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Währenddessen stand Bernd Kellert auf einer leicht wackeligen Leiter und strich eine Wand. Schon zum zweiten Mal, denn der erste Anstrich hatte noch immer die alten dunkelgrünen Farbschichten durchscheinen lassen. Vor etwas mehr als einem Jahr hatten sich seine Frau Beate und er zur Verblüffung ihrer Freunde entschlossen, ein altes Haus zu kaufen, das in Polzingen, einem kleinen Dorf flussaufwärts, lag, eine knappe halbe Autostunde von Friedensberg entfernt. Als alteingesessener Friedensberger hatte ihn dieser Entschluss selbst überrascht. Aber irgendwie wollte er noch einmal eine Veränderung.

Dass seine Kinder flügge wurden und die heimatliche Wohnung verließen, hatte ihn doch mehr getroffen, als er zugeben würde. ‚Mann, du gehst auf die fünfzig zu! Und den Rest des Lebens wirst du mit Beate allein verbringen‘, hatte er sich klargemacht. Und schon die Formulierung ‚Rest des Lebens‘ öffnete Abgründe, in die er lieber nicht genauer blicken wollte. ‚Ist das also die Midlife-Crisis?‘, hatte er sich gefragt. Und den Gedanken hinweggelächelt. Aber so leicht ließ er sich nicht verscheuchen.

Manchmal wachte er morgens auf und fragte sich, warum sich heute das Aufstehen eigentlich lohne. Solche Gefühle waren ihm normalerweise völlig fremd. Das war etwas, mit dem er nicht umgehen konnte. Sein eigener Vater hatte am Ende seines Lebens unter Altersdepressionen gelitten. Bernd Kellert wusste, was das für die Betroffenen und ihre ganze Umgebung bedeutete. Sich selbst hätte er aber immer als immun gegen diese Krankheit eingeschätzt. Auf einmal war er sich da nicht mehr so sicher.

Wie stark sein Leben eben auch von seiner Rolle als Vater geprägt gewesen war, hatte er bewusst gar nicht wahrgenommen. Nun, ohne die Kinder fehlte eine entscheidende Quelle des Antriebs. Seine Arbeit machte er nach wie vor gern. Und er war ein guter Polizist, das wusste er. Dass er die Welt letztlich nicht verbessern würde, das war ihm immer klar gewesen. Aber wenigstens ein bisschen sicherer und gerechter. Das reichte ihm. Immer noch.

Trotzdem: Sein Leben schrie nach Veränderung. Eines Morgens hatte die Idee ganz klar vor seinen Augen gestanden. Die vor ihm liegende Lebensphase brauchte noch einmal einen neuen Rahmen. Ein Umzug schien eine verlockende Idee, gerade weil sie so unvermutet kam. Beate war es recht gewesen. Vor allem der große alte Gemüse- und Obstgarten rund um das renovierungsbedürftige Gebäude, ein altes Knechtshaus, hatte sie gereizt. Da ihr Sohn Tobias in München studierte und kaum noch nach Hause kam, reichten ihnen die vier Zimmer. Jenny, die Tochter, stand damals kurz vor dem Abitur. Eine völlig neue Wohnumgebung passte zwar nicht in ihre Pläne, sie war aber noch für einige Monate mit aufs Land gezogen.

Inzwischen hatte sie ihr Studium aufgenommen – in Friedensberg – und war zu ihrem Freund in eine dortige Studi-WG gezogen. Kellert mochte diesen Mike nicht besonders. Was auf Gegenseitigkeit beruhte. Und die Konsequenz nach sich zog, dass sich auch Jenny nicht mehr oft bei ihnen blicken ließ. Ihr Zimmer hier in Polzingen stand ihr jedenfalls weiterhin zur Verfügung. Aber sie war inzwischen von einer Mitbewohnerin zu einer Besucherin geworden.

