Читать книгу Tote Archivarin - Gute Archivarin - Georg Langenhorst - Страница 8

2.

Оглавление

„Was gibt es denn?“, fragte Kellert den ihm voran hastenden, vor Anstrengung leise keuchenden Priester. „Sehen Sie selbst!“, gab dieser knapp zurück. Dr. Breskamp führte den Kommissar zu der gewundenen Steintreppe rechts von dem großen, eigentlich immer geschlossenen Portal des Doms. Das schmiedeeiserne Trenngitter, das normalerweise den Zugang nach oben versperrte, war geöffnet. Der Prälat griff zu dem linksseitig angebrachten Geländer und zog sich von Stufe zu Stufe. Kellert folgte, ohne den Handlauf zu berühren.

Noch nie war der Kommissar hier oben auf der Orgelempore gewesen. Warum auch? Außerdem war der Zugang ja stets versperrt. Kellert war in Friedensberg aufgewachsen, und als Schüler hatten sie einmal im Rahmen des Religionsunterrichts eine Domführung unternommen. Aber hinauf zur Orgel hatte sie ihr Weg nicht geführt, da war er sich sicher. Der riesige Spieltisch mit den Manualen war hell erleuchtet. Ein Spiegel blitzte hinunter in das Kirchenschiff. Zwei Männer standen dort, in ein aufgeregtes Gespräch vertieft. Sie verstummten sofort, als sie die Neuankömmlinge bemerkten.

„Mathieu Gentreville, der ehrenwerte Künstler dieses Abends“, stellte ihm Breskamp den einen vor, den anderen als „Zinngruber, Prälat Johannes Zinngruber: der Domvikar, also der Bistumsbeauftragte für den Dom!“ Die Männer reichten sich mit knappem Druck die Hände. Johannes Zinngruber – auch er mit Priesterkragen, aber hager, hochgewachsen, asketisch wirkend – hatte die Lippen fest zusammengekniffen, sagte kein Wort, blinzelte ihm nur ernst zu. Und der weltberühmte Organist, dem Kellert die für ihn tatsächlich unvergesslichen, vierundachtzig einzeln abgezählten Minuten zu verdanken hatte, blickte mit wirren Augen durch den Raum, ohne sich auf einen Gegenstand oder eine der Personen fixieren zu können.

„Folgen Sie mir bitte!“, wandte sich Breskamp ohne große Umschweife an den Kommissar. Der Organist blieb zurück, sank auf die Sitzbank vor dem Spieltisch, während sich der Domvikar den vor ihm hergehenden Männern anschloss. Wie eine Burgmauer ragten die riesigen, metallenen, matt glänzenden Orgelpfeifen steil vor ihnen in die Höhe. Acht bis zehn Meter, schätzte Kellert mit schnellem Blick. Dicht an dicht. Die Empore gab davor nur einen schmalen Gang frei, auf dem man nur dann Raum fand, wenn man sich mit dem Gesicht zur Orgel oder in das Kirchenschiff nebeneinander gruppierte.

Aber dieser Gang führte bis zur Ecke des Orgelbaus und bog dann nach rechts ab. Kellert staunte, wie viel Platz dieses Instrument einnahm. Es mochte alles in allem an die fünfzehn Meter breit sein, und – wie er erst jetzt erkennen konnte – vielleicht acht Meter tief. Diese Ausmaße konnte man von unten, aus dem Kirchenschiff, bestenfalls erahnen.

Noch mehr staunte Kellert allerdings, als Breskamp auf eine kleine dreistufige Metallkonstruktion zuging, die zu einer schmalen, geöffneten Tür führte. Einer Tür hinein in die Orgel! „Vorsicht, Kopf einziehen!“, warnte der Vorangehende. Stimmt, für einen Mann wie Kellert mit etwas über eins achtzig Größe war der Durchgang zu niedrig. Und allzu breit durfte man auch nicht sein. Breskamp, einen halben Kopf kleiner als der Kommissar, dafür aber breithüftig und mit fülliger Bauchrundung, bewegte sich mit Mühe. Kellert, der im letzten Jahr fast fünf Kilo zugenommen hatte, ermahnte sich seinerseits kurz: ‚Junge, du musst wirklich abnehmen!‘ Aber er passte durchaus in den sich ihm nun öffnenden Raum.

