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4.

Die beiden Kriminalbeamten hatten dem freundlichen Austausch neugierig gelauscht, wortlos, aber mit unausgesprochener Dankbarkeit der Sekretärin zugenickt und nahmen sich nun jeweils einen Kaffee. „Gratuliere!“, mischte sich Kellert nun ein. „Da haben Sie einen guten Fang gemacht. Das sieht man gleich. Also wenn unsere gute Sekretärin in zwei Jahren in den Ruhestand geht, melde ich mich bei Ihnen.“

„Unterstehen Sie sich!“, gab Ingrid Wiesmüller spielerisch mit dem Zeigefinger drohend zurück. „Die brauchen wir schon selbst!“ Das kleine, unaufgeregte verbale Intermezzo tat allen im Raum gut, das war deutlich zu spüren. Selbst Ingrid Wiesmüller hatte sich in ihrem Sessel zurückgelehnt und saß nun viel entspannter da als zuvor. Aber es half ja nichts. Sie waren nicht zum Plaudern zusammengekommen.

„Nun sind wir hier, weil Ihr Alltag völlig aus den Angeln gehoben wurde“, führte Kommissar Kellert zum eigentlichen Anlass des Gespräches zurück. „Ihr Chef, Dr. Geißendörfner, ist ermordet worden. Äußerst brutal. Da hat jemand in großer Wut und aus tiefem Hass gehandelt. Der Kessel ist explodiert. Darum geht es. Wir“ – hier deutete Bernd Kellert auf seine Mitarbeiterin, was diese dankbar zur Kenntnis nahm – „müssen und werden diese Tat aufklären.“

Seine Augen verengten sich, seine Miene drückte bittere Entschlossenheit aus. „Und ob das nun aus einem scheinbar nichtigen Anlass heraus passierte“ – hier blickte er nickend zu Frau Wiesmüller – „oder ob da doch eine schwierigere Geschichte dahintersteckt, das werden wir sehen. Auch, ob es etwas mit Dr. Geißendörfners Tätigkeit hier am Domgymnasium zu tun hat. Das ist natürlich nur eine von mehreren Möglichkeiten. Keine Sorge, unsere Ermittlungen setzen breit an. Wir werden alles prüfen, das kann ich Ihnen versichern! Alles!“

Er blickte konzentriert, aber lächelnd auf die drei Mitarbeitenden des Direktorates. Sie bildeten nun die Leitung des KaRaGe. „Ich bin Ihnen für alle Form der Mitwirkung dankbar“, sicherte der Kommissar ihnen zu, „und glauben Sie mir: Ich weiß, wie heikel diese Angelegenheit ist. Ihr Schulbetrieb muss weitergehen. Das ist mir völlig klar. Und ich verspreche Ihnen größtmögliche Diskretion und Vorsicht. Soweit es eben machbar ist.“

Dankbar und Zustimmung signalisierend lächelte ihn der Schulpfarrer an. Thomas Brox nickte, ohne große Gefühlsregungen erkennen zu lassen. Ingrid Wiesmüller hingegen schaute Kellert herausfordernd und mit leicht skeptischem Schmunzeln an. Wenn ein Kommissar so begann, würde er etwas wollen, da war sie sich sicher. Rhetorisch geschult war sie selbst eben auch. ‚Gib ihnen etwas, bevor du etwas von ihnen willst.‘ Jaja, leicht durchschaubar. ‚Also: Nur heraus damit!‘, dachte sie.

