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Prolog

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8. Mai 2008


Es war ein relativ schöner Tag gewesen, denn der Mai hatte seinem Namen als Wonnemonat in diesem Jahr alle Ehre gemacht. Zahlreiche Sonnenstunden prägten die Witterung vor allem im Norden Deutschlands. Stralsund schien besonders bevorzugt zu sein.

»Warum kommt sie nicht?«, hatte Suzanne gefragt. »Weißt du nicht, was für ein Tag heute ist?«

»Der Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus«, sagte Remy und rülpste.

»Scheiße, Remigius«, lallte Suzanne provozierend. Immer wenn sie ihn ärgern wollte, nannte sie ihn Remigius. »Ich denke an meine Schwester, deren Tod sich in drei Tagen jährt, und du kommst mit einer solchen Scheiße.«

»Scheiße? Ich werde dir gleich zeigen, was Scheiße ist! Ich sollte dir gleich aufs Maul hauen«, sagte Remy mit schwerer Zunge. »Du weißt genau, dass ich nicht mag, wenn du Remigius zu mir sagst.« Er nahm die Flasche mit dem Wodka und goss die Wassergläser zur Hälfte nach.

»Trink!«, befahl er.

»Es ist aber doch ein ehrenwerter Name.« Allein die Stimmlage Suzannes ließ nichts Gutes erwarten. »Remigius von Reims war ein aus gallorömischem Adel stammender Bischof vor fünfzehnhundert Jahren im Osten des heutigen Frankreichs. Der Name ist Historie pur, denn er wurde bekannt durch die Taufe des Merowingerkönigs Chlodwig I. und wird als einer der großen Heiligen des fränkischen Volkes verehrt. Damit solltest du handeln gehen.« Triumphierend grinste Suzanne den Mann an.

Die Faust Remys schlug hart auf den Tisch.

Sie fuhr zusammen.

»Halt endlich das Maul!«, schrie er.

»Übrig geblieben ist Remy der Starke«, provozierte Suzanne weiter. »Oder Schlappstarke.«

»Du glaubst doch wirklich, weil dein Vater so ein lausig kleiner Heimatschriftsteller ist, könntest du mich niedermachen …«

Plötzlich hatte Remy den fünfhundert Seiten starken Roman in der Hand, den Suzanne sich von ihrem Vater als Mitbringsel zu ihrem Treffen ausgebeten hatte. Mit der rechten Hand zog er eines der Küchenmesser aus dem Holzblock. Damit drohte er, das Buch zu filetieren.

»Leg das Buch wieder …« Sie merkte, wie ihre Galle rebellierte, und sie schluckte schnell, damit das Brennen in ihrer Speiseröhre und der Drang, erbrechen zu müssen, aufhörten. »Leg es hin, Remy, bitte lege es hin. Oder …«

»Oder?«

»Ich verlasse dich.«

Suzanne wusste seit einiger Zeit, dass ihre Liebe am Ende war. Vor langer Zeit hatte sie einmal flüchtig begonnen, als sie sich bei einer Tanzveranstaltung in Trassenheide kennengelernt hatten. Doch als die Ferien zu Ende waren, und er wieder in seine Heimat Stralsund zurückgegangen war, hatte sich die große Liebe schnell verflüchtigt. Sie hat ein wenig nachgetrauert, wie es jungen Mädchen zu eigen war. Aber dann hat auch sie sich mit einem neuen Freund über diese Zeit hinweg getröstet … Wie sie den anderen vergaß, und so geschah`s. Doch vor drei Jahren fanden sie sich durch Zufall auf Facebook wieder. Glühende Liebesbeteuerungen gingen zwischen beiden hin und her. Schließlich trennte sich Remy von seiner derzeitigen Freundin und versuchte Suzanne zu ermuntern, zu ihm nach Stralsund zu ziehen.

Suzanne wiederum kam diese Aufforderung sehr gelegen. Ihr damaliger Lebenspartner hatte sich als eine Fehlinvestition ihrer Liebe erwiesen. Alles, was den Mann bewegte, war, wie er andere Menschen aufs Kreuz legen konnte, um so nicht nur ein überdurchschnittliches Einkommen zu erzielen, sondern überhaupt eines. Peter Sockott hatte sogar sie dazu bewegt, ihren Vater unter Druck zu setzen, um an einen Teil seines Geldes in Form einer Autoabzahlung zu kommen.

