‘, korrigierte er sich innerlich. ‚Ich verstehe noch eine ganze Reihe von Dinge nicht. Aber: Schritt für Schritt!‘ „Wer von Ihnen hat denn nun die Tote entdeckt? Und warum erst jetzt? Sie muss doch schon eine lange Zeit dort oben gelegen haben? Wie kann das sein, dass sie so lange nicht entdeckt wurde?“

‚Blödmann!‘, schimpfte er innerlich mit sich. ‚Vier Fragen auf einmal! Als wärst du der blutigste Anfänger!‘ Er blickte kurz zu Hannah Mellrich hinüber. Auch sie schien überrascht, dass ihr Chef seine Neugier nicht zügeln konnte, ließ sich ihre Überraschung aber nicht anmerken. Doch! Kellert kannte sie inzwischen gut genug. Da zuckte eine kleine Ader neben dem rechten Auge. Peinlich! Seine Mitarbeiterin erwischte ihn bei einem Vernehmungslapsus, der Anfängern eigentlich schon im ersten Ausbildungsjahr ausgetrieben wurde.

Vier Fragen in den offenen Raum gestellt. Welche sollte man beantworten? Und wer war zuständig? Die angeredeten Herren blickten sich an, sagten erst einmal nichts. Dann ergriff Dr. Breskamp das Wort. „Ja, … nun, wo soll ich anfangen …?“, fragte er wohl vor allem sich selbst. „Wer hat die Leiche gefunden? Das war ich. Also zusammen mit Herrn Zinngruber, der war zumindest mit dabei.“ Der Domvikar nickte mit zuckenden Bewegungen seines vogelartigen Kopfes.

„Wir haben ja Mathieu Gentreville zu Gast. Sie, Herr Kommissar, waren ja bei diesem großartigen, was sage ich, unvergleichlichen Konzert mit dabei. ‚Le mort et l’ennui‘, ein wunderbares Stück!“ Kellert senkte zustimmend die Lider, behielt seine Assoziationen aber für sich. „Und er wollte sich vorher die Orgel anschauen“, setzte der Prälat seinen Bericht fort. „Doch, die berühmte Friedensberger Orgel, die sagte ihm etwas. Derentwegen war er doch überhaupt gekommen. Und als Experte wollte er alles natürlich ganz genau besichtigen. Vor allem die Mechanik der Schleifladen, die besonders schnelle Registerzüge ermöglichen. Die sind in jedem Buch über Orgeln aufgeführt: die ‚Friedensberger Schleifladen‘.“

‚Wieder etwas gelernt!‘, dachte Kellert, ohne sich für das Thema innerlich erwärmen zu können. Auch seine Mitarbeiterin blickte eher professionell als wirklich neugierig. Sei’s drum, Breskamp hatte sowieso ohne Pause weitergeredet: „Also sind wir, Domvikar Zinngruber, Gentreville und ich, heute Nachmittag hinauf zur Orgel gestiegen.“

Hannah Mellrich gab Kellert ein Signal, eine Frage stellen zu wollen. Er nickte ihr so zu, dass niemand von den Anwesenden etwas von diesem kurzen, wortlosen Austausch zwischen Chef und Mitarbeiterin mitbekam. „Entschuldigung“, unterbrach die Kommissarin. „Und Sie“ – dabei wandte sie sich an Hans-Hendrik Hofbauer, der sich dem Gespräch inzwischen wie geistesabwesend wieder entzogen hatte –, „Sie waren da nicht dabei? Sie sind doch der Domorganist. HHH! Das ist doch sozusagen Ihr Instrument?“

Hofbauer fuhr zusammen. Eine weiße Haarsträhne hob sich, schlug um und knickte hinter dem rechten Ohr nach hinten. „Ähh, nein!“, stammelte er. „Ich, ich war verhindert. Und zeige das Instrument auch nicht so gern vor.“ Er beugte sich zu der jungen Polizistin hinüber, als spräche er nur zu ihr. „Verstehen Sie: Das ist wie eine Art Liebesbeziehung. Das hat etwas Intimes. Das teilt man nicht gern.“

Breskamp konnte ein spöttisches, halblautes Lachen nicht unterdrücken. „Sagen wir mal so: Unser guter Hans-Hendrik hat es nicht so gern, wenn man andere Organisten an sein Instrument heranlässt. Und dann noch so eine Koryphäe!“ ‚Schon wieder dieses Wort!‘, dachte Kellert. „Er war auch nicht im Konzert, oder Herr Hofbauer?“, bohrte der Prälat weiter in der Wunde. Das schien ihm Spaß zu machen.

