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„Nun kommen Sie! Bitte reißen Sie sich zusammen. Sie können und müssen uns wirklich helfen!“ Bernd Kellert blickte auf den Mann hinab, der wie ein Häufchen Elend auf einem Holzstuhl saß. Zusammen mit Dominik Thiele befanden sie sich in einer Art Besprechungszimmer, drei Flure vom gleichfalls ebenerdigen Dienstzimmer des Regens entfernt. Sparsam ausgestattet – ein Tisch, vier Stühle, zwei Seitenregale, darauf eine Bibel und ein Dutzend bunt eingebundener schmaler Gedichtbände, alle von dem gleichen Autor, Andreas Knapp – war dies abgesehen von einem schlichten Holzkruzifixus ein kleiner, völlig schmuckloser Raum.

Maximilian Arenhövel, der Subregens des Priesterseminars, hatte auf ihr Eintreten zunächst fast gar nicht reagiert, sie kurz begrüßt, ansonsten aber wortlos und glasig vor sich hingeschaut, in sich gekehrt, niedergedrückt. Er mochte Mitte, vielleicht Ende dreißig sein. Sein etwas schwammiger, zur Dickleibigkeit neigender Körper schien ihm eher eine Last zu sein. Die unordentlichen, halblangen, zum Teil lockigen braunen Haare klebten an den schweißnassen Schläfen. Auch er trug einen schwarzen, wenn auch an den Seiten leicht kneifenden Anzug und einen steifen Kollar. ‚Offenbar eine Art Uniform hier‘, dachte Thiele.

Nach zwei, drei höflichen Versuchen, Arenhövel zu befragen, war Kellert der Geduldsfaden gerissen und er hatte eine etwas schärfere Tonart eingeschlagen. Und erstaunlich: Der Angesprochene zuckte zusammen, straffte sich und blickte sein Gegenüber erstmals an. Diese Form der Ansprache konnte offensichtlich seine Apathie durchstoßen. ‚Gott sei Dank‘, fuhr es Kellert durch den Kopf. Thiele beobachtete den Vorgang mit Interesse. ‚Das hätte ich mich nicht getraut‘, dachte er bei sich, ‚wieder was gelernt!‘

„Entschuldigen Sie, Sie haben ja völlig Recht!“, stammelte Arenhövel mit einer hohen, eher jungenhaften Stimme. „Aber ich bin völlig durcheinander. Der Regens – tot! Das kann doch einfach nicht wahr sein! Wer macht denn so was! Wie soll ich das den Seminaristen beibringen? Und wie dem Bischof? Und ich kann mir schon vorstellen, wie sich die Presse auf den Fall stürzen wird. Die suchen doch nur danach, uns wieder was ans Zeug zu flicken.“ Er blickte völlig verzweifelt und sichtlich überfordert auf Kellert, als erhoffte er sich von diesem wirklich Antworten auf seine Fragen und Hinweise auf Auswege aus der Situation. Thiele hatte auch er bislang völlig ignoriert.

„Bitte, Herr Arenhövel. Wir brauchen dringend einige Auskünfte von Ihnen!“, versuchte Kellert sein Gegenüber zur Konzentration zu mahnen. Er nahm einen der beiden übrigen freien Stühle, drehte ihn, setzte sich falsch herum darauf, legte die Arme über die nach vorn weisende Lehne und fuhr mit fester Stimme fort: „Wie war das also: Sie haben die Leiche, also den Regens, doch entdeckt, oder? Wann war das genau?“

Der Subregens schüttelte sich einmal, zweimal, dann aber hatte er sich gefasst. „Das war so“, begann er. „Montagmorgens treffen wir uns immer zur Wochenvorbesprechung, immer um halb acht, immer beim Regens.“ „Wir?“, unterbrach Kellert. „Wer?“ „Na, die Hausleitung“, entgegnete Arenhövel, als sei das völlig selbstverständlich, „also Regens Görtler, Spiritual Dietz und ich.“