»Niemand verlässt mich, niemand.«

»Meine Vorgängerin hat dich verlassen.«

»Niemand verlässt mich«, wiederholte er. »Eher steche ich dich ab.«

»Leg das Buch bitte hin«, bettelte Suzanne. »Und das Messer auch.«

»Hatte er die Widmung schon vorher ein… ein… eingeschrieben, oder?«, lallte er.

»Ist das so wichtig für dich?«

»Alles ist wichtig, was mich … be… betrifft.«

»Ich habe es dir schon einmal gesagt, Remy, Daddy hatte dich gar nicht auf dem Schirm. Er hat es für mich eingeschrieben. Und ich habe ihn schließlich darum gebeten, dich hinzuzufügen. Das müsste dir eigentlich genügen.«

»Weil du mich liebst!«, brüllte er.

»Ja, weil ich dich liebe. Trotz allem.« Obwohl sie stark angetrunken war, wusste sie, dass ihre Liebe längst am Ende, und er in diesem Stadium sehr gefährlich war. Das Verlangen, Hass und Testosteron sind eine tödliche Mischung.

Remy warf das Buch in die Ecke. Plötzlich stand er hinter ihr und zog sie an den Haaren hoch. Sie stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab, dabei fiel ihr Glas um, und der Wodka breitete sich aus, lief über ihre Hand. Remy versuchte, in sie einzudringen, was ihm aber nicht gelang.

»Warte einen Augenblick«, sagte Suzanne. Sie war sich darüber klar, dass er sie grün und blau schlagen würde, käme er nicht zum Schuss. Wie stets in diesen immer häufiger werdenden Situationen, hatte sie große Angst. Mit einer Hand versuchte sie, ihre Hose herunterzuziehen. Es gelang ihr nicht. Das Messer. Er hatte das Messer aus der Hand gelegt, um seine Hose abzustreifen. Es wäre eine Gelegenheit, dachte sie, mich ein für alle Mal von diesem Joch zu befreien.

In diesem Augenblick hatte der Alkohol Remy außer Gefecht gesetzt. Er torkelte ins Schlafzimmer. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Eine Weile wartete Suzanne, dann schlich sie zur Schlafzimmertür, öffnete sie vorsichtig. Es roch nach Alkohol und Erbrochenem. Der beißende Geruch ließ sie vor Ekel ebenfalls mit dem Wunsch, den Fusel wieder loszuwerden, erbeben. Remy brachte immer die Flasche mit dem Etikett einer bekannten Wodka-Sorte. Doch sie wusste, dass es irgendein Fusel war, den Exilrussen heimlich und unkontrolliert in einer Garage brannten. Irgendwo in der Vorstadt. Remy hatte sie einmal mitgenommen, als er das verdammte Zeug abholte. Sechs Flaschen hatten sie geholt und innerhalb einer Woche ausgesoffen.

Remy lag bäuchlings auf dem Bett. Er hatte die Schuhe nicht ausgezogen. Sie würden das Bett beschmutzen. Aber was machte das schon? Sie hasste den Mann, den sie vor kurzer Zeit noch angebetet hatte. Suzanne schloss die Tür wieder und ging zurück zum Tisch. Sie trank den Rest aus Remys Glas aus. Dann drückte sie eine Kurzwahltaste ihres Smartphones.

»Hallo Dad«, sagte sie mit schwammiger Stimme. »Ich habe dir gestern geschrieben, dass alles scheiße ist.«

Sie lauschte eine kurze Zeit. Dann sagte sie: »Hier passiert gleich was. Entweder er ersticht mich, oder ich ersteche mich selbst.« Sie unterbrach abrupt die Leitung, als er ihr beruhigend zusprechen wollte, und machte schließlich das Smartphone ganz aus. Irgendwas muss passieren, dachte sie.

Larsson schaute zur Uhr – 18.22.

Insel der Vergänglichkeit

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