Der Domorganist war rot angelaufen. „Nein, da haben Sie recht, Euer Ehren“, erwiderte er ironisch. „Da war ich nicht. Das erträgt HHH nämlich in der Tat nicht. Und was dieser Monsieur Gentreville unter Musik versteht, das ist für viele eine Zumutung. Das traut sich bloß keiner zu sagen. Weil der gute Monsieur ja ach so berühmt ist.“ ‚Aha, ich bin also immerhin nicht der Einzige, dem diese Art von Musik fremd bleibt!‘, ging es Kellert durch den Kopf. ‚Auf diese Expertise werde ich mich Beate gegenüber noch berufen.‘

Domvikar Zinngruber schaltete sich begütigend ein: „Wir wollen hier doch nicht über Musikgeschmack streiten, meine Herren … und Damen. Vielleicht reicht es, einfach festzuhalten, dass unser verehrter Herr Domorganist das Festkonzert auch sehr gern selbst gespielt hätte.“ Hofbauer wollte aufbrausend antworten, aber Kellert hob die rechte Hand und blickte streng. Er wusste, dass er das konnte. „Entschuldigung, aber darum geht es hier nicht! Wir waren dabei, dass Sie zu dritt die Orgel besichtigt haben.“

Zinngruber spürte, dass besser er das Gespräch weiterführen sollte. In der Tat, seine beruhigende Art wirkte sich sofort auf alle anderen aus. „Genau! Also haben wir unserem Gast die Manuale erläutert, die neuen elektronischen Feinheiten gezeigt, die wir bei der Komplettrestaurierung eingebaut haben. Wir haben ihn die Klangvarianten und Register in Ruhe ausprobieren lassen. Er war neugierig und ausdauernd.“

Prälat Breskamp nickte mit demonstrativer Leidensmiene, mischte sich aber nicht ein. „Und dann wollte er das Ganze eben von innen sehen“, erinnerte sich Zinngruber. „Darauf waren wir aber nicht vorbereitet. Dr. Breskamp hat sich dann beim Hausmeister des Doms die Schlüssel geholt. Das ist ein riesiges Bündel!“ „Aber ich habe mir die wichtigen Schlüssel zeigen lassen“, fügte der Prälat jetzt doch hinzu. „So gut es ging.“

„Denn in die Orgel, da gehen wir natürlich normalerweise nicht hinein“, ergänzte Zinngruber und bezog Breskamp in das gewählte ‚wir‘ mit ein. „Das ist eigentlich ausschließlich Herrn Hofbauers Reich.“ Der nickte, hatte aber sichtlich keine Lust, sich dazu zu äußern. „Wir wollten unserem verehrten Gast diese Bitte aber nicht abschlagen“, erklärte der Domvikar. „Meine Güte, da ist Mathieu Gentreville zu Gast bei uns, in Friedensberg! Natürlich werden wir tun, was er wünscht, das ist doch klar.“

Domorganist Hofbauer verdrehte die Augen, kniff aber die Lippen zusammen. Dr. Breskamp ging die Erklärung seines Kollegen nicht schnell genug. Jetzt ergriff wieder er das Wort. „Wir also rein. Alles betrachtet. Alles beantwortet, so gut wir das konnten. Stiege runter, Leiter rauf. Der Franzose wieder mit aller Ruhe der Welt. Ich bekam fast Platzangst. Und der arme Domvikar ständig in gebeugter Haltung wegen seiner Länge. Aber da sagst du halt nichts.“