„Entschuldigen Sie, dieser Dietz“ – unterbrach Kellert den nun sprudelnden Redefluss erneut, spürte aber gleichzeitig, dass er jetzt nicht auch noch nachfragen sollte, was das denn nun wieder sei, ein ‚Spiritual‘ – „war der auch dabei? Ist der jetzt auch im Haus?“ „Eben nicht“, entgegnete Arenhövel sofort. „Das war ja das Seltsame! Ich muss das wohl erklären. Wissen Sie: Eigentlich beginnen wir als Hausgemeinschaft die Woche immer mit der Laudes …“

Als er sah, dass ihn Kellert fragend anblickte, fügte er hinzu: „… also einem gemeinsamen Morgengebet in der Kapelle. Nur hatten wir freies Wochenende. Also: Bevor an der Uni das Wintersemester beginnt, dürfen die Alumnen“ – dieses Mal schaute Thiele fragend, Kellert zuckte unmerklich mit den Schultern – „noch einmal nach Hause oder jemanden besuchen oder was sie sonst so wollen. Im Semester haben sie ein dichtes Programm, da ist das viel schwieriger.“

„Und?“, unterbrach Kellert ungeduldig. Arenhövel, sichtlich gestört durch diese Unterbrechung, überlegte kurz, sprach aber dann, mit jedem Satz sicherer werdend, weiter: „Und deswegen habe ich ja weder den Regens noch den Spiritual bei der Laudes angetroffen. Normalerweise frühstücken wir danach auch zusammen, bevor wir uns dann an die Dienstgeschäfte machen. Ja …“ – er fuhr sich mit der rechten Hand über die Augen – „deshalb bin ich eben gegen halb acht direkt zum Regentenzimmer gegangen. Wie sonst in vergleichbaren Fällen auch. Die Tür war geschlossen, also habe ich geklopft. Drei Mal, glaube ich. Als ich keine Antwort bekam, dachte ich, dass ich vielleicht zu spät dran sei und die beiden anderen schon im Gespräch wären, mich möglicherweise nicht gehört hätten. Also habe ich die Klinke gedrückt und bin hineingegangen.“

„Die Tür war nicht abgeschlossen? Sind Sie da ganz sicher? Das ist wichtig!“, warf Thiele ein, der so zum ersten Mal die Rolle als reiner Beobachter aufgab. Der Subregens drehte sich ihm zu, runzelte kurz die schweißglänzende Stirn und meinte dann: „Unsinn, die ist nie abgeschlossen. Das gibt es hier bei uns nicht. Privatzimmer darf man schon mal abschließen, aber Dienstzimmer doch nicht! Nein, nein: Die war offen, so wie immer. Na ja, dann bin ich also rein. Und da lag er: zwischen Schreibtisch und Sofa. Der Kopf sah furchtbar aus. Und das viele Blut!“

„Sind Sie dann zu ihm hingegangen und haben überprüft, ob er noch lebt?“, griff nun Kellert wieder in das Gespräch ein. „Nein, das habe ich nicht. Das hätte jeder sehen können, dass der tot ist. Außerdem: Ich habe ein freiwilliges soziales Jahr gemacht als Rettungssanitäter. Glauben Sie mir: Ich kann das sofort sehen, ob einer tot ist oder noch lebt. Und hier gab es nicht den Hauch eines Zweifels. Der war tot!“

Kellert nickte ihm zu: „Und sind Sie dann noch in dem Raum herumgegangen? Haben Sie irgendetwas berührt oder mitgenommen? Oder irgendetwas Außergewöhnliches beobachtet?“ ‚Tse‘, dachte Thiele, ‚Bernd: du bist nicht ganz in Form. Drei Fragen auf einmal – die stellt man nicht. Eine der ersten Lektionen in Gesprächsführung!‘ Wie überhaupt: Kellert schien in der letzten Zeit bedrückt. Nicht mehr so elanvoll, nicht mehr in der Spannung, die Thiele in den ersten Jahren an seinem Chef beobachtet hatte.

