Читать книгу Toter Chef - guter Chef - Georg Langenhorst - Страница 8
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Ruhig, zügig und sicher steuerte PKA Hannah Mellrich den Dienst-BMW durch die engen Straßen der Friedensberger Innenstadt. Nicht ganz so souverän fühlte sie sich. Endlich hatte der für sie zuständige Kommissar sie einmal direkt angesprochen. Aber er war ihr nicht ganz geheuer, dieser Bernd Kellert. Schweigsam ihr gegenüber. Und ruppig, vielleicht aus Unbeholfenheit. Dass er mit Dominik Thiele bestens harmonierte, hatte sie in den zwei Wochen auf der Dienststelle bereits mehrfach beobachten können. Aber sie selbst hatte er einfach ignoriert. Sie konnte sich auf sein Verhalten ihr gegenüber keinen rechten Reim machen.
Aber jetzt waren sie zu zweit unterwegs: Hannah Mellrich, siebenundzwanzig Jahre alt, kurzer blonder Haarschnitt, ehrgeizig, und er: der Fünfzigjährige, Erfahrene, Unnahbare. „Überlassen Sie mir das Reden!“, ermahnte er sie, während sie in die hohen Vorhallen des KaRaGe eintraten. Sie nickte. Aber was sollte sie dann hier? Kellert bemerkte ihre unausgesprochene Frage, schmunzelte kaum merklich und fügte hinzu: „Aber ich brauche Ihre Beobachtungen. Schauen Sie genau hin! Hören Sie auf die Zwischentöne! Nichts darf uns entgehen. Sie wissen schon: Vier Augen sehen mehr, vier Ohren hören mehr.“ Das klang schon besser.
Die seit etwas mehr als zwanzig Jahren Karl-Rahner-Gymnasium genannte Schule war das traditionsreichste Gymnasium vor Ort. Jahrhundertelang hatte es nur ‚das Domgymnasium‘ geheißen. Ältere Bürger von Friedensberg nannten es immer noch so. Jüngere meistens bei der Abkürzung KaRaGe. Von den Jesuiten kurz nach der Reformation gegründet, hatte hier in fast fünf Jahrhunderten die Bildungselite Friedensbergs ihre schulische Ausbildung erhalten. Bis in die 1970er Jahre war die Schule ausschließlich männlichen Schülern vorbehalten gewesen.
Seitdem gab es auch Schülerinnen. Vieles hatte sich allein dadurch geändert. Früher war man stolz darauf, immer wieder Abiturienten an das nahe Priesterseminar weiterzureichen. Ungezählte Friedensberger Priester und fünf Bischöfe waren zuvor Schüler am Domgymnasium gewesen. Heute stand das Gymnasium immer noch unter kirchlicher Trägerschaft. Aber das religiöse Leben prägte die Schule nur noch zu einem geringen Teil, so wie Religion insgesamt immer weniger Bedeutung für das Leben der Menschen hatte. Trotzdem: Das KaRaGe, das Domgymnasium, hatte immer noch einen ausgezeichneten Ruf. Weit über Friedensberg hinaus.
„Wir haben einen Termin im Direktorat“, erklärte Kellert, aber das wäre nicht nötig gewesen. Eine junge Frau hatte sie am Haupteingang des Gymnasiums erwartet. Neben ihr stand schweigend der an seinem Blaumann unschwer erkennbare Hausmeister, ein hochgewachsener, kräftiger älterer Mann mit großem, buschigen Oberlippenbart. ‚Das Gesicht kenne ich doch irgendwoher‘, dachte Kellert. ‚Zumindest erinnert es mich an jemanden, den ich kenne. Aber an wen?‘
„Svenja Kaiser“, hatte sich die junge Frau vorgestellt und „Deutsch und Englisch“ hinzugefügt, als markiere das ihre Persönlichkeit. ‚Kaum älter als Jenny!‘, dachte der Kommissar, während ihm als Vergleich das Bild seiner noch studierenden Tochter durch den Kopf blitzte. Wortlos und mit undurchschaubarer Miene zog sich der Hausmeister zurück. Die junge Lehrerin aber nahm den Gesprächsfaden auf und erwiderte: „Ich weiß, wer Sie sind. Die Herrschaften von der Kriminalpolizei. Ich soll Sie empfangen und begleiten, kommen Sie bitte!“
‚Herrschaften!‘, dachte Hannah Mellrich. ‚So bin ich ja auch noch nicht angesprochen worden!‘ Aber sie verkniff sich eine Bemerkung. Zu dritt schritten sie durch die hohen, breit gemauerten Hallengänge. Es war erstaunlich still, nur hinter den Türen rechts und links konnte man immer wieder gedämpfte Geräusche hören. Sobald das Pausenzeichen ertönte, würden kreischende Schülermassen die Gänge füllen. So war das zumindest normalerweise. Das wussten die beiden Polizisten noch zu gut aus ihren eigenen Schülerzeiten. Und Kellert kannte es noch aus den Schilderungen seiner beiden längst erwachsenen Kinder.
Immer wenn er selbst Schulen betrat, fühlte er sich seltsam beklommen. Als raubte ihm jemand heimtückisch sein Selbstvertrauen und seine berufliche wie private Routine und Erfahrung. Ihm war, als würde er hier ständig beobachtet, und als könne er den Beobachtungsblicken nie genügen.