„Jetzt könntet ihr euch doch eigentlich einen Hund anschaffen, Paps!“, hatte Jenny bei einem ihrer letzten Besuche vorgeschlagen. „Platz ist genug, er würde euch ein bisschen auf Trab halten und“ – sie grinste schnippisch – „ihr müsstet Tobias und mir nicht mehr so nachtrauern.“

„Von wegen trauern“, hatte Bernd Kellert grimmassierend geantwortet, aber im Wissen, dass er nicht ganz aufrichtig war: „Froh sind wir, froh! Endlich Zeit für uns selbst! Da werden wir einen Teufel tun und uns einen Hund anschaffen. Dann bist du ja wieder gebunden. Dafür sind wir ja auch viel zu viel unterwegs. Ein Hund braucht seine festen Bezugspersonen, und die müssen auch für ihn da sein. Nee, nichts da! Abgesehen davon, dass ich Hunde ja auch nicht wirklich mag. Sie sind mir irgendwie zu anhänglich. Zu treu. Zu formbar.“

In einem hatte Jenny jedenfalls Recht: Für ihre Eltern bedeutete diese Zeit einen einschneidenden Prozess der Umgewöhnung. Zwanzig Jahre lang waren sie in wesentlichen Teilen ihres Lebens Vater und Mutter gewesen. Das blieben sie nun auch weiterhin, aber es bestimmte den Alltag fast gar nicht mehr. Das erlaubte tatsächlich neue Freiheiten, aber die mussten erst einmal erkannt und positiv gefüllt werden.

Für viele Bekannte der Kellerts war diese Phase des Umbruchs eine schwierige Zeit. Einige Kollegen hatten sich nach langjähriger Ehe scheiden lassen. Ohne die Kinder blieb einfach zu wenig Gemeinsames. Auch zwei Freundespaaren der Kellerts war es in den letzten beiden Jahren so ergangen. Und die Freunde forderten immer Parteinahme ein. Sie, ihre Freunde, sollten sich für das jeweilige Gegenüber, gegen die ehemalige Partnerin oder den ehemaligen Partner entscheiden. Aber wie sollte man das machen, wenn man beide mochte? Sie hatten folgende, wenig originelle Lösung gefunden: Beate blieb in Kontakt mit den Frauen, Bernd mit den Männern. Aber das war letztlich unbefriedigend. Die Beziehungen bröckelten mehr und mehr ab. Denn auch für die meisten der Betroffenen waren diese Neuaufbrüche nicht einfach.

Neuaufbrüche gab es auch bei ihnen, nicht nur im Blick auf den Umzug. „Und wir, Bernd?“, hatte Beate eines Abends gefragt, als sie sich mit wenig Anteilnahme eine blödsinnige Fernsehshow anschauten. „Was ist mit uns?“ Bernd Kellert hasste solche Gespräche. Wann immer möglich, versuchte er sie zu vermeiden. Er musste schon in seinem Beruf ständig im Leben anderer Menschen herumwühlen, Tiefenschichten freilegen, Verborgenes und Abgründiges an die Oberfläche bringen – da wollte er wenigstens zu Hause seine Ruhe haben. Psychologische Selbsterforschung? Komplizierte Partnergespräche? Wenig ertragreicher, immer wieder gleicher Austausch über das Leben der Kinder? – Bitte nicht!

„Beate das passt doch so“, hatte er gesagt und es auch so gemeint. „Ruhige Wasser, ich weiß. Aber brauchst du“ – er suchte nach einem Bild – „den ständigen Reiz der Sturmfluten? Ich nicht, dazu bin ich zu … zu müde. Ich bin einfach froh, in einem sicheren Hafen zu sein. Der die Stürme abhält. Lass uns den Hafen pflegen bitte!“ Seine Frau hatte ihn lange angeschaut. Dann genickt.

Ein bisschen mehr Spiel der Gezeiten, ein bisschen mehr Dynamik von Ebbe und Flut wäre Beate Kellert wohl nicht ganz unrecht gewesen. Aber sie verstand nur zu gut, dass für ihren Mann im Moment andere Prioritäten galten. Und sie war froh, heilfroh, dass er sich seine Selbstbestätigung nicht – wie so viele andere Männer in ihrem Bekanntenkreis – in anderen Beziehungen suchte. Meistens mit jüngeren Frauen. Als könnte man dadurch das Rad der Zeit zurückdrehen. So war Bernd Kellert nicht. Da war sie sich sicher. Und diese Sicherheit tat ihr gut.

