Читать книгу Toter Chef - guter Chef - Georg Langenhorst - Страница 12
Оглавление6.
Bernd Kellert und Hannah Mellrich waren immer noch im Karl-Rahner-Gymnasium. Der Kommissar hatte erstaunlich lange mit der Chefsekretärin geplaudert. ‚Fast schon geflirtet‘, hatte Hannah Mellrich gedacht, die wie ein drittes Rad am Roller unbeteiligt danebengestanden hatte. Als sie nun das vom Pausenlärm gefüllte Schulgebäude gerade verlassen wollten, kam ein gehetzt wirkender Mann auf sie zu, gefolgt von zwei Frauen. „Herr Kommissar! Warten Sie! So warten Sie doch! Ich muss mit Ihnen reden!“, rief er.
Kellert musterte den Mann, der ihn mit nikotinfleckigen Fingern am linken Jackenärmel festhielt. Derartige Übergriffe hasste er. Mit einem leichten Ruck riss er sich daher unwirsch los. Er straffte sich und wirkte noch einmal deutlich größer, als es seine eins einundachtzig hergaben. Der deutlich kleinere Mann vor ihm war Ende fünfzig, vielleicht Anfang sechzig, so schätzte er. Die beige Cordhose hatte schon bessere Tage gesehen, auch das rotweiß karierte Hemd und die blaue Weste waren zwar nicht schmutzig, wirkten aber abgetragen. Die fahlblonden, an einigen Stellen fast zur Farblosigkeit verblichenen Haare standen in wilder Unordnung um seinen halbkahlen Schädel, auch der Bart wirkte struppig und wenig gepflegt. Nur die silbern eingefasste Brille blitzte neu und exklusiv.
„Ach, Entschuldigung. Entschuldigen Sie bitte“, brach es aus dem Mann heraus. Er spürte, dass er mit dem Körperkontakt eine Grenze überschritten hatte, trat einen halben Schritt zurück, beugte sich leicht vor und stotterte: „Ich … ich bin Torsten Bedlinger. Ich unterrichte hier Mathe und Chemie.“ ‚Ach, der Bedlinger!‘, ging es Kellert durch den Kopf. ‚Das passt.‘ Natürlich ließ er sich nicht anmerken, dass dieser Name bei ihm einige Assoziationen hervorrief. Zum Beispiel die unvergessenen Klagelieder seiner Nichte über einen absolut unfähigen Mathe-Lehrer …
„Ich muss Sie sprechen, weil mir doch das Auto gehört, mit dem der Chef überfahren wurde. Damit Sie nicht auf falsche Gedanken kommen.“ ‚Gut, da kommst du mir zuvor, Freundchen. Mit dir hätte ich auch noch geredet. Also: Warum nicht jetzt?‘, dachte Kellert. „Ja?“, antwortete er unverbindlich und offen. ‚Lass ihn reden‘, überlegte er. ‚Wer weiß, was er zu sagen hat?‘
„Wissen Sie, ich wohne doch hier gleich um die Ecke. Vor fünf Jahren bin ich in die Friedrich-Spee-Gasse gezogen, keine dreihundert Meter von hier. Da wurde eine schöne Etagenwohnung frei, perfekt für mich. Ruhiger Altbau, genau wie ich.“ Er grinste schief, redete aber gleich weiter. „Und seitdem brauche ich eigentlich kein Auto mehr. Wenn ich irgendwo hinmuss, nehme ich Bus oder Bahn. Das ist viel praktischer. Billiger. Und schont die Umwelt.“
Kellert sah ihn fragend an, während Hannah Mellrich neugierig die beiden im Hintergrund bleibenden Begleiterinnen des Lehrers betrachtete, der ungerührt weitersprach: „Ich hatte eben diesen alten Toyota. Toi, toi, toi, zweihundertachtzigtausend Kilometer. Und fährt noch gut. Erst wollte ich ihn abmelden, damals. Aber dann meinten einige Kolleginnen, es wäre doch toll, ein Auto an der Schule zu haben. Für alle Fälle. Wenn man gerade einmal eines braucht. Und seitdem steht es auf dem Schulparkplatz.“
Er wies in die Richtung des zweistöckig angelegten Parkhauses. „Immer derselbe Stellplatz, oben, zweite Reihe, vorne links. Da stellt sich kein anderer hin, wenn es mal unterwegs ist. Der ist reserviert, sozusagen. Auch ohne Plakette und Verbotsschild. Und alle wissen, wo der Schlüssel hängt. Oben, im Lehrerzimmer, am ‚schwarzen Brett‘. Wer die Kiste braucht, nimmt sie sich halt. Ohne Fahrtenbuch oder Voranmeldung. Ganz einfach so. Jeder bezahlt dann mal eine Tankfüllung. Und bei den Steuern und der Versicherung beteiligen sich die, die das Auto benutzen. Zugegeben: Den ein oder anderen muss ich schon mal daran erinnern. Aber: Das klappt. Völlig problemlos. Alle finden es gut!“
„Und Sie selbst? Nutzen Sie es manchmal auch?“, mischte sich Hannah Mellrich ins Gespräch. Die Rolle als Zuhörerin schien ihr auf Dauer nicht zu genügen. Kellert ließ sie gewähren. „Klar, manchmal schon!“, gab Torsten Bedlinger zurück. „Aber nicht mehr oder weniger als andere auch.“ „Und gestern?“, unterbrach dieses Mal der Kommissar.