Erstaunt blickte er sich um. Er befand sich in einer Welt, für die er noch keinerlei Vergleichsbilder abrufen konnte. Es roch intensiv nach Holz. Behandeltem, lackiertem Holz. ‚Ikea‘, dachte er unwillkürlich. Hinzu mischte sich ein metallischer Duft und etwas, das ihn an ‚Staub‘ denken ließ. Aber hatte Staub überhaupt einen Geruch? Erhellt wurde das Innere der Orgel von matten Glühbirnen, deren Verdrahtung sich wie ein Adernetz über die hölzernen Wände zog. Manche Winkel blieben unausgeleuchtet, andere waren gut erkennbar.

Vor ihm: ein enger, niedriger Gang, wie durch eine Tropfsteinhöhle. Aber hier tropfte nichts, hier war es trocken. Staubtrocken. Er räusperte sich. Rechts und links: eng aneinander geschmiegte Metallröhren, tausende. Manche dick wie mittlere Buchenstämme, andere dünn wie feine Äste. Außen, auf der von ihm abgewandten Seite, riesige Ungetüme, die sich in die Höhe verloren, das Ende nicht sichtbar. Innen, direkt zu berühren, Pfeifen, klein wie Streichhölzer, aber auch andere, deren Höhe bis zu seiner Körpergröße reichten. Nach einem für ihn nicht erkennbaren System. Ein wahnwitziger Irrgarten. Wie eine metallene Baumschule. Voller seltsamer, sich nach oben hin verjüngenden, mit jeweils einem feinen Schlitz versehenen Sprossen. Das Ganze war so groß wie ein Einfamilienhaus. Mit mehreren Etagen.

Kellert war nur kurz stehengeblieben, um sich zu orientieren, aber sein ungeduldiger Wegführer blickte wiederholt zurück und mahnte ihn so wortlos zur Eile. Eine Stiege führte nach unten, in ein anderes ‚Geschoss‘, eine Spur führte weiter geradeaus, aber Breskamp kletterte schwer atmend und rechts wie links an den Rändern schabend eine steile, schmale Holzleiter hoch, die sich nach rechts wandte. ‚Wie auf einem Hochsitz‘, dachte Kellert, ‚aber schmaler. Wie eng mag das sein?‘, überlegte er. ‚Sechzig, siebzig Zentimeter? Mehr jedenfalls nicht.‘ Seine Hüften streiften die hölzernen Wände des Aufstiegs, der sich drei Meter emporreckte.

‚Gott sei Dank habe ich keine Platzangst!‘, sagte er zu sich selbst. Und schmunzelte. Der Gedanke sollte ihn beruhigen, merkte er. Aber er kam gar nicht dazu, lange über diesen seltsamen Ort nachzudenken. Oben befand sich wieder eine kleine, enge Plattform, auf der Breskamp, den Priesterkragen lockernd und mühsam nach Luft schnappend, bereits auf ihn wartete. Doch, es gab Luft hier drinnen, aber die war unbewegt, schwer, irgendwie bleiern.

„Und?“, fragte Kellert, während er registrierte, dass Prälat Zinngruber in der Hauptetage der Orgel zurückgeblieben war. Seinen hochaufgeschossenen, hageren Körper musste er nach vorn bücken. Von dieser Haltung aus spähte er etwas linkisch zu ihnen hinauf. Für einen dritten Erwachsenen wäre hier oben aber tatsächlich auch kaum noch Platz gewesen.

Kellert witterte den säuerlichen Duft des schwitzenden Prälaten, der sich mit dessen süßlichem Rasierwasser zu einem unangenehmen Gemisch vermengte. Zurückweichen konnte er nicht. Den intuitiven Abstand, den man wann immer möglich zu anderen hielt, konnte man hier vergessen.

Nach außen fiel der Blick auf die obersten Teile der großen Orgelpfeifen, nach innen herrschte schwer durchdringliches Dämmerlicht. Langsam gewöhnten sich die Augen an die Sichtbedingungen. Nun erkannte Kellert: In den nach hinten weiter in die Tiefe führenden Raum war eine Sperrholzwand, so schien es ihm, eingezogen. Und darin befand sich, kaum wahrnehmbar, eine Tür. Mit Griff und Schloss. Wortlos wies Dr. Breskamp auf diese Tür, zog einen kleinen, unauffälligen Schlüssel aus der Westentasche seines Jacketts, und schloss auf.