Er strich sich über die von einem dünnen Schweißfilm bedeckte, haarlose Stirn und atmete tief durch, als würde er die Prozedur gerade noch einmal erleben. „Am Ende will er also auf die oberste Plattform. Da wo Sie, Herr Kommissar, vor einer halben Stunde auch waren. Zinngruber blieb eine Etage tiefer zurück. Das ist einfach zu eng dort oben. Sie haben es ja erlebt. Also musste ich vorangehen, wohl oder übel.“

Jetzt wurde es spannend, das merkte man förmlich im Raum. Auch Dr. Breskamp spürte das intuitiv, und er genoss die ihm nun zugeschriebene Macht des Erzählers. „Plötzlich sagt der Franzose: ‚Da ist doch eine Tür! Kann ich mal sehen, was dahinter ist?‘ Auf Französisch natürlich, aber ich habe ein Jahr in Lyon studiert, das ist für mich also kein Problem. Die Sprache beherrsche ich. Die mischt sich in meine Träume.“

Er räusperte sich. ‚Nicht abschweifen!‘, ermahnte er sich. „Ich war vielleicht ein- oder zweimal da oben. Bei Führungen. Lange her. Diese Tür hatte ich vorher entweder nicht bemerkt oder einfach ignoriert. Oder vergessen. Und ausgerechnet da will unser Gast auf einmal hinein! Ich rüttelte also am Griff. Verschlossen. Klar! Aber ich hatte ja den Schlüsselbund. Ich brauchte einen kleinen, einfachen Bartschlüssel. Aber finde den mal, da oben im Halbdunkel! Alle möglichen Schlüssel habe ich, aber doch nicht solche! Doch, da sind einige. Fast zu übersehen. Ich probiere diesen, dann jenen. Nichts.“

„Falsch, da muss einer sein!“, mischte sich nun Domorganist Hofbauer ein, sprach aber eher zur Wand mit den Bischofsporträts als zu einer der Personen im Raum. „Genau, genau!“, ließ sich Dr. Breskamp die Erzählhoheit nicht nehmen. „Schließlich passte doch einer. Ließ sich aber kaum drehen. Alles verrostet und verbogen. Also probier ich’s ein bisschen, schließlich geht’s. Ich öffne die Tür mit Kraft, auch die völlig verzogen, und was ich dann im Lichtschein meines Smartphones sah, das haben ja Sie, Herr Kommissar, auch gesehen.“

Nun musste er doch schlucken, nestelte ein Stofftaschentuch aus seiner inneren Jacketttasche und strich sich erneut über die Stirn. „Nun ja, und ich“, sprach Zinngruber in die Stille hinein, „höre also auf einmal einen Schrei von oben. Dann einen weiteren, in anderer Stimmlage. „Das war der Franzose!“, warf Breskamp ein, aber Zinngruber sprach weiter: „‚Was ist los?‘, habe ich gerufen, oder so ähnlich, und bin sofort zu der Stiege. Aber da kamen mir die beiden schon entsetzt entgegen und berichteten von ihrem Fund.“

„Und dann?“ fragte Kommissar Kellert, weil die Erzählungen der beiden plötzlich verstummt waren. Die Kleriker blickten sich an. Schwiegen „Dann haben wir beschlossen, erst einmal alles so zu belassen“, fügte Dr. Breskamp dann zögernd hinzu. „Ich bin noch einmal kurz hinauf, habe die Tür geschlossen, es sollte ja alles so bleiben, und dann haben wir drei die Orgel auch so schnell wie möglich wieder verlassen.“

„Und, haben Sie dann die Polizei gerufen?“, fragte Dorothee Willebrandt, die sich bislang all das Berichtete eher unbeteiligt angehört hatte. Wieder schauten sich Breskamp und Zinngruber an. ‚Interessantes Mienenspiel‘, notierte sich Hannah Mellrich im Geiste. ‚Zwei Männer, die sich nicht mögen. Beides Alpha-Tiere, die aber nun zusammengeschmiedet sind. Das ist ihnen unangenehm. Sie müssen das gegenseitige Kräfteverhältnis erst noch klären. Überhaupt: ihr Verhältnis.“

