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„Schwester Luitgard, danke, dass Sie sich die Zeit nehmen!“ Kellert saß mit der für das Priesterseminar Friedensberg zuständigen, sicherlich siebzigjährigen, aber außerordentlich rüstig und geistig wach wirkenden Oberschwester in einem kleinen Garten, der sich versteckt in dem unübersichtlichen Gebäudekomplex verbarg. „Dort können wir ungestört reden“, hatte sie nach der gegenseitigen Vorstellung erklärt, „denn das ist allein unser Refugium. Und das unserer Gäste natürlich. Aber normalerweise sind wir Ordensschwestern da ganz unter uns. Und man sitzt da wirklich schön.“

So war es auch. Die auf allen Seiten drei Stockwerke hoch aufragenden Gebäude sorgten zwar für viel Schatten, trotzdem gab es eine kleine, von einem Wandelweg umsäumte Rasenfläche, mehrere halbhohe Büsche, einige abgeerntete oder in diesem Jahr nicht tragende Obstbäume: Kirsche, Birne, Pflaume, erkannte Kellert mit schnellem Blick. Rechts wölbte sich die Rückseite der hauseigenen Kapelle, auf den anderen Seiten wuchsen Mauern fast ohne Fenster in die Höhe. Nur linker Hand blickten einige wenige kleine Fensterhöhlen auf den Hof. „Unsere Schwesternzimmer“, hatte die Ordensfrau ungefragt, aber animiert von Kellerts fragendem Blick erklärt. Ein kleiner Ort der Ruhe.

„Ich verstehe noch nicht ganz, was Ihre Aufgabe im Priesterseminar ist, Schwester“, begann der Kommissar das Gespräch, das in einer kleinen, brombeer- und weinrankenumkränzten Laube in einer der Ecken des Hofes stattfand. „Ich dachte immer, dass das ein Ort ist, in dem wirklich nur Männer sind.“ Die Ordensfrau lachte auf: „So, das haben Sie erwartet? Weit gefehlt! Es gibt hier mehrere Frauen. In der Küche sind drei Damen beschäftigt. Die Verwaltung wird fast ausschließlich von zwei ausgezeichneten Bürokauffrauen erledigt. Und was glauben Sie, wer hier putzt?“

Kellert blickte ein bisschen beschämt zur Seite. So genau hatte er all das nicht bedacht. Aber dass die Frauen – bis auf die Bürodamen – vor allem Hilfsarbeiten leisteten, fand er irgendwie erniedrigend. „Und Sie, also die Schwestern?“, fragte er nach.

„Nun, wir vier versuchen den Betrieb zu unterstützen, wo immer das möglich ist. Wir sind für den Pfortendienst zuständig, Schwester Beatrix hilft im Garten. Wir helfen aber auch bei der Buchführung oder der Liturgie. Was immer anfällt. Wir sind außerdem auch Ansprechpartnerinnen für die Priesteramtskandidaten. Rein freiwillig und wie es sich ergibt. Für manche sind wir aber bestimmt wichtiger als der Regens, der Spiritual oder der Beichtvater. Die sind eben immer auch in ihrem Amt, ob sie das wollen oder nicht. Wir sind – wie soll ich das sagen – freischwebend. Gar kein schlechter Status. So wie unser Ordensgründer, der heilige Franziskus, das gewollt hat.“

„Ach, Sie sind Franziskanerinnen?“, fragte Kellert nach, dem der Name des Ordens natürlich geläufig war. Das war es aber schon an Grundwissen. Er kannte sich in der schwer durchschaubaren Landschaft der katholischen Ordensgemeinschaften kaum aus. „Genau, franziskanische Sozialschwestern“, bestätigte die Ordensfrau.