Das Türschloss klemmte, Breskamp musste den Schlüssel mehrfach ansetzen und mit ihm herumstochern, dann ließ er sich drehen. Hatte Kellert da einen kleinen Fluch gehört? Breskamp bog den Türgriff nach unten, zog, nichts. Er rüttelte, setzte mit Kraft nach, bis sich die offensichtlich stark verklemmte Tür mit einem Schnappen nach außen öffnete. Als ob der Raum plötzlich mit einem Schnalzen Luft geholt hätte.

Ein dumpfer, abgestandener, muffiger, gleichwohl trockener, in jedem Fall unangenehmer Duft verbreitete sich. Die Luft in dem plötzlich geöffneten Kabuff war deutlich kühler als in der sonstigen Orgel. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung wies der Prälat den Kommissar an, hineinzuschauen oder hineinzugehen. Kellert war sich nicht sicher. Dieses Mal würde der Priester nicht die Führung übernehmen, soviel war klar.

Und Kellert war sich bewusst, dass ihn nichts Angenehmes erwartete. Wozu sonst all der Aufwand? Warum sonst wäre der normalhin so wortgewaltige Prälat plötzlich so stumm geworden, ja: erbleicht? Das war sogar in diesem Dämmerlicht unübersehbar: bleich, mit rot erhitzten Wangen und pulsierenden Adern an den Schläfen.

Kellert schluckte rasch, räusperte sich, versuchte vergeblich, den trockenen Hals zu befeuchten, ging die zwei erforderlichen Schritte und hielt sich am Türrahmen dieser seltsamen Kammer fest. ‚Kein Sperrholz‘, schoss es ihm durch den Kopf. ‚Das sind kompakte, dicke, eng schließende Balken. Massiv.‘

Er spähte in den Raum. Hier brannte keinerlei Licht. Es gab weder Leuchtbirnen noch Elektroleitungen oder Schalter. Es gab nicht einmal einen natürlichen Lichtschacht nach draußen. In dem abgeblendeten Mischlicht, das durch die weit geöffnete Tür fiel, konnte man aber Umrisse erkennen. Der Kommissar stutzte, wich instinktiv einen Schritt zurück. Griff dann in seine Hosentasche und holte sein Handy heraus.

Nein, immer noch liebte er diese Dinger nicht, aber er hatte sich inzwischen zumindest daran gewöhnt, sein Mobiltelefon mitzunehmen. Meistens war es ausgeschaltet. Ab und zu nutzte er es, um Beate eine kleine Nachricht zukommen zu lassen. Oder sich von einem der eingebauten Zeitvertreibsspiele ablenken zu lassen. Ein rotes Holzstöckchen aus einem scheinbar unmöglichen Wirrwarr zu befreien. Möglichst viele, unterschiedlich geformte Holzelemente in eine Reihe zu bringen und dadurch verschwinden zu lassen. Oder so.

„Old school“, lästerte sein Sohn Tobias immer, wenn das Gespräch auf den Umgang seines Vaters mit neueren Technologien kam. „Papa: du bist so was von old school, das kann man sich gar nicht vorstellen!“ Zunächst hatte er gar nicht verstanden, was sein Sohn damit meinte. Aber dann hatte Tobias eine Aufzählung begonnen, die gar nicht enden wollte.

Sie verfügten seit Ewigkeiten über ein Abonnement der Lokalzeitung; wenn er Bücher las, dann aus Papier als Hardcover, nicht als e-book; sie besaßen ein Festnetztelefon, dessen Nummer man im Telefonbuch nachschlagen konnte; er nutzte weder Twitter, Instagram noch Facebook; er hörte Musik von CDs, von denen er eine beträchtliche Sammlung besaß; er bevorzugte Filterkaffee aus der guten, alten, röchelnden Filtermaschine; wenn er den Fernseher nutzte, dann ARD oder ZDF, gegebenenfalls andere der klassischen Sender, aber kaum Netflix oder andere Streaming-Dienste … – diese Welt war in den Augen der Generation seiner Kinder längst überholt. ‚Old school‘, lächelte Bernd Kellert in sich hinein. ‚So schnell bist du also nicht mehr up to date.‘

Nun schaltete er das Handy ein, wartete auf die Betriebsbestätigung, gab seine Authentifizierung ein und drückte dann auf die Funktion der eingebauten Taschenlampe. Der fahle Lichtschein erhellte zwar nur ein enges Lichtfeld, aber das reichte ihm hier völlig aus. Was er sah, bestätigte seine vorherige Ahnung.

