Читать книгу Tote Archivarin - Gute Archivarin - Georg Langenhorst - Страница 7
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Оглавление‚Was, um Gottes Willen, mache ich hier?‘, fragte sich Kriminalhauptkommissar Bernd Kellert. Er rutschte auf der harten Holzbank hin und her, fand aber keine bequemere Sitzhaltung. Unauffällig wanderte sein Blick zur Armbanduhr, die er vorsichtig aus dem linken Ärmel seines frisch gebügelten Hemdes so zu sich drehte, dass seine Frau Beate, die rechts von ihm saß, davon nichts mitbekam. Hoffte er zumindest. ‚Erst zwanzig Minuten vorbei!‘, stellte er mit Schrecken fest.
Sie saßen in der vierten Reihe des Doms von Friedensberg, umtost von den mächtigen Klängen der berühmten Friedensberger Barock-Orgel. Weltweit eine der größten ihrer Art. Mit unvergleichlicher Tonfülle, behaupteten die Experten. Beate hatte es ihm extra aus einer Broschüre vorgelesen. Um ihm die Auszeichnung klarzumachen, als Ehrengäste zu diesem Konzert eingeladen zu sein. Der Ehre war er sich natürlich bewusst. Aber er hasste nun einmal Orgelmusik. Dieses aufdringliche Gepfeife und Gedröhne. Sein Musikgeschmack war von der Rockmusik der 60er und 70er Jahre geprägt. Des vergangenen Jahrhunderts. Hart, rhythmisch, grell, wild. Damit war er groß geworden. Die liebte er bis heute.
Seine Frau hingegen bevorzugte eindeutig die Kirchenmusik. Gerade hier, im Dom. Ihr zuliebe war er mitgekommen, natürlich. Aber allein das war es nicht, was ihn dazu getrieben hatte, sich dieser Tortur – so empfand er es – auszusetzen. Es war eine Einladung. Von Professor Elmar Maria Brandtstätter, Pastoraltheologe an der hiesigen Katholisch-Theologischen Fakultät. Immer mal wieder hatten sich ihre Wege gekreuzt, oft genug im Zusammenhang mit Mordfällen, die Bernd Kellert aufzuklären hatte. Und sie waren sich sympathisch, der Kommissar und der Professor.
Nun war Brandtstätter sechzig Jahre alt geworden und hatte sich zu seinem Geburtstag weder eine Festschrift oder ein Symposion noch ein Festbankett gewünscht – andere Kollegen begingen so dieses ehrenhafte Jubiläum –, sondern ein Orgelkonzert im Dom. Und hatte ihn, Bernd Kellert, dazu eingeladen. Und seine Frau, natürlich. Beate war sofort hellauf begeistert gewesen. Und ihm war nichts anderes übriggeblieben als zuzusagen.
Und so saß er hier an einem lauen Montagabend im Juni kurz vor sieben: nicht weit entfernt vom Bischof, von den anderen Lehrenden der Fakultät, von erstaunlich zahlreich erschienenen Priestern, von Lokalpolitikern und von allerlei Honoratioren des kirchlich-bürgerlichen Establishments der feinen Friedensberger Gesellschaft. Einige wenige von ihnen kannte er persönlich, andere wenigstens vom Sehen oder aus der Zeitung.
Beate war in Hochstimmung, das merkte er ihr an. Mitten unter all diesen so wichtigen und angesehenen Leuten zu sein, der Musik zu lauschen, ihn an ihrer Seite zu wissen: Das war für sie ein Höhepunkt dieses Jahres. Also machte ihr Mann gute Miene zum – für ihn – bösen Spiel. Streckte sein Kreuz durch, verdrängte die unangenehm harte Berührung mit der hölzernen Rückwand der Kirchenbank, umspielte mit den Füßen die Kniebänke auf der letztendlich vergeblichen Suche nach einer bequemen Abstellfläche, versuchte sich auf die Tonflut zu konzentrieren und ließ die Gedanken kommen und gehen. Wenn nur diese Musik nicht wäre! Diese!
Wieder ein verstohlener Blick zur Armbanduhr: nur fünf Minuten vergangen! Wenn du Momente genießt, vergeht die Zeit wie im Flug. Und manchmal zieht sie sich bleiern in die Länge. So ist das wirklich! Beate bemerkte seinen Blick auf die Uhr, schüttelte kaum merklich den Kopf und lächelte demonstrativ in andächtiger Versunkenheit vor sich hin.
Links von Bernd Kellert saß Karsten Kaiser, Organist aus ihrer Wohngemeinde Polzingen. Auch ihm war die Ehre einer Einladung zugekommen. Nun lächelte Kaiser leicht süffisant vor sich hin, denn die Gefühlslage des Kommissars war ihm nicht entgangen. Aber dann ließ auch er sich vom Fluss der Tonwirbel mitreißen und vergaß augenscheinlich, wo er sich gerade befand.
Brandtstätter war es gelungen, einen Organisten von internationalem Ruf nach Friedensberg zu locken: Mathieu Gentreville. „Der spielt normalerweise in Paris oder Mailand, stell dir das vor!“, hatte ihm Beate begeistert vorgeschwärmt. „Und jetzt bei uns in Friedensberg!“ Leider hatte diese ‚Koryphäe‘ – seine Frau hatte ihm das Wort Silbe für Silbe vorgesprochen – ein Programm ausgewählt, welches das Zuhören noch zusätzlich erschwerte. ‚Ist das jetzt modern, oder was?‘, fragte sich Kellert, während er die für seine Ohren unharmonischen Läufe, querklingenden Überlappungen und lärmenden Improvisationen über sich ergehen ließ.