Sie selbst hatte anders auf die Veränderungen des Lebens reagiert. Beate Kellert hatte ihren sicheren Halbtagsjob als Steuerfachkraft gekündigt und mit zwei Freundinnen in Friedensberg ein eigenes kleines Steuerberatungsbüro eröffnet. Dort arbeitete sie oft lange, kam manchmal erst nach ihrem Mann nach Hause. Aber es war eine selbstbestimmte Arbeit, die ihr Freude machte. Bernd Kellert war froh, dass sie auf diese Weise den Übergang in die Phase des Familienlebens ohne Kinder so gut geschafft hatte. Er nahm gern in Kauf, dass er nun manchmal in ein leeres Haus zurückkam.

Das so leer denn auch nicht war. Barry, der mit den Jahren dick gewordene orange-weiße Kater, wartete schon auf ihn. Das Tier hatte den Umzug anfangs sichtlich gehasst. Erst mit der Zeit hatte er sich an das neue Zuhause und die Umgebung gewöhnt. Inzwischen wusste er vor allem den großen Garten und die angrenzenden Nachbargrundstücke zu schätzen. Einen gewissen Anteil an seiner Gewichtszunahme hatte sicherlich die zeitgleich sich ereignende deutliche Reduktion des Mäusebestandes im Umfeld. Früher hatte Kellert den Kater eher ertragen als gemocht. Es war das Tier seiner Tochter. Da er seine Tochter liebte, akzeptierte er notgedrungen auch den Kater, von ihm zärtlich-verächtlich ‚Vieh‘ genannt.

Das Verhältnis Mann–Kater hatte sich jedoch schon vor zwei Jahren geändert, als Barry einmal für fünf Tage verschwunden war. Da hatte sich Kellert – gegen seinen Willen – eingestehen müssen, wie sehr er ‚das Vieh‘ vermisst hatte. Es war eben doch Teil der Familie. Und schon wegen Barry war der Gedanke an einen Hund völlig unrealistisch. Ein Hund und diese Katze unter einem Dach – das würde niemals gutgehen.

Dass ausgerechnet Jenny diesen Vorschlag gemacht hatte, der – streng genommen – der Kater gehörte, steigerte die Skurrilität dieser Idee nur noch ein weiteres Mal. „Wenn du Barry mit in deine Wohnung nach Friedensberg nimmst, dann können wir vielleicht über einen Hund nachdenken“, hatte Kellert gesagt. „Wie soll denn das gehen, Paps? In einer Studenten-WG!“, hatte Jenny zurückgegeben, der das derzeitige Arrangement ganz gut zu gefallen schien: Barry blieb ihre Katze, aber sie hatte keinerlei praktische Verantwortung. ‚Dir wäre es auch nicht Recht, Bernd!‘, ging ihrem Vater durch den Kopf. ‚Es würde dir schon fehlen, das Vieh!‘

In jedem Fall: Hier in Polzingen hatte sich das Verhalten Barrys noch einmal radikal gewandelt. Er stromerte meistens um das Haus herum und hatte ein feinfühliges Gespür dafür entwickelt, wann Bernd Kellert nach Hause kam. Immer – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – begrüßte er ihn, sobald dieser von der kleinen Nebenstraße, die von der Bundesstraße am Fluss abzweigte, auf das Grundstück einbog.

Ob er so wie heute mit seinem Sportrad ankam oder mit dem Auto, das Kellert nur benutzte, wenn das Wetter zu schlecht war oder er noch anderes zu erledigen hatte: Einige Minuten lang wich Barry dann nicht von seiner Seite. Erst irgendwann danach begab er sich wieder auf seine normalen Wege.

Auch heute sprang ihm der Kater fast in das Vorderrad seines Sportrennrads, bewahrte aber genau den nötigen Sicherheitsabstand, um eine Kollision zu verhindern. „Barry!“, rief Kellert erschrocken, während er heftig abbremste und abstieg. „Eines Tages werde ich dich blödes Vieh noch überfahren!“ Trotzdem beugte er sich zu dem Kater hinab und strich ihm über das Nackenfell.