Kein Zweifel: Eine halb mumifizierte, halb skelettierte Leiche krümmte sich da über einen einfachen Holzstuhl, der vor einem groben Tisch stand. Ansonsten war die vielleicht zwei mal drei mal zwei Meter umfassende Kammer fast leer. Die primitiv gezimmerten Regalwände gähnten ihn ungenutzt an. Nägel, einige Holzlatten, ein alter Hammer, eine kleine Zange. Zwei, drei alte, verblichene, halb zerfledderte Zeitungen. Mit einem schnellen Blick erkannte er die Angabe der Jahreszahlen: 2014! Außer einer Staubschicht fand sich da ansonsten auf den ersten Blick nichts.

‚Komm, hinschauen!‘, zwang er sich. Denn dafür reichte all die Berufsroutine nicht: Leichen zu betrachten, fand er immer noch widerlich. Alles zog sich in ihm zusammen. Er hatte eine Hilfsmaßnahme entwickelt, die ihn über solche Krisenmomente hinwegtrug: Er sagte sich dreimal hintereinander in rascher Folge das Kürzel seines Lieblingsfußballvereins vor. Kindisch, aber es half. Jedes Mal. So auch jetzt.

Eine solche Leiche – irgendeine furchterregende Mischung aus Mumie und Skelett – hatte er noch nie gesehen. Nicht so. Umhüllt von ausgebleichten Stofffetzen, die vermodert waren, angefressen von Tieren, über die er jetzt nicht nachdenken wollte. Diese waren aber wohl auch für die – soweit man das sehen konnte – Modellierung von Haut und Knochen verantwortlich. ‚Seltsam‘, dachte Kellert, ‚es stinkt gar nicht so, wie ich das erwartet hätte‘. Der Schädel blickte zur Tür, irgendwie vorwurfsvoll, umstanden von einem wirren Bündel von Haaren. Lang, gelockt, so viel war noch erkennbar. ‚Eine Frau!‘, schoss es Kellert durch den Kopf.

All diese Eindrücke blitzten in wenigen Sekunden auf. Kellert wusste sofort, was zu tun war. Er kehrte auf die kleine Plattform vor diesem Kabuff zurück, atmete mehrmals tief durch, blickte auf das Handy, wollte die Nummer des Polizeipräsidiums eintippen, aber das Gerät verweigerte seinen Dienst. „Kein Empfang hier drin!“, meldete sich Dr. Breskamp nach längerem Schweigen. „Aber wir haben schon alles veranlasst!“

Der Kommissar blickte ihn fragend an. „Na, Ihre Kollegen sind informiert. Werden bestimmt bald hier sein“, erklärte der Prälat kurz angebunden, immer noch nach Luft schnappend und sich auf Halbsätze beschränkend. „Aber ich hatte Sie erkannt, bei dem Konzert. Saß zwei Reihen hinter Ihnen. Habe während des Konzerts ein bisschen über unsere Begegnungen nachgedacht. Ist ja schon einige Jahre her. Und da dachte ich, ich informiere Sie gleich. Sozusagen exklusiv.“ „Danke“, erwiderte Kellert und lächelte gequält. „Dann lassen wir alles so, wie es ist. Die Spurensicherung hasst es, wenn man ihnen durch die Szenerie stapft. Aber gut, dass Sie mir diesen Eindruck ermöglicht haben. Danke nochmals. Kommen Sie!“

Als Breskamp die Tür wieder abschließen wollte, legte ihm Kellert die Hand auf den Oberarm. „Lassen Sie. Das ist schon okay so. Dann brauchen Sie auch nicht noch einmal mit hier herauf.“ Der Prälat nickte dankbar und tastete sich zu der schmalen Stiege, die er lieber in gebückter Haltung mit dem Gesicht zu den Sprossen hinabklettern wollte. „Wir sollten dann einen besseren Ort für ein Gespräch finden“, schickte ihm Kellert hinterher. Noch einmal blickte er in die düstere Kammer, auf das schmale Podest, dann stieg auch er nach unten. Zwar mit den Händen an den Geländern, aber vorwärts und aufrecht.

Tote Archivarin - Gute Archivarin

Подняться наверх