Ihre Erwartung wurde nicht enttäuscht: „Ja, wie war er denn nun, Ihr Chef?“, fragte Kellert. „Als Direktor der Schule und als Mensch. Ich möchte, nein muss mir ein möglichst genaues Bild von ihm machen. Bitte, es geht nicht um eine verklärende Erinnerung von wegen ‚über Tote sagt man nichts Schlechtes‘. Das würde weder Ihnen helfen noch mir. Ich muss verstehen, was für ein Mensch er war.“

Die stellvertretende Schulleiterin fühlte ganz selbstverständlich sich selbst als Erste angesprochen und antwortete ganz direkt: „Da kann ich Ihnen nur wenig sagen, Herr Kommissar. Ich bin erst vor zweieinhalb Jahren an diese Schule gekommen. Vorher war ich an einem kirchlichen Gymnasium in Würzburg. Als hier am KaRaGe die Stellvertretung ausgeschrieben war, habe ich mich beworben. Seitdem bin ich hier. Mit dem Chef hatte ich privat fast keinen Kontakt. Aber wir sind alles in allem gut miteinander klargekommen. Als Schulleiter war er fraglos kompetent: ein echter Pädagoge. Vielleicht ein bisschen zu nachgiebig gegenüber Eltern und Schülern. Ich wäre manchmal etwas härter gewesen. Nein, nicht härter, klarer.“

‚Das glaube ich dir aufs Wort‘, dachte Kellert. Unterdessen hatte Ulrich Schongauer das Wort ergriffen. „Ich kenne – kannte – den Bertram am längsten. Zumindest seit Lilli nicht mehr hier ist.“ Kellert blickte ihn irritiert an. Schongauer fing seinen Blick auf und ergänzte sofort: „Lilli Schildbach, die Vorgängerin von Frau Wiesmüller. Die ehemalige zweite Chefin. Also die war eine Ewigkeit hier an der Schule.“

Schongauer hatte den Faden verloren, überlegte kurz, strich sich mit der linken Hand über die Glatze, dann fiel ihm sichtlich wieder ein, was er hatte sagen wollen: „Jedenfalls: Wir haben damals zusammen Philosophie studiert, der Bertram und ich, hier an der Uni in Friedensberg. Ich im Rahmen meines Theologiestudiums, er als angehender Philosophielehrer. Philosophie, Latein, Griechisch, das war seine Kombination. Das sagt schon vieles über ihn aus. Ein Humanist. Ich sage immer: ein wahrhaft humaner Humanist. Breit gebildet. Humorvoll. Gütig.“

Die stellvertretende Direktorin wollte etwas einwerfen, aber dieses Mal setzte sich der Schulpfarrer durch: „ … wenn man ihn ließ. Nicht alles lässt sich mit Güte klären. Leider Gottes! Ach ja: Noch etwas! Er war ein gläubiger Mensch. Ein Katholik natürlich, sonst hätte er diese Schule nicht leiten dürfen. Aber aus Überzeugung, nicht wie manche hier“ – er vermied bewusst, jemanden konkret anzublicken – „nur pro forma. Aber er trug seinen Glauben nicht vor sich her. Er war einfach Teil seines Lebens. Und das – behaupte ich jetzt einfach mal – haben die Schülerinnen und Schüler auch gespürt.“

Nachdenklich blickte Ulrich Schongauer vor sich hin. Er tupfte sich sanft mit der rechten Hand über die Wange. Zerdrückte er eine heimliche Träne? Er kämpfte sichtlich darum, die Beherrschung nicht zu verlieren. Erfolgreich. Mit unveränderter Stimme sprach er weiter: „Dann haben wir uns überraschend hier an der Schule wieder getroffen, der Bertram und ich. Er stammte ja von hier. Seine Familie hat hier einen guten Namen, und das schon seit Generationen. Damals war er noch stellvertretender Direktor. Und der Lobkowitz der Chef. Zwölf Jahre ist das jetzt her.“

Er rechnete nach: „Ja, zwölf Jahre. Gute Jahre. Geprägt von vertrauensvoller Zusammenarbeit. Fast immer.“ Wieder hielt er inne: „Das Bistum hätte keinen besseren Direktor für diese Schule finden können, denke ich. Er hätte alles getan, um den guten Ruf der Schule – seiner Schule, wie er immer sagte – zu retten, falls er bedroht wäre.“ Er blickte kurz, von dieser unbemerkt, auf Ingrid Wiesmüller. „Er wird fehlen. Der Schule. Mir.“

