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Vorspiel – Endspiel

‚Muss ich das wirklich?‘, fragte sich Regens Dr. Norbert Görtler ein letztes Mal. Einige Minuten hatte er am Schreibtisch seines Dienstzimmers gesessen, nachgedacht, wieder und wieder die vor ihm liegenden Unterlagen und Papiere betrachtet, umgeblättert, zurückgelegt. Wie immer war er tadellos gekleidet: im schwarzen Anzug und mit – von den das Haus versorgenden Ordensschwestern – gut gebügeltem weißem Hemd.

Seine mittelgroße, hagere, asketisch wirkende Gestalt, sein millimeterkurz geschnittener, dunkel schimmernder Haarkranz um eine frühe Dreiviertelglatze, seine strengen, kaum das Lächeln gewohnten Gesichtszüge ließen auf einen Mann schließen, der sein Leben vor allem als Pflicht ansah.

Nun stand er auf und ging wie ziellos durch den viel zu großen, hallenartigen Raum, der trotz aller erkennbaren Mühen nicht heimelig wirkte. Die gründerzeitlichen Repräsentationsräume des Priesterseminars von Friedensberg waren viel zu hoch. Jetzt, spätabends Anfang Oktober, konnte man die mit Stuckornamenten verzierte, weiß getünchte Raumdecke kaum noch erkennen. Die mit Aktenordnern und Büchern dicht gefüllten Regale ließen eher an eine Bibliothek denken als an einen Raum, in dem nicht nur typische Büroarbeiten zu erledigen waren, sondern wo vielmehr auch sehr persönliche, mitunter heikle, manchmal lebensentscheidende Gespräche geführt werden mussten.

Mit der rechten Hand lockerte Görtler den Kollar, den eng anliegenden weißen Priesterkragen. Dann griff er zur Stirn, massierte sie, den Daumen rechts, die vier Finger links der Schläfe. Quer über die linke Hand schlängelte sich eine deutlich erkennbare, aber längst verheilte rötlich glänzende Narbe. Mit dieser Hand stützte er sich auf dem braungrauen Sofa der Sitzgruppe ab, die sich auf dem schon ziemlich abgetretenen Teppichquadrat am anderen Ende des Raumes gruppierte. Göttler drehte sich zur Seite und blickte auf das übermannshohe Kreuz, das an der Seitenwand hing, hoch über einem grünblau beleuchteten Aquarium, in dem lautlos mehr als ein Dutzend kleine, bunt glitzernde Fische hin und her schwammen.

Die Lüftungsanlage des Aquariums speiste winzige, kaum hörbare Blubbergeräusche in den hallenartigen Raum, ansonsten war es still. Ab und zu hörte man eines der seltenen Fahrzeuge, die draußen durch die enge Von-Balthasar-Straße fuhren, aber die doppelte Wärme-Isolierung der Fenster ließ auch hier nur eine Ahnung von Geräusch zu. Vier Kerzen brannten – eine auf dem Schreibtisch, eine auf dem Tisch der Sitzgruppe, zwei weitere auf zwei großen, im Raum verteilten holzgedrechselten Ständern. Die Schreibtischlampe war eingeschaltet, dazu eine heruntergedimmte Stehleuchte bei der Sitzgruppe.

„Muss ich?“, flüsterte Görtler, die Augen auf das Kreuz, auf den Kruzifixus gerichtet. Vier Sekunden vergingen, sechs, neun. Dann schnaufte er einmal tief durch, sein Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. Mit kraftvollen Schritten ging er zum Schreibtisch und setzte sich auf den wegen seiner Rückenprobleme eigens für ihn angefertigten orthopädischen Rollenstuhl. ‚Also gut!‘, dachte er. ‚Ich fürchte, es geht nicht anders. Leider!‘

Er nahm das Schnurlostelefon von der Basisstation, überlegte kurz, tippte dann eine Zahlenkombination ein und wartete. Gespannt, konzentriert blickte er auf das Gerät in seiner Hand. ‚Nicht da?‘, fragte er sich kurz. ‚Oder hast du erkannt, wer dich sprechen will, und keine Lust abzunehmen?‘ Da aber meldete sich eine Stimme am anderen Ende, die des erwarteten Gesprächspartners. „Ich muss Sie sprechen“, forderte Görtler mit sicherer und weisungsgewohnter Stimme, „jetzt!“

Er lauschte kurz in das Gerät, unterbrach jedoch den Wortfluss seines Gegenübers mit einem schneidenden „Nein, das kann nicht bis morgen warten! Ich habe schon viel zu lange tatenlos zugeschaut. Nein, ich werde das nicht mehr hinnehmen! Wir müssen die Angelegenheit nun endlich klären. Definitiv.“ Wieder hörte er auf die Worte seines Gegenübers. Dessen Protest war kleinlauter dieses Mal, so viel war zu ahnen.

„Ja, ich bin in meinem Büro. Den ganzen Abend. Sie können kommen, ich bin da.“ Mit einem Seufzen legte er das Handgerät zurück auf die Station, atmete einmal kräftig durch, lehnte sich zurück und streckte die Arme nach oben. ‚Gut, dann muss es eben sein‘, ging es ihm durch den Kopf.

Dass er mit diesem Telefonanruf sein eigenes Todesurteil ausgesprochen hatte, konnte Dr. Norbert Görtler, Spross einer alteingesessenten Friedensberger Großfamilie, die viele Priester hervorgebracht hatte, nicht ahnen. Auch in seinen unheilvollsten Albträumen hätte er zwar vieles für möglich gehalten, das jedoch nicht. Nur noch ein einziger Mensch würde je wieder mit ihm, dem zweiundvierzigjährigen Regens des Priesterseminars von Friedensberg, ein Wort wechseln: sein Mörder.

Toter Regens - guter Regens

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