Читать книгу Toter Chef - guter Chef - Georg Langenhorst - Страница 6
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„Nein! Die Sache ist erledigt. Ein für alle Mal. Das ist mein letztes Wort. Endgültig!“ Verärgert, aber fest entschlossen schob Oberstudiendirektor Dr. Bertram Geißendörfner sein Handy in die Lenkertasche seines Fahrrads. Er sollte recht behalten. Tatsächlich, das waren seine letzten Worte. Ohne dass er es ahnen konnte. Und anders, als er es gemeint hatte.
Er schob sein Fahrrad aus dem Unterstand, wo er vor dem niederprasselnden Regenschauer Schutz gesucht hatte, zurück auf den schmalen Gehweg. Dunkel gleißte die nasse Fahrbahn. Pfützen spiegelten wacklige Bilder der wenigen, in weitem Abstand aufgestellten Straßenlaternen. Dienstags abends um halb neun waren kaum Fahrzeuge unterwegs.
‚Immerhin bleibt es mir erspart, von vorbeifahrenden Autos nassgespritzt zu werden‘, dachte der achtundfünfzigjährige Direktor des weit über Friedensberg hinaus angesehenen KaRaGe, des Karl-Rahner-Gymnasiums. Er schnürte das Regencape über den Helm, den er für das Gespräch nicht abgesetzt hatte, schlug den durchsichtigen Regenschutz wie zuvor über sich selbst, den Lenker und den Sattel seines Rades und fuhr auf die Fahrbahn, die ihn die drei Kilometer nach Hause führen sollte.
Bei Wind und Wetter nahm er das Fahrrad. „Das hält mich wenigstens ein bisschen in Bewegung“, erklärte er seiner Frau Thea jedes Mal, wenn sie ihn bei allzu widrigen Verhältnissen bat, doch wenigstens ausnahmsweise einmal das Auto zu nehmen.
‚Unfassbar, diese Dreistigkeit!‘, ging es ihm durch den Kopf, während er langsam durch die frühnächtliche Dunkelheit radelte und dabei versuchte, wenigstens den größten Pfützen auszuweichen. Ein wohltuender Rückenwind trieb ihn mit leichten Böen voran. Sie klatschten ihm freilich Regenguss um Regenguss auf den Rücken. Märzwetter! Er war noch ganz in Gedanken. Das Telefongespräch ging ihm nach. Die leidige Angelegenheit hatte ihn nicht nur ganz allgemein Monate, sondern heute noch einmal viele Stunden des Nachmittags und des frühen Abends gekostet. So spät beendete er seinen Dienst sonst nie. Und ihn dann noch auf dem Heimweg per Handy anzurufen!
Ein Scheinwerferkegel tastete sich langsam von hinten auf ihn zu. ‚Mist, doch ein Auto!‘, dachte er. ,Hoffentlich fährt der wenigstens in großem Bogen um mich herum. Platz genug ist ja da.‘ Das Fahrzeug kam langsam näher. Die Person am Steuer schien es nicht besonders eilig zu haben. Oder angesichts der Wetterbedingungen besonders vorsichtig zu fahren. ‚Gut so‘, lobte Bertram Geißendörfner in Gedanken. Einmal Lehrer, immer Lehrer. Das Verteilen von Zensuren wird man nicht los. Das geht über in Fleisch und Blut. Misslungen oder bestanden. Mittelmaß oder Exzellenz. Lob und Tadel.
Plötzlich heulte der Motor laut auf. Das Auto setzte mit einem gewaltigen Sprung nach vorn und schoss auf das Fahrrad zu. Geißendörfner wollte sich umdrehen, um zu verstehen, was da los war, doch dazu kam es nicht mehr. Mit voller Wucht knallte die Stoßstange des PKW an das Hinterrad seines Fahrrads und schleuderte es weit über den glänzenden Asphalt nach vorn. Der Fahrer wurde abgeworfen, überschlug sich zweimal, rutschte über die regennasse Fahrbahn und blieb zuckend liegen.
Geißendörfner hatte den Sturz überlebt. Wie in einem Film nahm er die völlig unwirklichen Bildschnitte wahr, die sich ihm darboten. Kein Schmerz. Kein Bewusstsein von dem, was vor sich ging. Doch! ‚Gut, dass du deinen Helm aufhast!‘, schoss es ihm durch den Kopf, seltsamerweise verbunden mit der Stimme von Thea, seiner Frau.
Bevor er weiterdenken konnte, wurden die Bilder noch unwirklicher. Das Auto war stehen geblieben. Die Person am Lenkrad setzte jetzt zurück, aber nicht, um ihm zu helfen. Tempo aufnehmend überrollte ihn das Fahrzeug ein zweites Mal, dann ein drittes und viertes Mal. Da half kein Helm. Als träges, verrenktes Bündel blieb der Körper Bertram Geißendörfners auf der nassen Straße zurück. Sein Kopf lag in überdehntem Winkel halb in einer schwarzglänzenden Wasserlache, deren Wirbel sich langsam beruhigten, immer wieder neu durchbrochen von aufspritzenden Regentropfen. Nein, nicht sein Körper lag da, sondern sein Leichnam.
Das Auto setzte ein letztes Mal zurück und blieb einige Meter hinter dem Menschenbündel stehen. Die Frontscheinwerfer tauchten das Szenario in ein unwirkliches Licht. Die Fahrertür öffnete sich einen Spalt breit. Wer immer hinausspähte: Er oder sie war offensichtlich zufrieden mit dem Ergebnis. Mit einem lauten Ruck wurde die Tür ins Schloss gezogen. Wieder heulte der Motor laut auf und der Wagen schoss davon. Kleiner und kleiner wurden die roten Rücklichter, es blieb nur das Brausen des Regens und das Heulen der Sturmböen.