„Und ist Ihnen diese Tätigkeit – wie soll ich das sagen – genug? Ich meine: Sie dienen hier nur den jungen Herren, die Priester werden wollen. Könnten Sie nicht anderswo viel eigenständiger arbeiten und wirken?“ „Ich sehe schon“, schmunzelte Schwester Luitgard, „Sie schätzen unsere Tätigkeit hier nicht so hoch ein. Aber die Berufungspastoral – so heißt das bei uns – ist ein entscheidendes Feld für die Zukunft der Kirche. Ohne Priester geht die Kirche ein. Und daran mitzuwirken ist eine wichtige Aufgabe. Nein: Ich habe mich hier immer am genau richtigen Ort gefühlt. – Und Sie, Herr Kommissar? Fühlen Sie sich auch am richtigen Platz?“, fragte Schwester Luitgard nach einigen Momenten, in denen jeder seinen Gedanken nachgegangen war. Kellert blickte überrascht auf. Diese Frage hatte er sich lange Zeit nicht mehr gestellt. Geschweige denn, dass sie ihm im Normalfall in seinem beruflichen Alltag von einem seiner Gesprächspartner gestellt würde. Zögerlich antwortete er: „Ja, doch … Doch, das ist schon der richtige Beruf für mich, denke ich. Natürlich wünscht man sich manchmal, nicht immer nur in die Schattenseiten des Lebens einzutauchen …“

„Eben!“, unterbrach ihn die Ordensfrau. „Genau das habe ich mir auch überlegt. Nie haben Sie es mit gelingendem Leben zu tun. Mit Harmonie. Mit einem Alltag, der einfach gut ist, so wie er ist. Immer nur mit den Extremen des Scheiterns, des Zerbrechens, des Überschreitens von Grenzen der Menschlichkeit. Also ich … ich glaube, das könnte ich nicht.“

„Man gewöhnt sich daran, Schwester Luitgard, glauben Sie es mir!“, räumte Bernd Kellert ein, wurde aber wieder von seiner Gesprächspartnerin unterbrochen, die das Thema offensichtlich innerlich berührte. „Aber ist das gut, sich daran zu gewöhnen?“, fragte sie nach. „Sehen Sie, jetzt untersuchen Sie den Mord, diese furchtbare Tat an einem Pfarrer. Und Sie werden tief eintauchen in ein Milieu, das Ihnen sonst fremd ist. Aber Sie sehen wahrscheinlich nur das Negative dort. Suchen auch hier bei uns im Priesterseminar nach Motiven in den Abgründen des Menschseins. Das müssen Sie ja, schon klar.“

„Aber?“ „Aber, Herr Kommissar, Sie sehen nicht den Alltag. Sie bekommen keine Einsicht in all das Gute, das unsere Kirche stiftet. Den Kampf gegen Ungerechtigkeit und Einsamkeit; den Einsatz für Menschen in Not; die spirituelle und existentielle Beheimatung für Millionen von Menschen.“ „Doch, das sehe ich durchaus …“, wandte Kellert ein, erstaunt über die Wortwahl seines Gegenübers, kam aber nicht dazu auszureden.

„Nein, aber nicht so, wie es sein müsste. Was glauben Sie, wie viele gute Pfarrer es gibt! Die bis zur Erschöpfung für ihre Gemeinden arbeiten. Die nur wenig öffentliches Lob bekommen. Die in den Medien übersehen werden. Deren Fehlverhalten – das von Einzelnen, wohlgemerkt – aber sofort zur Sensation aufgebauscht wird. Bitte: Dass Ihre Wahrnehmung einseitig ist, ja sein muss, das muss Ihnen bei Ihren Ermittlungen immer klar sein, versprechen Sie es mir!“

Nachdenklich blickte Kellert auf Schwester Luitgard. Er strich sich mit der rechten Hand über das Kinn. Ja, sie hatte natürlich recht. All das vergaß die Öffentlichkeit oft. Er auch. Langsam nickte er. „Danke für die Mahnung, Schwester! Ich werde es versuchen.“

Toter Regens - guter Regens

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