Arenhövel schien sich an all dem aber nicht zu stören. „Nichts, gar nichts“, beteuerte er. „Ich bin sofort raus aus dem Raum, habe weder etwas berührt – wenn ich mich nicht täusche – noch etwas mitgenommen. Was denn auch? Und wie sollte ich irgendetwas dort beobachtet haben? Ich war – und bin – völlig durcheinander!“

„Das verstehe ich vollkommen“, erwiderte Kellert nun in ruhigerem, mäßigendem Ton. „Aber bitte versuchen Sie sich zu konzentrieren. Wie war das, als Sie den Raum betraten? War da ein Licht eingeschaltet? Brannten Kerzen?“

Arenhövel blickte den Kommissar überrascht an, runzelte die Stirn und dachte nach. „Nein, ein Licht war da nicht eingeschaltet, da bin ich sicher“, sagte er nach einiger Zeit. „Warum auch, es war ja taghell. Und Kerzen? Nein, da brannte keine Kerze. Wobei …“ – wieder überlegte er – „Regens Görtler hat abends gern Kerzenlicht in seinem Zimmer gehabt. Vielleicht haben Sie die großen Leuchter bemerkt. Die brannten oft stundenlang. ‚Das beruhigt mich‘, hat er immer gesagt.“

Thiele fragte nach: „Und Sie haben die sicher nicht ausgeblasen?“ Arenhövel wandte sich irritiert dem jüngeren der beiden Polizisten zu. „Nein, das habe ich doch gesagt! Da brannte keine Kerze, als ich den Raum betrat. Ganz sicher nicht! Auch wenn …“ – wieder versuchte er, sich genau zu erinnern – „da schon ein Kerzenduft in der Luft hing. Jetzt, wo Sie das ansprechen, fällt es mir wieder ein.“

„Seltsam! Sehr seltsam!“, überlegte Kellert. „Wer hat die denn dann gelöscht? Der Regens selbst, noch vor seinem Tod? Der Mörder? Aber was für ein Mörder löscht denn nach der Tat noch die Kerzen im Raum?“ Die drei Männer blickten sich ratlos an, jeder mit seinen Gedanken befasst.

Schließlich ergriff der Kommissar das Wort. „Eine vorerst letzte Frage habe ich aber noch: Dieser – wie hieß der gleich wieder? –“, er blickte hilfesuchend zu Thiele, der sofort „Dietz“ sagte. „Richtig, dieser Dietz, also der …“ – „Spiritual“, ergänzte dieses Mal Arenhövel – „kam der dann noch? Ist er jetzt auch hier?“ Der Subregens zögerte mit der Antwort, blickte von Kellert zu Thiele und wieder zurück, erwiderte dann: „Keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Ich habe ihn noch nicht gesehen. Und das ist sehr ungewöhnlich. Günther ist sonst ausgesprochen zuverlässig.“

Kellert überlegte einen kurzen Moment. Dann stand er auf, legte dem Subregens die rechte Hand auf die Schulter und sagte: „Vielen Dank, Herr Arenhövel. Ich kann mir vorstellen, dass das für Sie jetzt nicht leicht ist. Aber wir brauchen wirklich so früh wie möglich genaueste Informationen. Sind eigentlich alle Bewohner des Hauses jetzt hier?“ Auch Arenhövel stand nun auf und blickte dankbar auf den Kommissar.

„Ich denke schon“, gab er zurück. „Die Alumnen sind ja jetzt aus ihrem freien Wochenende zurück. Und haben natürlich alle mitgekriegt, was hier los ist. Wahrscheinlich kochen in der Gerüchteküche wilde Spekulationen. Irgendetwas wird sich längst herumgesprochen haben. Um Gottes willen, wie soll das nur weitergehen?“

„Das zumindest kann ich Ihnen sagen“, erwiderte Kellert. „Wir rufen für“ – er blickte auf seine Armbanduhr – „elf Uhr eine Versammlung ein von allen, die hier im Haus leben oder arbeiten. Sie haben dafür doch sicherlich einen geeigneten Raum?“ Arenhövel nickte, während Kellert weitersprach: „Keine Sorge: Ich führe das Wort. Halten Sie sich bitte zurück. Und du“ – hier blickte er zu Thiele, der sich ebenfalls erhoben hatte – „versuchst erst einmal rauszukriegen, wo dieser Dietz abgeblieben ist.“

Toter Regens - guter Regens

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