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3.

„Konflikte!? Ob es hier Konflikte gibt? Sie scherzen, Herr Kommissar. Was glauben denn Sie?“ Ingrid Wiesmüller lachte bitter vor sich hin, warf dann ihren beiden Kollegen einen amüsierten Blick zu. Zu fünft saßen sie tief eingesunken in den weichen Sesseln im Empfangszimmer des Direktorates des KaRaGe: Kellert und PKA Hannah Mellrich, Ingrid Wiesmüller, die stellvertretende Direktorin des Gymnasiums, daneben Ulrich Schongauer, durch den weißen Kragen als Priester erkennbar, ansonsten aber leger gekleidet, sowie Thomas Brox, die beiden weiteren Mitarbeiter im Direktorat.

Ingrid Wiesmüller war gertenschlank, dezent geschminkt, gekleidet in ein modisches, cremefarbenes, sicherlich nicht ganz billiges Kostüm. Sie mochte knapp fünfzig Jahre alt sein – etwas jünger als ich, schätzte Kellert –, trug eine goldrandeingefasste Brille mit Halbmondgläsern an einer um den Hals hängenden Kette, sprach laut, gewohnt, dass man ihr zuhörte, und – fand Kellert – so, dass man sich automatisch fügen wollte. Sie hatte sofort und wie selbstverständlich die Gesprächsführung an sich gerissen. Jetzt war sie hier die Chefin, daran ließ ihr ganzes Verhalten keinen Zweifel.

Schongauer – sicherlich über sechzig, fast komplett glatzköpfig bis auf einen mattgrau schimmernden Haarkranz, untersetzt, in dunkler Hose, blauem Hemd mit Kollar, dem etwas zu eng anliegenden weißen Priesterkragen, sowie hellgrauem Pullunder – hatte schon bei der Begrüßung klar gemacht, was seine Funktion war: „Ich sage immer: Ich bilde sozusagen die Brücke zum Bistum. Und bin hier als Schulseelsorger eingesetzt.“ Nun seufzte er und verdrehte die Augen zum Himmel. Dass er hier nicht viel zu sagen hatte, war mehr als deutlich.

Thomas Brox sah so aus, wie viele von Kellerts eigenen Lehrern, an die er sich noch erinnerte. Mit gebügelter Jeans, modischem Pullover, halblangen, mit einem ersten Hauch von Silbersträhnen durchsetzten braunen Haaren und einem gepflegten Dreitagesbart. Gewinnendes Lächeln, ein leicht ironischer Zug um den Mund, fester Händedruck. „Brox. Ich bin hier verantwortlich für die Klassenverteilung, den Stundenplan – alles, wofür man einen Lehrer mit Computerkenntnissen braucht“, so hatte er sich vorgestellt.

Nun blickte er mit ein wenig Distanz zu seiner Kollegin, die plötzlich seine Vorgesetzte war. Oder sich so aufführte. Ein leicht zynisches Grinsen setzte sich in seinen Mundwinkeln fest, als er bestätigte: „Konflikte? Aber ja.“ Dass diese beiden in der Schulleitung arbeitenden Kollegen nicht immer einer Meinung waren, ließ sich schon auf den ersten Blick deutlich an Körpersprache, Gestik und Mimik erkennen.

Ingrid Wiesmüller, Lehrerin für Deutsch, Englisch und Sozialkunde, dachte jedenfalls gar nicht daran, einem ihrer Kollegen die Gesprächsführung zu überlassen. Kellerts Frage, ob es an ihrer Schule Konflikte gäbe, fand sie offenbar wirklich amüsant. „Wir entscheiden hier tagtäglich über Lebensläufe. Über Gelingen und Scheitern. Über Vorankommen oder Stagnieren. Bei den Schülerinnen und Schülern, denen wir Noten geben. Geben müssen. Manche müssen die Schule verlassen. Andere scheitern an dem Niveau, das sie sich selbst erhoffen oder – das ist noch viel häufiger der Fall – das ihre Eltern von ihnen erwarten. Und wir“, erneut blickte sie Zustimmung heischend, aber nicht abwartend auf ihre beiden Kollegen, „wir entscheiden darüber, täglich.“

Brox ließ sich nicht so leicht einschüchtern und mischte sich ein. „Das ist ja ganz normal, werte Kollegin, das gehört nun einmal zum gesellschaftlichen Erziehungsauftrag der Schule“, warf er ironisch ein. „Aber wenn Sie mich fragen: Konfliktträchtiger ist der Umgang mit den Kollegen. Seien wir doch ehrlich!“ „Gewiss, dazu wollte ich ja gerade auch kommen“, fuhr ihm die stellvertretende Direktorin in die Parade. „Wissen Sie, wie viele Lehrerinnen und Lehrer wir hier am KaRaGe haben?“, wandte sie sich unvermittelt an die beiden Besucher, die bislang zwar aufmerksam, aber eben doch weitgehend unbeteiligt dem Gesprächs-Scharmützel gelauscht und sich ihre Gedanken gemacht hatten. Sie waren zu verblüfft, um sofort zu antworten.