Kellert war sich natürlich bewusst, dass das mit seinen eigenen Erfahrungen als Schüler zusammenhing. Er war ein durchschnittlicher Schüler gewesen, nicht schlecht, nicht gut. Das hatte ihn alles irgendwie nicht interessiert, was man ihm da vorsetzte. Ein Mitschwimmen im trägen Strom des Unterrichts hatte gereicht, um ihm das Abitur zu ermöglichen. Nicht hier am KaRaGe, das zu seiner Zeit einfach nur ‚Domgymnasium‘ geheißen hatte, sondern am staatlichen Gymnasium von Friedensberg, dem Henri-Dunant-Gymnasium. HaDeGe. Diese Opposition prägte bis heute die kleinstädtische Welt der Bischofsstadt Friedensberg. War man ein KaRaGeler oder ein HaDeGeler? Eigentlich lächerlich, solche kleinen Eitelkeiten. Aber sie hielten sich hier über Generationen.
Bernd Kellert blickte hinüber zu seiner jungen Kollegin, die nicht in Friedensberg aufgewachsen war. Hannah Mellrich stammte aus Rheinland-Pfalz, so glaubte er sich zu erinnern. Aus Speyer? Er war sich nicht sicher. Er wusste auch nicht, warum sie sich ausgerechnet hierher hatte versetzen lassen. Irgendeine private Geschichte, an so viel glaubte er sich zu erinnern. Ob es ihr auch so ging wie ihm, wenn sie Schulen betrat? Anzusehen war es ihr nicht.
Dass es im Schulgebäude so still war, hatte aber nicht nur etwas damit zu tun, dass der Unterricht sich hinter dicken Mauern und schallisolierten Türen abspielte. Als sie in die große Halle kamen, von der aus verschiedene Gänge und das weit geschwungene Treppenhaus abzweigten, sahen sie einen Tisch, der aussah, als sei er ein Altar. In der Mitte war ein Bild – doch wohl das des ermordeten Direktors – aufgestellt, geschmückt mit einer dunkelvioletten Schleife. Rund herum ein Meer von Blumen und auf dem Boden stehenden, angezündeten Kerzen. Kellert erkannte einen Teddybären, mehrere Spielutensilien, Symbole, welche die Schülerinnen und Schüler hier abgelegt hatten.
Die junge Lehrerin nahm seinen fragenden Seitenblick wahr und erklärte: „Unser KIT hat natürlich schon ganze Arbeit geleistet. Das weiß man heute: Kinder und Jugendliche brauchen Formen und Rituale, um sich ihrem Schock oder ihrer Trauer zu stellen.“ Mit leiser Stimme fügte sie hinzu: „Wir Erwachsenen natürlich auch.“ „KIT?“, fragte Hannah Mellrich zurück, das erste Wort der Kommissars-Anwärterin seit der Begrüßung.
„Ach so“, riss sich Svenja Kaiser aus ihren Gedanken, „das sagt Ihnen natürlich nichts. Kriseninterventionsteam, KIT. Das gibt es inzwischen an jeder Schule. Und das braucht man auch. Sie glauben nicht, was in einem Schuljahr so alles passiert. Ich bin ja erst seit zwei Jahren dabei“ – ‚Aha!‘, dachte Kellert – „aber wir haben schon alles gehabt, wirklich: Selbstmord einer Schülerin, einen schweren Verkehrsunfall, in den drei Mitschüler verwickelt waren, mehrere Todesfälle von Eltern, zwei Kollegen sind gestorben …“, ihre Gedanken gingen erneut über das aktuelle Gespräch hinaus, dann fing sie sich aber wieder.
„Na ja, alles haben wir Gott sei Dank noch nicht gehabt. Einen Amoklauf, zum Beispiel. Hoffentlich bleiben wir wenigstens davon verschont. Jedenfalls: Für all diese Fälle ist das KIT da. Das sind vor allem Kolleginnen aus den Fachschaften Religion und Ethik. Die machen das toll. Also ich weiß nicht, ob ich das könnte …“
Sie stockte und überlegte, verlor sich in ihren Gedanken. Kellert blickte ruhig zu ihr hinüber. Plötzlich riss sich die junge Lehrerin zusammen und besann sich auf ihre aktuelle Aufgabe. Sie schloss die Augen, schüttelte einmal kurz und heftig ihren Kopf, um sich von ihren abschweifenden Gedanken zu befreien, und sprach dann weiter: „Und die Kollegen vom KIT haben hier heute Morgen gleich alles vorbereitet. Die meisten Schülerinnen und Schüler wussten natürlich schon vorher Bescheid. So etwas verbreitet sich in Friedensberg wie ein Lauffeuer. Und jetzt versuchen wir, irgendwie ins Gespräch mit den Schülern zu kommen. Ihre Fragen aufzunehmen. Raum zu geben für Trauer, Unsicherheit, Wut, Fassungslosigkeit … An normalen Unterricht ist heute natürlich gar nicht zu denken.“
Svenja Kaiser hatte sie über die breite Treppe in den ersten Stock zum Direktorat geführt. Nun wandte sie sich an die beiden Polizisten: „Ich habe gerade zwei Freistunden. Ach je: Was sage ich denn gleich meinen Fünftklässlern? Können Sie mir da vielleicht einen Rat geben?“ Kellert schaute unsicher. Da kannte er sich nicht aus. Er überlegte. „Vielleicht gar nichts selber sagen, sondern erst mal zuhören.“