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3. Kapitel

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Donnerstag, 10. Juli 2008


Gerd Thun kannte die Polizeidirektion in Anklam. Das Gebäude in der Friedländerstraße 13 war nach der Wende neu entstanden. Um die Region hier nicht ganz von der Entwicklung abzuhängen, hatte man die Polizeidirektion nicht nach Greifswald oder Stralsund gegeben, sondern hier, nahe des Zugangs zur Insel Usedom, angesiedelt.

Es hatte der Stadt zwar nur wenig Auftrieb gebracht, kamen doch die meisten Beamten aus anderen Städten angefahren, aus Lubmin, aus Stralsund, aus Greifswald und Umgebung, doch erfüllte diese Institution auch eine Aufgabe, Sicherheit zu verbreiten, denn Anklam war eine Neonazi-Hochburg.

Thun ging zum Schalter der Anmeldung. Hinter dem Glas befanden sich zwei Beamte.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte einer der beiden.

»Ich bin mit einem Ihrer Kollegen hier verabredet, der von der Abteilung Straftaten gegen das Leben und die Gesundheit aus Neubrandenburg kommt.«

Der Beamte sah eine Liste durch, fand aber offensichtlich keine Notiz zu diesem Vorgang. Deshalb befragte er seinen Kollegen. Kurze Zeit darauf meldete er sich wieder.

»Der Kommissar aus Neubrandenburg ist noch nicht da, Sie müssen sich einen kleinen Augenblick gedulden.«

Thun schäumte innerlich. Verabredung war Verabredung. Er würde niemals jemanden warten lassen, denn er würde andere Menschen nicht um ihre kostbare Lebenszeit betrügen.

Wenige Minuten später ging die Tür auf. Eine sehr forsch eintretende, gut aussehende junge Frau in Begleitung eines Mannes kam auf ihn zu.

»Herr Thun?«

»Ja.«

»Mein Name ist Daniela Herzog.« Sie deutete auf den Mann, der sie begleitete. »Kriminaloberkommissar Weber. Wir sind in der Angelegenheit Makowski verabredet.« Sie wandte sich dem Anmeldeschalter zu, hielt ihren Dienstausweis vor die Scheibe. »Wir haben von Neubrandenburg aus ein Besprechungszimmer bei Ihnen geordert.«

»Der Raum ist im ersten Stock, mein Kollege wird Sie gleich hochführen.«

»Ich möchte Ihnen gleich sagen, Herr Thun, dass die Nachricht in der Bild-Zeitung falsch war. Die Frau in dem Koffer war nicht zerstückelt.« Daniela Herzog hatte ihre Stimme gesenkt.

»Sie können sich jede Sentimentalität sparen. Ich kann mit dem Tod durchaus umgehen, denn ich beschäftige mich seit langer Zeit damit. Manchmal schreibe ich auch darüber.«

Der Beamte, der sie hochführen würde, öffnete die Glastür, um sie hereinzubitten. Während die Kommissarin vorging, achtete ihr Begleiter darauf, dass sie Thun in die Mitte nahmen. Sie gingen hoch in den ersten Stock und fanden ein leeres Zimmer, das für sie reserviert war. Thun blieb allein mit den beiden Kommissaren aus Neubrandenburg. Nachdem sie sich gesetzt hatten, legte Daniela Herzog ein Diktiergerät vor sich hin.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich das Gespräch gern aufzeichnen.«

Thun nickte zustimmend.

»Ich zeichne meine Frage auf, Sie antworten. Nur dass Sie sich nicht wundern, ich wiederhole dann Ihre Antwort so, dass unsere Schreibkräfte das auch verstehen können. Ist das für Sie in Ordnung?«

»Aber sicher doch.«

»Sie sind der leibliche Vater von Suzanne Makowski?«

»Ja.«

»Woher wissen Sie das so genau? Haben Sie einen Vaterschaftstest gemacht?«

»Nein, das brauchte ich gar nicht. Zum Zeitpunkt, als ich sie kennenlernte, sah sie aus, wie meine Tante mütterlicherseits in ihrer Jugend ausgesehen hat. Außerdem habe ich an jeder ihrer Bewegungen gesehen, dass es meine Tochter war.«

»Wie würden Sie das Verhältnis zu Ihrer Tochter beschreiben?«

»Als äußerst fragil.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Mal meldete sie sich, mal hörte ich dann wieder ein, zwei Jahre gar nichts von ihr.«

Satz für Satz wiederholte die Hauptkommissarin Thuns Antworten. Er konnte daran nichts aussetzen.