„Da war ich doch nachmittags gar nicht an der Schule. Abends erst recht nicht. Da war ich zu Hause. Hab Elfer-Klausuren korrigiert. Scheißarbeit“, kommentierte er.
„Wofür es keine Zeugen gibt, nehme ich an“, warf Kellert ein. „Richtig“, bestätigte sein Gegenüber. „Ich lebe allein“, wieder ließ er sein eigentümliches Grinsen sehen, entblößte dabei eine Reihe von gelblichen und zum Teil schiefen Zähnen und fügte mit spöttischem Blick auf die junge Polizistin hinzu: „Meistens zumindest.“
„Dann werden Sie auch nicht beim Kollegensport gewesen sein?“, führte Hannah Mellrich den Gedanken weiter, ohne auf seine unterschwellige Anzüglichkeit einzugehen. Bedlinger lachte auf, dieses Mal echt amüsiert. „Kollegensport? Sehe ich so aus? Nee, das ist nichts für mich. Da war ich gefühlte dreißig Jahre nicht mehr. Die wollen mich da auch nicht. Beruht auf Gegenseitigkeit.“
Er blickte über seine Schulter zu den beiden Frauen, beide um die vierzig, halblange braune Haare, wenig auffällig. Leicht verwechselbar. Eine mit Brille. Bedlinger grinste breit: „Aber ich dachte mir schon, dass Sie danach fragen. Deswegen habe ich die beiden Kolleginnen mitgebracht. Darf ich vorstellen: Mechtild Rassau und Petra Hömmer-Klein. Die waren gestern beide mit dabei. Also: beim Volleyball.“
Die Befragung der beiden Lehrerinnen ergab tatsächlich keine neuen Erkenntnisse. Elf Kollegen und Kolleginnen waren von sieben bis neun beim Volleyball gewesen, keiner war früher gegangen. Die konnten es alle nicht gewesen sein. ‚Immerhin!‘, dachte Kellert.“ Da können wir schon einmal einige ausschließen.‘ Etwas Außergewöhnliches bemerkt hatten sie nicht. Auch niemanden beobachtet, der sich im Lehrerzimmer oder am Parkplatz herumgetrieben hätte. Es blieb dabei: Alle möglichen Personen konnten den Autoschlüssel genommen und das Auto benutzt haben, sei es aus dem schulischen Umfeld, sei es von außen.
‚Torstens Toyota‘ war offensichtlich in Friedensberg ein geflügeltes Wort. Dass und wie der zu benutzen war, wussten viele. Und wann der Schlüssel das letzte Mal an seinem üblichen Haken gehangen hatte, ließ sich zwar zeitlich eingrenzen, aber auch nicht genau bestimmen. „Ich habe herumgefragt: Wahrscheinlich hat Kollege Lange – Spanisch/Französisch/Ethik – den Wagen als Letzter benutzt, und zwar vorgestern Nachmittag“, fügte Torsten Bedlinger beflissen an. „Wenn ich mehr herausbekomme, melde ich mich sofort bei Ihnen, Herr Kommissar. Denn ich: Ich habe den Chef nun wirklich nicht überfahren … und unterstütze natürlich die Aufklärungsarbeiten, so gut ich kann. Schließlich ist die Polizei mein Freund und Helfer.“ ‚Schön‘, dachte Kellert, ‚tu das. Nur deine gespielte Unterwürfigkeit und dein süffisantes Grinsen kannst du dir gern sparen.‘