Nach einem eilig heruntergeschlungenen Abendbrot – zwei Scheiben nicht mehr ganz frisches Bauernbrot mit Margarine und Schinken, dazu ein Glas Milch – stieg Bernd Kellert hinauf in den Dachboden seines Hauses. An dem alten Haus war immer noch und immer wieder etwas zu reparieren, auszubessern oder zu erneuern. Als Ausgleich zu seiner Tätigkeit im Beruf machte er diese Art von Hausarbeit gern. Ausgestattet mit alten, längst abgetragenen Kleidungsstücken machte er sich daran, eine frisch ausgebesserte Wand zu streichen. Als er fast fertig war, hörte er, wie sich die Haustür öffnete und wieder schloss.

„Bernd?“, klang es von unten – die gewohnte Stimme seiner Frau Beate. „Ich bin hier oben, komme in ein paar Minuten zu dir“, rief er zurück, unterbrach seine Arbeit jedoch nicht, sondern beendete sie in aller Ruhe. Er trat zwei Schritte zurück, betrachtete sein Werk, schien zufrieden, packte die Arbeitsutensilien zusammen und ging nach unten, um sich erst einmal gründlich zu säubern.

„Tja, wer tötet schon einen Priester?“ Kellert hatte seiner Frau von dem neuen Fall erzählt. Jetzt blickte er zu ihr hinüber. Sie hatten sich in ihr kleines, etwas winkliges, auf eigene Art gemütliches Wohnzimmer zurückgezogen. Barry war mit in das Haus hineingeschlüpft und machte es sich mitten auf dem Teppich bequem. Beate sah müde aus, erschöpft von einem langen Arbeitstag.

„Damals war es doch einer aus dem unmittelbaren Umfeld“, erinnerte sich Beate Kellert an die Tötung des Dekans der Katholischen Fakultät. „Einer seiner Kollegen. Könnte das nicht dieses Mal auch so sein?“ „Das kann stimmen, ja. Täter stammen meistens aus dem direkten Lebenskreis der Opfer“, schloss sich ihr Mann ihrer Vermutung an. „Es ist mehr als wahrscheinlich, dass das dieses Mal ähnlich ist. Nur: Was heißt das bei diesem Regens? Was heißt ‚Lebenskreis‘ bei einem zölibatär lebenden Mann in einem Priesterseminar?“

„Woher weißt du denn, dass der wirklich zölibatär gelebt hat? Man liest ja heute alles Mögliche, wie die so leben“, gab Beate Kellert zu bedenken: „Vielleicht liegt genau da ja auch das Motiv. Wer weiß?“ „Klar, daran habe ich natürlich auch schon gedacht“, entgegnete ihr Mann, „oder er war schwul, wurde erpresst oder was weiß ich. Solche Storys kennt man inzwischen nun wirklich zur Genüge. Aber irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen. So blöd ist die Kirche doch nicht! Ausgerechnet bei einem Mann, der so sehr im Fokus der Öffentlichkeit steht, werden die sich schon sehr genau überlegen, wen sie dafür auswählen.“

„Und wie geht es dir damit, in diese Männerwelt einzudringen?“, fragte Beate, nachdem sie einen Schluck Mineralwasser getrunken hatte. „Auf Frauen wirst du da wohl kaum stoßen, oder?“ – „Doch, klar gibt es da auch Frauen. Aber du hast schon recht. Natürlich ist das eine Männerwelt. Mit ganz eigenen Gesetzen, scheint mir. Ein bisschen kenne ich das ja von der Polizei. Als ich dort anfing, gab es da auch fast nur Männer. Hat sich ja geändert. Wobei die Typen bei der Polizei und dort im Priesterseminar schon sehr verschieden sind.“

„Das will ich doch schwer hoffen“, gab Beate zurück. Sie lehnte sich zurück, gähnte, legte sich die rechte Hand auf den Mund und blickte ins Leere. Bernd Kellert schwieg, sinnierte seinen Gedanken nach. Auch sein Blick verlor sich in der Dämmerung des abendlichen Wohnzimmers. „Morgen werde ich seine Mitarbeiter noch mal genauer befragen“, fügte er dann an. „Und ich will mit einigen der Studenten aus dem Haus sprechen. Ich brauche einfach einen noch viel genaueren Einblick, wie es da zugeht.“

Toter Regens - guter Regens

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