Fragend blickte Kellert zu Thomas Brox. Aber der zuckte nur mit den Schultern und meinte leichthin: „Dem kann ich eigentlich nichts mehr hinzufügen. So sehe ich das auch. Selbst wenn ich in manchem anderer Meinung war als der Chef. Politisch. Und pädagogisch. Aber wir haben uns respektiert. Sonst hätte er vor sechs Jahren ja wohl kaum meiner Beförderung in die Schulleitung zugestimmt, oder?“

Er überlegte und fügte dann doch noch einen Gedanken hinzu: „Nun, pressegeil war er, ist ja klar.“ „Wie bitte?“ Kellert war sich nicht sicher, ob er sich verhört hatte. „Pressegeil“, wiederholte Brox mit verächtlichem Gesichtsausdruck. „Aber das sind alle Direktoren. Wollen, dass ihre Schule in den Zeitungen auftaucht, auch im Internet. Natürlich nur mit positiver Außendarstellung. Über jede Kleinigkeit soll berichtet werden. Je mehr, desto besser. Und möglichst selber mit drauf auf das Foto. Auf einer Seite mit den Kaninchenzüchtern und Schützenvereinen.“

Ingrid Wiesmüller hatte mit zunehmendem Kopfschütteln zugehört. Jetzt schaltete sie sich ein. „Kollege Brox, was soll das? Sie wissen doch so gut wie wir alle, dass man heute in den Medien präsent sein muss. Sonst wird man nicht wahrgenommen. Da machen die Schulen keine Ausnahme. Sie haben Recht, Dr. Geißendörfner wollte, dass über das KaRaGe möglichst oft berichtet wurde. Aber doch nicht aus persönlicher Eitelkeit! Es ging ihm um den Ruf der Schule. Immer.“

Die stellvertretende Schulleiterin sprach scharf und klar. Sie ließ keinerlei Rückfragen an die Integrität ihres Chefs zu. ‚Loyal, auch über den Tod hinaus‘, dachte Kellert, während sie weitersprach, teils an die Besucher gerichtet, teils an die beiden Kollegen: „Dr. Geißendörfner war sich über die lange Tradition des Domgymnasiums nur zu gut im Klaren. Und er wusste, dass auch sein Porträt einmal in Öl gemalt drüben im Festsaal hängen wird. Wie es eben so üblich ist. Tradition verpflichtet!“

Brox zog eine Grimasse, was Ingrid Wiesmüller geflissentlich übersah. „Wir leben in einer Gesellschaft, die sich viel zu rasch über jahrhundertelang bewährte Erfahrungen und Werte hinwegsetzt“, dozierte sie weiter. „Wir hier versuchen, dem entgegenzusteuern, Dr. Geißendörfner allen voran. Aber verstehen Sie mich richtig“, hier wandte sie sich an ihre beiden Besucher. „Er war gleichzeitig ein Kind seiner Zeit und ein Mensch der Gegenwart. Traditionsbewusstheit und offene Zeitgenossenschaft schließen einander nicht aus. Im Gegenteil! Dafür steht unsere Schule. Dafür stand unser Chef. Dafür! Und er wusste, dass Medienarbeit und Außendarstellung ein unverzichtbarer Teil moderner Schulführung sind.“ Sie konnte sich eine kleine Spitze nicht verkneifen: „Auch wenn Sie da anderer Ansicht sein mögen.“

Thomas Brox grinste matt, sparte sich aber eine Erwiderung. Unnötig. Er winkte kaum wahrnehmbar mit der rechten Hand ab. Plötzlich fiel ihm jedoch noch etwas ein: „Sie sollten mit der Teresa sprechen! Teresa Andernach, unsere Schülersprecherin. Zwölfte Klasse. Die kann Ihnen die Sicht der Schülerinnen und Schüler am besten nahebringen. Wenn Sie ein komplettes Bild haben wollen, sollte diese Stimme doch nicht fehlen. Oder sehen Sie das anders, Frau Kollegin?“