„Nein, das ging ja nicht“, räumte Zinngruber mit ruhiger und zögerlicher Stimme ein. Kellert blickte überrascht auf. „Da war doch das Konzert! Wenn wir zu dem Zeitpunkt die Polizei gerufen hätten, hätten wir das Konzert vergessen können. Und das konnten wir dem Professor Brandtstätter doch nicht antun. Wie immer man nun zu dem stehen mag. Aber sein Geburtstagskonzert!“ „Unser Gastorganist ist extra aus Paris angereist, überlegen Sie doch! Denken Sie an die illustren Gäste“, ereiferte sich Breskamp. „Bischof, Regierungsrat, zwei Landräte, ach: alles, was in Friedensberg Rang und Namen hat, war doch eingeladen!“

‚Und da fallen Dir natürlich nur Männer ein‘, registrierte Hannah Mellrich. Aber Breskamp redete schon weiter: „Auch Sie und Ihre werte Frau Gemahlin waren ja da, Herr Kommissar!“ „Sie wissen aber schon, dass das ein grober Rechtsverstoß war!“, unterbrach ihn dieser in strengem und hartem Tonfall. Gerade die angedeutete Einschmeichelei konnte er überhaupt nicht vertragen. „Sie hätten uns unbedingt, ich wiederhole, unbedingt sofort verständigen müssen, das ist Ihnen doch klar.“

Zinngruber schaute ihn direkt an und hielt den Blick aufrecht: „Ja, Herr Kommissar, das war und ist uns bewusst. Wir beide“ – wieder nahm er seinen Kollegen Breskamp mit in seine Ausführungen hinein – „haben das abwägend und wissentlich so entschieden. Und dazu stehen wir auch! Aber hören Sie: Es ist doch keinerlei Schaden entstanden. Für niemanden. Und wir wollten alles Aufsehen oder gar den Ausbruch einer Panik vermeiden.“ Breskamp ergänzte eifrig und in anbiederndem Tonfall: „Außerdem, meine Güte: Die Leiche liegt nun wahrscheinlich schon zweieinhalb Jahre dort oben, da wird es doch auf drei Stunden mehr oder weniger auch nicht ankommen!“

Der Domvikar verzog sein Gesicht. Dass das kein besonders gutes Argument war, lag auf der Hand. Kellert schüttelte prompt den Kopf: „Darüber werden wir noch einmal zu reden haben, meine Herren!“ Hannah Mellrich spürte, dass sie auf jeden Fall wieder zu ermittlungstechnisch relevanten, brauchbaren Informationen zurückkommen mussten. Deswegen mischte sie sich ein. Sie trat inzwischen so selbstsicher und professionell auf, dass man ihr diese Rolle ohne Widerspruch zugestand. „Und dieser französische Organist“ – „Gentreville“ warf Breskamp ein, die Polizistin ließ diese Verbesserung unkommentiert –, „der hat sich darauf eingelassen?“

„Eingelassen? Das ist ein Profi“, entgegnete Breskamp, „der wollte unbedingt das Konzert spielen. Darauf hat er geradezu bestanden!“ „Ein weiteres Argument, warum wir nicht gleich die Polizei gerufen haben, Herr Kommissar“, fügte Domvikar Zinngruber Verständnis heischend an Kellert gerichtet hinzu. Der brummte irgendetwas Unverständliches vor sich hin. „Ein Musiker spielt seine Musik. So sind wir Künstler!“, kommentierte Hans-Hendrik Hofbauer ungefragt, emotionslos und an niemand Spezielles gerichtet. Frau Willebrandt tat ihm den Gefallen und nickte zustimmend.

„Wo ist er eigentlich, der große Meister?“, fiel es Kellert nun ein. „Ach so, der müsste im Domhotel sein“, erwiderte Dr. Breskamp. „Nach dem großen Ereignis war der völlig erledigt. Konnte kaum sprechen. Aber brillant, wie er das Konzert gespielt hat. Da merktest du nichts von irgendeiner Erschütterung. Da saß jede Note, jeder Akkord. Großartig!! Weltklasse!“ Der Domorganist verzog das Gesicht und murmelte: „Das ist ja wohl auch seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.“

Tote Archivarin - Gute Archivarin

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