»Wann hatten Sie den ersten Kontakt zu Ihrer Tochter?«

»Kontakt? Ich sah sie einmal als Kind, aber ich hatte keinen Kontakt.«

»Wie das?«, fragte die Kommissarin.

»Das erste Mal sah ich sie 1973. 1972 gab es eine Amnestie in der DDR, nach der Republikflüchtlinge, die bis zu einem gewissen Stichtag abgehauen waren, wieder in die DDR einreisen durften, sofern sie einen Antrag gestellt hatten, der gebilligt wurde.«

»Traf das auf Sie zu?«

»Ja. 1966 im Oktober bin ich mit einem kleinen Schlauchboot von Usedom nach Øster Sømarken Bornholm geflohen.«

»Sie trafen Ihre Tochter also 1973, da war sie bestenfalls acht Jahre alt.«

»Exakt. Sie ist am 5. Januar 1966 geboren.«

»War ihre Mutter dabei?«

»Nein, ihre ältere Schwester. Mein Sohn Ben, den ich mitgenommen hatte, damit er seine Großmutter kennenlernt, und ich waren in einem Café beim Eisessen. Die Tür ging auf, und zwei kleine Mädchen kamen herein. Ich habe sie sofort erkannt.«

»Sie hatten sie doch noch nie gesehen.«

»Das war nicht schwer, ich wusste ja, dass sie eine ältere Schwester hatte. Und da sie zu der Zeit aussah wie meine Mutter in ihrer Jugend, wusste ich sofort, wen ich vor mir hatte.«

»Das war 1973. Wann haben Sie sie das erste Mal als Erwachsene gesehen?«

»2001, als ich in Bergen auf Rügen ›Das Haus nahe dem Strande‹ gelesen habe, hatte ich gehofft, dass sie mit ihren Eltern zugegen sein würde. Das war nicht der Fall. Daraufhin habe ich den damaligen Kurdirektor und eine Freundin von ihrer Mutter gebeten, einen Kontakt herzustellen. Wir trafen uns das erste Mal 2002 in Berlin Weißensee zum Essen bei einem Italiener und später einige Male in ihrer Wohnung. Einmal hat sie mich auch besucht, als ich gerade in einer Pension auf einem Pferdehof übergangsmäßig gelebt habe. Daran erinnere ich mich allerdings nicht besonders gern.«

»Warum?«

»Ihr damaliger Lebensgefährte setzte mich unter Druck. Ich sollte für die Anschaffung eines Autos bürgen.«

»Und das haben Sie?«

»Ja. Jede Gefälligkeit rächt sich.« Er erläuterte der Kommissarin, wie sich sein Engagement zusammensetzte.

»Wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal lebend gesehen.«

»Ich nehme an, dass Sie bei ihr das Smartphone gefunden haben.«

Die Kommissarin nickte.

»Dann werden Sie sicher auch wissen, dass ich mit ihr seit dem 27. Dezember vorigen Jahres WhatsApps ausgetauscht habe.«

»Ja.«

»Ich habe zwei Handys«, sagte Thun. »Ein altes Nokia, mit dem wir hin und wieder telefonierten. Und ein Smartphone, um uns über WhatsApp auszutauschen.«

»Sie haben schon recht, wir können das auch über das Gerät Ihrer Tochter verfolgen. Dennoch wollen wir gern vergleichen. Am besten wäre es, Sie geben uns die Geräte mal mit, damit unsere KT die Daten ausliest und sichert.«

Thun lächelte. »Das Nokia können Sie gerne mitnehmen. Ich sage Ihnen aber gleich, da ich nicht wusste, dass wir die ganzen Verbindungen noch brauchen, werden Sie dort nichts mehr finden. Ich habe regelmäßig alles gelöscht, was den Speicher zum Überlaufen gebracht hätte.« Er nahm das Handy und schob es ihr über den Tisch zu.

»Ich werde dafür sorgen, dass Sie es in der nächsten Woche noch zurückbekommen.«

»Ich brauche es wirklich schnellstens zurück, denn alle Bankdaten laufen über die Nummer 128«, sagte Thun.