„Na kommen Sie schon, wagen Sie einen Tipp“, ermunterte Ingrid Wiesmüller den Kommissar. „Sie auch!“, wandte sie sich an die Kommissars-Anwärterin. Kellert räusperte sich, überlegte kurz, sagte zu sich ‚Warum nicht?‘ und antwortete: „Ich sage mal siebzig?“ „Ich tippe auf knapp hundert“, sekundierte Hannah Mellrich mit selbstbewusster Stimme.

„Nicht schlecht“, nickte die stellvertretende Direktorin, als Lehrerin gefangen in der Routine der bewertenden Rückmeldung. „Einhundertzehn Kolleginnen und Kollegen, und das bei knapp zwölfhundert Schülerinnen und Schülern. So sieht das aus.“ Irgendwie zufrieden blickte sie auf die beiden Kriminalbeamten. Von einer Erschütterung über den Tod ihres bisherigen Chefs war ihr sowieso nichts anzumerken. Ein routiniert benanntes Bedauern hatte sie gleich zu Anfang geäußert, mehr nicht.

Sie hatte ihren Gedankengang aber noch nicht abgeschlossen. „Einhundertzehn Kolleginnen und Kollegen! Alle wollen gesehen, gelobt, beachtet werden. Alle wollen Karriere machen. – Okay, fast alle!“, korrigierte sie sich, als sie sah, dass Thomas Brox einen kritischen Einwand machen wollte. Weder gab sie ihm dazu die Gelegenheit, noch ließ sie sich in ihrem einmal aufgenommenen rhetorischen Schwung ausbremsen. „Alle haben das Gefühl, benachteiligt zu werden. Alle gehen davon aus, dass sie, sie für die spannenden und besser bezahlten Jobs am besten geeignet sind. Alle wollen gut benotet und gefördert, ach was: befördert werden. Und auch darüber entscheiden letztlich wir. Und das soll ohne Probleme und Konflikte gehen? Sie haben vielleicht Nerven!“

„Wir entscheiden streng genommen allerdings nicht darüber, liebe Kollegin“, nutzte Ulrich Schongauer die kleine Pause, um sich mit sanfter Stimme einzubringen. „Das entscheidet letztlich allein der Chef. Wir beraten ihn natürlich dabei“, fügte er in Richtung der beiden Gäste hinzu. „Ich sage immer: Schule ist wie das Leben überhaupt“, meinte er dann in leicht predigtartigem Tonfall. „Alle Konflikte, die es im Leben gibt, bilden sich auch bei uns ab. Schule ist kein Schonraum. So gern wir das auch hätten. So ist das nun einmal.“ Er hob nachdenklich die Hände.

Kellert nutzte die Möglichkeit, nun doch nachzufragen: „Das habe ich durchaus erwartet, dass wir es selbst beim Domgymnasium nicht mit einer Insel der Seligen zu tun haben.“ Damit wies er mit der rechten Hand auf eines der großen, goldgerahmten Ölgemälde an der Wand, das die selige Lissi von Friedensberg zeigte, eine Ordensfrau des 17. Jahrhunderts. Erst vor siebzehn Jahren war sie seliggesprochen worden. „Aber gab es in letzter Zeit Konflikte, die über das Normalmaß hinausgingen?“

„Sie suchen ein Mordmotiv, oder?“ Kalt blickte ihn Ingrid Wiesmüller über die Halbmondgläser ihrer soeben aufgesetzten Brille an. „Sie haben mich also nicht verstanden. Sie suchen nach etwas Besonderem. Nach einer monströsen Geschichte, die alles Verstehen sprengt. Was ich sagen wollte, war aber genau das Gegenteil: Unser Alltag ist so voller versteckter Aggression, unterdrückter Gewalt und zivilisierter Frustration, dass es das Besondere nicht braucht. Das ist Alltag hier, verstehen Sie? Das kann sich überall entladen. Ohne großen Anlass. Was glauben Sie, warum es zu Amokläufen kommt? Irgendwann kocht etwas über. Dafür braucht es manchmal nur einen dummen Zufall, einen eigentlich belanglosen Auslöser.“ Zufrieden schaute sie ihn an, faltete die Arme vor der Brust und fügte hinzu: „So: Da haben Sie Ihr Motiv.“