Noch mehr als Orgelkonzerte hasste Kellert das, was anschließend auf ihn wartete: der ‚kleine Empfang‘, wie es auf der Einladungskarte angekündigt worden war. Das hieß ‚Smalltalk‘: Herumstehen mit einem Glas in der Hand; gezwungene Gespräche hier und da; verzweifelte Suche nach Menschen, die einen ansprachen; genaues Überlegen, wann und wie man sich wieder verabschieden und weiterziehen konnte. Und all das war ihm, der in seinem Beruf ständig reden musste, zuwider.
Hier erwies es sich als eine unschätzbare Erleichterung, Beate an seiner Seite zu wissen. Sie beherrschte das Spiel perfekt: lächelte, grüßte, zog ihn mit, gab ihm die richtigen Stichworte und Einsätze, führte ihn sicher durch das für ihn so ungeliebte Terrain. Sie wusste, dass er innerlich nur auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um sich verabschieden zu dürfen, ohne dass es unhöflich wäre. Auch in dieser Hinsicht hatte sie ein perfektes Gespür für das richtige Timing. Für ihr eigenes, für seines, für das des jeweiligen Anlasses. ‚Doch, verheiratet zu sein, hat durchaus seine Vorteile!‘, ging es Kellert durch den Kopf, während sich der Schlussakkord im weiten Raum des riesigen Kirchenschiffes in zahllosen, immer leiser werdenden Echoschleifen verlor, bevor ein erst zögerlicher, dann tosender Applaus das Kirchenschiff füllte.
‚Auf zum zweiten Teil des Abends!‘, sprach er sich Mut zu und setzte sein professionelles Mir-geht-es-gut-Lächeln auf. Doch es sollte anders kommen, als er es zugleich erwartet wie auch befürchtet hatte. Kaum, dass sie sich aus der Kirchenbank herausgeschält hatten, um der Karawane der geladenen Gäste in ein Nebenhaus zu folgen, drängte sich ein Mann in dunklem Anzug – ‚hallo, den haben hier alle an!‘, ermahnte sich Kellert zu genauerer Beobachtung – von hinten an ihn heran, und raunte ihm etwas zu.
Noch halb betäubt von der Orgel verstand Kellert erst nicht, was der Mann ihm zuraunte. Aber dann erkannte er den korpulenten, glatzköpfigen Mann an seiner Seite. Wie hieß der gleich wieder? Dr. Franz Joseph Breskamp, fiel es ihm ein. Auf sein gutes Personengedächtnis war immer noch Verlass. Prälat, Leiter irgendeiner bischöflichen Einrichtung. Auch ihm war er zwei-, dreimal bei seinen Ermittlungen begegnet. Eher unangenehme Erinnerungen. Der Mann war ihm von Grund auf unsympathisch, das wusste er noch genau. Selbst wenn er vergessen hatte, warum eigentlich.
„Herr Kommissar!?“, flüsterte ihm dieser Breskamp ins Ohr. Der zugleich gehetzte wie fragende Ton verhieß nichts Gutes. Beate schaute verunsichert und neugierig auf den ihr unbekannten Sechzigjährigen mit Priesterkragen. Was wollte der von ihrem Mann? Bernd Kellert war nicht weniger überrascht. „Ja?“, gab er rasch, knapp und leise zurück. „Kommen Sie, bitte! Wir brauchen Ihre Hilfe!“ ‚Wir‘, das klang schon einmal schlecht. Man hatte Breskamp zu ihm geschickt. ‚Man‘. Wer immer. Warum immer. Mimik und Tonfall des Priesters ließen keinen Zweifel an der Dringlichkeit seines Anliegens.
Kellert, vor Kurzem fünfundfünfzig geworden und mit mehr als vierunddreißig Dienstjahren auf dem Buckel, wusste, wann es ernst war. Und irgendwo im Hinterkopf loderte die überaus reizvolle Perspektive auf, unverhofft um den ungeliebten Empfang herumkommen zu können. „Beate, entschuldigst Du mich bitte für einen Moment?“, wandte er sich an seine Frau, ohne große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Sie schaute ihn aus großen Augen unverständig an, schüttelte kaum merklich fragend den Kopf. Aber sie kannte ihren Ehemann gut genug, um die Situation richtig einzuschätzen. „Ach, Herr Kaiser“, wandte sich Kellert an den Organisten ihrer Heimatgemeinde, der direkt hinter ihm aus der Bank getreten war. „Wären Sie eventuell so freundlich, meine Frau zu dem Empfang zu begleiten? Ich komme gleich nach.“
Karsten Kaiser, der Beate Kellert gut kannte, da sie oft seinen eigenen, weitaus bescheideneren Konzerten in der kleinen Kirche von Polzingen lauschte, zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe, zuckte mit den Achseln und antwortete umgehend: „Aber nichts lieber als das!“ Er wies der elegant gekleideten Frau mit der linken, ausgestreckten Hand den Weg. Sie stutzte einen Moment lang, nickte ihm dann freundlich wortlos zu, und schloss sich dem von ihm angedeuteten Zug der Ehrengäste an. Mit einem kurzen, besorgten Blick drehte sie sich noch einmal um, um ihrem Mann hinterherzuschauen. Der folgte mit gezügelten, aber raschen Schritten dem Prälaten in den nur wenig beleuchteten hinteren Teil des Doms.