»Und was ist mit dem Smartphone? Das würde ich auch gerne mitnehmen.«

»Das werde ich Ihnen aber nicht mitgeben«, sagte Thun. »Ich habe einen anderen Vorschlag, wir werden sämtliche Nachrichten, die über WhatsApp zwischen meiner Tochter und mir ausgetauscht wurden, in Ihren Mail-Briefkasten übertragen. Dann haben Sie es bei sich in Neubrandenburg, und das braucht nicht einmal jemand abzuschreiben.«

»Ja, das geht«, mischte sich Daniela Herzogs Begleiter ein. »Ich kenne mich damit aus.«

Er rief den Chat-Kontakt auf, den er mit Suzanne gehabt hatte. Als er auf ihr Eingangsbild drückte, erschien ein Ostseebild und darüber die Schrift.

»Ein ›Danke‹ oder ein ›Es ist schön, dass es dich gibt‹ ist so viel mehr wert als etwas Materielles.«

Jedes Mal, wenn er das aufrief, gab es ihm einen Stich ins Herz. Er schob dem Kommissar das Smartphone zu, der sich eine Weile damit beschäftigte.

»Kommen wir zurück zu meiner Frage. Wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal lebend gesehen?«

»Am 27. April dieses Jahres. Ich traf sie am Neuen Markt in Stralsund und war mit ihr in der Osteria Dell‘Oca zum Essen. Ich habe darüber eine Rechnung und kann das nachweisen. Wir waren zwischen 11:15 Uhr und 11:30 Uhr verabredet. Sie kam etwa 11:25 Uhr. Sie konnte nur schleppend laufen, da einer ihrer Füße einen Verband trug. Sie sagte, sie sei mit dem Fuß so unglücklich umgeknickt, dass er angebrochen sei. Sie kam gerade vom Arzt.«

»Haben Sie über Remy Günner gesprochen?«

»Ich muss dazu sagen, dass ich sie jedes Mal, wenn wir uns in Stralsund verabredet hatten, nach der Adresse gefragt habe, um sie abzuholen. Doch immer ist sie ausgewichen. Die Wohnung wäre nicht anzusehen, weil sie noch Umbauten vornehmen würden. Das ging etwa zweieinhalb, drei Jahre so. Aber am Vorabend dieses Treffens hatte ich ihr gesagt, dass ich nunmehr unbedingt wissen möchte, wo ich sie abholen könnte, wenn es mal dazu käme. Daraufhin sagte mir sie die Adresse, und als ich nach dem Namen fragte, der an der Klingel stünde, sagte sie Güner. Offensichtlich hatte ich sie nicht richtig verstanden, denn ich schrieb mir den Namen Remzi Güner anstatt Remy Günner auf. Misstrauisch wie ich bin, habe ich am Abend vor dem Treffen noch bei meinen Freunden in Tornesch bei Hamburg recherchiert. Remzi steht für Symbol, Geheimnis oder auch hohes Ansehen bei den Türken, und Güner ist sowohl als weiblicher als auch als männlicher Vorname sowie als Familiennamen in der Türkei gebräuchlich.«

Thun macht eine kleine Denkpause.

»Ich wusste von ihren Erzählungen her, dass sie ihr geschiedener Ehemann, ein muslimischer Bosnier, geschlagen hat. Er hat sie auch mehrfach ans Bett gefesselt, um sich an ihr zu vergehen, wenn sie sich ihm verweigerte. Aus diesem Grund und mit der Recherche über den Namen Güner sprach ich sie auf ihre Verbindung an. Sie hatte mir in einem Telefonat, das sie aus Rostock geführt hatte, geklagt, dass ihre Eltern den Mann nicht ausstehen konnten und es deshalb auch kaum gemeinsame Besuche in Lohme auf Rügen gegeben habe. Als sie mich fragte, was ich dazu sagen würde, habe ich ihr gesagt, dass ihre Eltern wohl bei ihrer Aussage Dinge berücksichtigt hätten, die mir nicht bekannt seien. Aber eine Frau mit 42 Jahren Lebenserfahrung, die bei Verstand sei, müsse selbst über ihr Leben und ihre Beziehungen zu Partnern entscheiden können. Im Nachhinein ärgere ich mich natürlich darüber. Dennoch, niemand ist des anderen Eigentum.«

Wieder diktierte die Kommissarin das Gehörte in ihr Aufzeichnungsgerät. Dann nickte sie ihm zu.