Ulrich Schongauer hatte den Ausführungen seiner Kollegin zugehört, mehr und mehr aber seine wachsende Distanz signalisiert. Nun schüttelte er stirnrunzelnd den Kopf: „Also so negativ sehe ich das nicht, Frau Wiesmüller.“ – ‚Kein Duz-Verhältnis‘, notierte sich Hannah Mellrich in Gedanken – „Als säßen wir hier permanent auf einem Pulverfass. Als gäbe es nur ein ständiges Gegeneinander: Lehrer gegen Schüler, Kollegen gegen Kollegen. Wir sind immerhin auch eine Gemeinschaft. Eine Schulfamilie. Wenn das so schrecklich wäre, wie Sie, geschätzte Kollegin, das schildern, dann würde ich mich sofort um eine andere Stelle bewerben. Sofort! Ja, Konflikte sind Teil des Lebens, das habe ich vorhin schon betont. Aber sie sind es hier nicht mehr als anderswo.“

„Aber auch nicht weniger, Pater Schongauer, auch nicht weniger!“, fiel ihm Ingrid Wiesmüller ins Wort. „Und ich sage ja auch gar nicht, dass all das die Oberfläche unseres Alltags bestimmt. Im Gegenteil: Es kommt darauf an, diese Gemengelage zu kontrollieren und zu beherrschen. Und genau dafür sind wir zuständig: die Schulleitung! Das ist unser Job. Dafür bekommt man nicht nur Applaus. Da wird man nicht everybody’s darling. Wenn alles glattläuft, halten viele das für normal. Aber sobald es Schwierigkeiten gibt, fallen sie von allen Seiten über uns her. Ist doch so.“

Nun schaltete sich Thomas Brox ein: „Herr Kommissar. Ich stimme der Kollegin Wiesmüller zwar nicht in allem zu. Aber in einem schon: Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sie den Täter – oder die Täterin – hier in der Schule finden werden. Also mir ist jedenfalls kein Konflikt bekannt, der aus dem alltäglichen Miteinander und Gegeneinander herausragen würde. Kein Grund, warum der Kessel explodieren müsste, um im Bild der werten Kollegin zu bleiben. Oder?“

Zustimmung heischend blickte er auf seine beiden Kollegen. Die waren ausnahmsweise einmal einer Meinung und nickten: Ulrich Schongauer zögerlich und mit nur angedeutetem Heben und Senken des rundlichen, leicht rot angelaufenen Kopfes, Ingrid Wiesmüller mit energischen, ruckartigen Bewegungen. Obwohl ihr Kollege Brox ihren Hauptgedanken gar nicht aufgenommen hatte.

Es klopfte. Ohne auf eine Reaktion zu warten, öffnete sich die Tür zum Empfangszimmer des Direktorates. Eine vielleicht vierzigjährige, schick gekleidete und dezent, aber perfekt geschminkte, schlanke Frau trat ein, beladen mit einem Tablett voller Tassen, Untertassen, kleinen silbernen Löffeln, einem Zuckerdöschen, einem Milchkännchen und einer Kanne frisch aufgebrühten Kaffees. Die Frau warf einen freundlichen, offen lächelnden Blick in die Runde und fragte: „So, möchte jemand einen Kaffee?“

„Danke, Frau Blum, Sie sind ein Schatz! Aber das wissen Sie ja!“, antwortete Ingrid Wiesmüller sofort, und ihre Stimme nahm eine Wärme an, die sie vorher noch nicht hatte erkennen lassen. „Frau Blum, unsere Chefsekretärin!“, stellte die Lehrerin die Mitarbeiterin vor. „Erst seit zwei Jahren bei uns, aber schon absolut unbezahlbar.“

Die derart Gelobte lächelte, hob aber abwehrend die Hände. „Nein, nein. Sagen Sie das nicht. Ich tue doch nur meine Pflicht. Das aber einfach gern.“ „Und gut“, ergänzte Thomas Brox schmunzelnd. „Lassen Sie das Lob doch einfach mal so stehen, Saskia! Das Sekretariat ist das Herzstück einer Schule. Nicht das Direktorat, wie viele von uns in dreister Selbstüberschätzung meinen.“ Sein Blick verlor sich für den Bruchteil einer Sekunde im Raum. Aber er fuhr fast unmittelbar danach fort: „Und wenn das Herz nicht schlägt, wie es soll, dann leidet der ganze Körper. Seit Sie da sind, Saskia, geht es uns prächtig.“

Brox hielt kurz inne, besann sich und ergänzte: „Was nicht heißen soll, dass es uns vorher schlecht ging.“ Saskia Blum lächelte, warf den Kopf abwägend hin und her und machte sich dann daran, den Raum wieder zu verlassen. „Wenn Sie noch etwas brauchen: Sie wissen ja, wo Sie mich finden.“

Toter Chef - guter Chef

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