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Mein Großvater und ich

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Zu meinem Großvater hatte ich ein recht inniges Verhältnis. Ich glaube, meine Mutter hatte unter ihm in jüngeren Jahren gelitten, weil er Alkoholiker war und womöglich seine Frau schlug. Doch als ich ihn kennen lernte, waren diese Probleme bewältigt. Er war noch gut zu Fuß. So ging er von seiner Wohnung in der Stiftstraße zur Wohnung meiner Eltern, die damals noch in der Düppelstraße wohnten. Ausgebombt wurden wir in der Missundestraße. Wenn mein Großvater in die Düppelstraße kam, wurde ich in eine Karre gesetzt und er machte sich damit auf den stundenlangen Weg nach Hochkamp zu seiner anderen Tochter Hedwig. Tante Hedwig und ihr Mann, Onkel Willi, hatten ein Haus mit großem Garten. Ein Aufenthalt dort war immer etwas besonderes. Am Abend schob mein Großvater mich wieder nach Hause. Im Winter, wenn es kalt war, zog er seine dicke Joppe an und machte sich mit mir auf den Weg. In der Silvesternacht sahen wir unterwegs Jugendliche, die am Kantstein Feuerwerkskörper entzündeten. Ich fragte meinen Opa, was die dort machten. Das Gute an diesen Unterhaltungen war, dass er immer auf alle meine Fragen eine Antwort parat hatte. „Die schießen das alte Jahr um die Ecke,“ belehrte er mich. Ich war stolz darauf, dass ich gesehen hatte, wie das alte Jahr um die Ecke geschossen wurde, und erklärte zu Hause meinen Eltern voller Stolz, dass ich gesehen hätte, wie das alte Jahr um die Ecke geschossen worden sei.

Besondere Höhepunkte waren es, wenn meine Schwester und ich zu meinen Großeltern gebracht wurden. Wir hatten dort unsren eigenen Parcours, auf dem wir herum rannten. Der führte von der Küche auf den Küchenbalkon. Das Fenster zur Toilette musste offen stehen, so dass wir durch das Fenster in die Toilette steigen konnten. Von dort ging es weiter durch einen schmalen Gang, der von der Toilette zum Flur führte. Der Flur war schmal und lang und gebogen. Wenn man ihn entlang gelaufen war, konnte man wieder in die Küche zurück kehren und einen zweiten, dritten oder vierten Durchlauf starten. Etwas unangenehm war, wenn die Oma mir ein Staubtuch in die Hand drückte und verlangte, dass ich zunächst einmal auf dem Klavier und dem Harmonium Staub wischte. Interessant war für mich immer, wenn der Opa eine seiner vielen Kuckucksuhren auseinander nahm, reparierte und dann ausprobierte. Manchmal, wenn man ihn darum bat, spielte er auch auf dem Klavier das „Frühlingsrauschen“ von Sinding. Gelegentlich hatte er einen Freund zu Gast, mit dem er Schach spielte.

Für mich waren noch andere Momente interes­sant. Etwa wenn er in seinem Sessel vor dem Fenster saß, die Wohnung war im Hochparterre, und ich mit meinen kurzen, ausgestreckten Beinen auf der Fensterbank. Unten, auf der gegenüber liegenden Straßenseite war ein Park, der zu einem Altersheim gehörte. Beim Aus-dem-Fenster-schauen hatten wir in dem Park eine alte Frau beobachtet, die dort spazieren ging. Da mein Opa alles wusste, fragte ich ihn, wer das sei. Er erklärte mir, das sei das „liebe Lieschen“. In Hamburg gab es einen entsprechenden Ausspruch. Wenn man etwas Kaffee verschüttet hatte, dann pflegte man zu stöhnen, „ach du liebes Lieschen!“ Und hier hatte ich das liebe Lieschen nun tatsächlich vor Augen. Von da an galt ihm mein Hauptinteresse. Wenn ich bei meinem Großvater war, wollte ich alles über das „liebe Lieschen“ wissen, vor allem, wann es wieder vorbei­kommen und zu sehen sein werde. Irgendwie hat er es jedesmal geschafft, meine Neugier zu befriedigen. Ich war dann beruhigt und wartete voller Neugier auf die nächste Begegnung mit dieser interessanten Dame.

Noch eine andere Sensation erwartete mich jedesmal bei meinem Großvater. Er hatte einen mehrbändigen Sammelband von einer Zeitschrift aus dem ersten Weltkrieg. Ich weiß noch, dass sie auf dickem, wahr­schein­lich schlechtem Papier gedruckt war, und zwar in drei Farben – schwarz, weiß und rot. Rot vor allem für Fahnen, Feuer und für Blut. Es waren Texte und Zeich­nungen, die das Kriegsge­schehen illustrierten – Schützen­gräben, Verwundete, Panzeran­griffe, Revolutionsszenen. Wenn ich zu meinem Großvater kam, ließ ich mir einen dieser Bände geben und studierte ihn eifrig. Verstehen konnte ich nichts, aber die Bilder faszinierten mich.

Doch diese aufregende Zeit nahm ein plötzliches Ende und zwar durch das Eingreifen meiner Mutter. Eines Tages, als ich wieder nach einem Bildband verlangte, konnte mein Opa den Schlüssel für die Glastür nicht finden. Ich glaubte zunächst, dass er ihn sicherlich bei meinem nächsten Besuch wieder zur Hand haben würde. Er fand ihn leider niemals wieder, und das erfüllte mich mit großer Traurigkeit – als ob mir ein Lebensfaden abgeschnitten worden wäre. Und gleichzeitig noch ein zweiter! Denn urplötzlich wusste mein Opa angeblich nichts mehr über das „liebe Lieschen“ zu sagen. Das war eine ebenso große Enttäuschung. Es entstand das Gefühl einer großen Leere in mir. Ich hatte natürlich keinerlei Erklärungsmöglichkeit dafür. Erst fünfzig Jahre später ist mir klar geworden, dass meine Mutter die Hand im Spiel gehabt haben muss. Die war voller Ehrgeiz in Bezug auf ihren Sohn und hat meinem Großvater wahrscheinlich die Leviten gelesen. Dass er ihren Sohn nicht mit Informationen füttern solle, die seinem Alter nicht angemessen oder unsinnig sind. Die schöne Kommunikation zwischen meinem Großvater und mir war damit zuende. Ich nehme an, sie hat ihm ebenso viel Spaß gebracht wie mir, da er seine Phantasie dabei frei entfalten konnte.


Geboren im Jahr 1933

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