Als sie fertig war, gab der Beamte Thun das Smartphone zurück. »Es hat geklappt«, sagte er zu der Hauptkommissarin. »Es ist komplett in deinem Briefkasten.«

»Ich sprach Suzanne auf ihren Partner an. Wir sprachen etwa fünfzehn Minuten über die Beziehung«, sagte Thun. »Dabei sagte ich ihr, dass zweierlei Kulturen auch zweierlei Umgangsformen zwischen den Geschlechtern beinhalten. Sie möge sich doch daran erinnern, wie sie von ihrem Ehemann Muzafer Beganovic behandelt worden sei. Daraufhin sagte sie nur, ihr Lebenspartner wäre nicht so einer. Er käme aus einer ganz anderen Richtung. Sie erwähnte aber nicht, dass er nicht muslimisch sei. Wie auch, sie konnte ja nicht wissen, dass ich Günner mit einem n aufgeschrieben hatte. Inzwischen habe ich das natürlich durch die Zeitungsartikel mitbekommen und meine eigenen Recherchen angestellt. Und die besagen, dass der Mann ein Deutscher und gebürtig in Stralsund ist.«

»Wann gab es den letzten Kontakt auf dem Smartphone?«, fragte die Kommissarin.

Thun nahm das Smartphone hoch und rief die WhatsApp-Verbindungen auf, die er mit Suzanne gehabt hatte.

»Die letzte Nachricht von ihr kam am 7. Mai um 19:25Uhr. Ruf mich bitte an. Es kotzt mich an, immer zu schreiben. Daraufhin habe ich, soweit ich mich erinnern kann, einen Tag später, also am 8. Mai, gegen 17:00 Uhr mit ihr telefoniert. Um 17:27 Uhr kam die letzte Mail von ihr. Tut mir leid. Ich konnte mich nicht richtig at kulturellen. Habe meinen zu dicht. Den Abschluss bildete ein sehr negativ schauendes Smiley.«

»Wie lief das Gespräch zwischen Ihrer Tochter und Ihnen ab?«

»Hallo Dad.«

Thun machte eine kurze Pause. Er merkte, wie sein Herz wieder anfing zu schmerzen.

»Sie hatte wohl auf einen Anruf gewartet und mich an der eingehenden Telefonnummer erkannt. Zu dieser Zeit war aufgrund von Schwierigkeiten mit meinem Anschluss, mein Festnetz und das Internet bei mir ausgefallen. Ich fragte, warum sie mich nicht anrufen würde, sie könnte mich doch jederzeit über eine der beiden Handynummern erreichen.«

»Was hat sie geantwortet?«, fragte die Kommissarin.

»Hier passiert gleich ‘was. Entweder … er ersticht mich, oder … ich ersteche mich selbst«, sagte Thun leise.

»Wie haben Sie auf diese Aussage reagiert?«

»Ich habe versucht, sie mit Worten von dieser Tat abzubringen und sie dahingehend zu beruhigen, dass sich alles wieder einrenken würde.«

»Was hat sie geantwortet?«

»Gar nichts. Sie hat mir nicht zugehört. Ich merkte nach kurzer Zeit, dass sie bereits aufgelegt hatte.«

»Hat Ihre Tochter einmal erwähnt, wer ihre Vorgängerin in der Partnerschaft mit Remy Günner war?«

»Mir ist derzeit nicht erinnerlich, so etwas von ihr gehört zu haben.«

Als sie Gerd Thun entlassen hatte, sprach die Kriminalkommissarin Daniela Herzog noch einmal mit dem Leiter der Kriminalpolizei in Anklam. Sie bat ihn darum, zu versuchen in Erfahrung zu bringen, ob es irgendeine Verbindung zu einer nicht bekannten Freundin von Suzanne Makowski gegeben hatte. Sie wusste sehr wohl, dass diese Möglichkeit so gut wie ausgeschlossen war. Aber einen möglichen Erfolg konnte man nur verzeichnen, wenn man mit Sorgfalt in alle Richtungen ermittelte.

Insel der Vergänglichkeit

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