Ingrid Wiesmüller, an die sich diese Frage natürlich gerichtet hatte, kniff die Lippen zusammen, hielt es aber offensichtlich unter ihrer Würde, darauf einzugehen. Immerhin senkte sie sekundenlang die Lider und schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Brox fügte an: „Teresa Andernach: eine selbstbewusste junge Dame, Sie werden es schon sehen. Und die hat auch ihre Sträußchen mit dem Chef ausgefochten, wenn ich mich richtig entsinne.“ Er wandte sich an seine beiden Kollegen. „Das wäre doch sinnvoll, oder?“

Ingrid Wiesmüller blickte nach wie vor skeptisch. „Was soll das schon bringen? Ich würde die Schülerinnen und Schüler gern aus der ganzen Sache heraushalten.“ „Das geht nicht. Sie sind doch schon mittendrin“, fiel ihr Thomas Brox ins Wort. Missbilligend blickte sie ihn an. „Vielleicht. Wenn es nicht anders geht. Aber bitte“ – sie blickte die beiden Polizisten an – „mit aller Zurückhaltung. Und glauben Sie der Teresa nicht alles, was sie sagt. Sie neigt zu sehr einseitiger Wahrnehmung und Darstellung.“

Brox wollte widersprechen, aber die stellvertretende Schulleiterin hatte inzwischen wieder die Kontrolle über die Gesprächsführung übernommen. Ihr Blick ließ ihn verstummen. Kellert warf ein: „Gut, dann bestellen Sie doch bitte dieser Schülerin, dass ich sie sprechen möchte. Dass wir sie sprechen wollen“, korrigierte er sich.

Ingrid Wiesmüller nickte, hüstelte, blickte auf die Wanduhr, die sich zwischen den großformatigen Gemälden berühmter Persönlichkeiten von Friedensberg und dieses Gymnasiums fast zu verstecken schien. Sie wandte sich an die beiden Besucher: „Oh! In fünf Minuten ist große Pause. Da müssen wir für die Kolleginnen und Kollegen da sein. Gerade heute! Das werden Sie verstehen, oder?“

Die stellvertretende Schulleiterin schaute die beiden Kriminalbeamten mit scharfem Blick an. Sie spürte durchaus, dass sie das Gespräch so nicht beenden konnte und noch irgendetwas Verbindliches anfügen musste. „Natürlich werden wir die Kolleginnen und Kollegen auffordern, bestmöglich mit Ihnen zu kooperieren“, fügte sie an. „Und dass sie von sich aus auf Sie zugehen, falls ihnen irgendetwas Außergewöhnliches aufgefallen ist. Erhoffen Sie sich davon jedoch nicht zu viel. Aber wir werden es zumindest versuchen. Und bitte teilen Sie uns mit, wenn wir Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein können. Je eher wir wissen, warum diese furchtbare Tat geschah, umso besser!“

Bernd Kellert nickte wortlos. Nein, in diesem Ton ließ er normalerweise nicht mit sich und seinen Kollegen reden. Sein Gegenüber schien sich über die Rollenverteilung, die nun zwischen ihnen herrschte, nicht ganz im Klaren zu sein. Aber das würde er dieser Frau Wiesmüller – falls nötig – zu gegebener Zeit schon deutlich machen. Nicht jetzt, nicht hier.

Er legte die Karte mit seinen Kontaktdaten auf den Rundtisch in der Mitte des Raumes. Die stellvertretende Direktorin hatte nichts anderes erwartet. Sie beendete ihre Ausführungen ohne Pause: „Wenn also jetzt von Ihrer Seite aus nichts ganz Dringendes mehr ansteht …“

Sie ließ den Satz ausklingen. Die Botschaft war deutlich. Kellert überlegte kurz, schien noch etwas anfügen zu wollen, verabschiedete sich dann jedoch und verließ mit seiner jungen Mitarbeiterin das Direktorat. Sie würden aber gewiss noch im Sekretariat vorbeischauen, um sich von Saskia Blum zu verabschieden.

Toter Chef - guter Chef

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