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2. Kapitel
ОглавлениеMontag, 12. Mai 2008
Oberkommissar Feltin schaute auf das Fernschreiben, das gerade eingegangen war. Es handelte sich um eine Vermisstenanzeige aus Berlin mit der Bitte um Amtshilfe. Er ging einige Türen weiter.
Beim KDD war schon zu früher Stunde reichlich Betrieb. Das Stimmengewirr war beträchtlich. Es galt, die Fälle vom Vortag aufzuarbeiten. Zwei Einbrüche, in denen die Ermittlungsarbeiten am Vortag angelaufen waren. Die sexuelle Belästigung einer älteren Frau von mehreren Männern. Mehrere Einsätze wegen Schlägereien, die aus Trunkenheit und Angebereien entstanden waren. Beziehungsstreits, die über das normale Maß verbaler Beschimpfungen hinausgingen. Ein Verkehrsunfall mit Todesfolge allerdings forderte den Einsatz des Teams, weil bei der Festnahme und anschließender Durchsuchung des Fahrzeuges Drogen gefunden wurden. Der Fahrer saß nun in Gewahrsam, und Einsatzleiter Harald Verstappen war bei der Formulierung der Unterlage für den Richter, der eine U-Haft anordnen müsste.
»Eine Vermisstenanzeige, Harald«, sagte Feltin.
Verstappen schaute kurz auf die Nachricht aus Berlin.
»Sie vermissen eine Frau, die in der Heilgeiststraße 5 wohnen soll. Das ist das Haus, in dem ehemals die Stralsunder Spar- und Darlehnskasse ihren Geschäften nachging, Ecke Mühlenstraße.«
»Schick einen Streifenwagen zum Abklären hin«, beschied Verstappen kurz.
Feltin ging zurück zu seinem Büro, in dem die Vermisstenfälle bearbeitet wurden. Meist hatten sie abgängige Jugendliche, die sie dann irgendwo wieder auffanden, oftmals zugekifft, oder die weggelaufen waren, weil sie mit den Zuständen, die sie umgeben hatten, nicht zurechtkamen.
»Verstappen meint, der Streifendienst soll einen Wagen hinschicken.«
»Ein typischer Montag«, stellte Mira Ludwig lakonisch und ohne sichtliche Regung fest.
Feltin nickte. Sein Gesicht drückte Widerwillen gegen die Entscheidung Verstappens aus. Zu gerne wäre er die Aufgabe losgeworden. Er ließ sich mit der Einsatzleitung der Landespolizei im Hause verbinden und trug seine Bitte vor. Man sagte ihm, dass man einen Funkwagen zur Heilgeiststraße schicken würde.
»Bin gespannt, wann die melden, was dort los ist. Wahrscheinlich gar nichts, wie so oft. Die Frau öffnet die Tür und fragt völlig erstaunt, ob die Polizei sich verklingelt habe.« Er schaute erwartungsvoll zu seiner Kollegin Mira Ludwig. Was denkt die sich nur, mir nicht sofort zu antworten, dachte er. Na ja, die Weiber ...
»Ich hole mir einen Kaffee«, sagte sie. »Solle ich einen für dich mitbringen?«
Feltin nickte. »Gerne, Mira.«
Mira verließ das Zimmer in Richtung Teeküche.
*
Polizeihauptmeister Leo Funke leerte den letzten Tropfen Kaffee aus seinen Becher, als ihr Wagen von der Leitstelle gerufen wurde.
»Strela vier … Strela vier, bitte kommen.«
Funke nickte seinem jungen Kollegen Jörn Schulz zu.
»Strela vier hört«, sagte Schulz.
»Wo seid ihr gerade, Leo?«
Leo Funke ließ sich von seinem Kollegen das Mikrofon geben und sagte: »In der Jacobiturmstraße, kurz vor der Neuapostolischen Kirche, Iris.«
»Ich hab einen Auftrag für euch. Ihr fahrt in die Heilgeiststraße 5 und überprüft bei dem Bewohner namens Remy Günner, ob bei ihm eine Frau namens Suzanne Makowski anwesend ist. Es liegt eine Vermisstenanzeige vor.«
»Wohnung Remy Günner«, wederholte Funke. »Heilgeiststraße 5. Wir sind unterwegs. Na da wollen wir mal«, sagte er und startete den Wagen.
Wegen der vielen Einbahnstraßen, die teilweise durch Fußgängerstraßen verbunden waren, mussten sie den kleinen Außenring über die Seestraße und die Mühlenstraße nehmen. Nach einigen Minuten kamen sie vor der Heilgeiststraße 5 an.
»Günner«, sagte Schulz und zeigt auf das Namensschild. Er drückte die Klingel. Als sich nichts rührte, wiederholte er den Druck etwas länger. Der Türsummer schnarrte, und die beiden Männer gingen hinein. Sie gingen die halbe Treppe hinauf bis zum Hochparterre. Rechts hatte sich die Tür einen kleinen Spalt geöffnet. In dem Spalt erschien das Gesicht eines Mannes mit schwarzgrau meliertem Haar.
»Sind Sie Günner, Remy Günner?«
Der Mann nickte.
»Ich kann nichts hören«, sagte Jürgen Schulz bestimmend.
»Ja.«
»Wohnt Frau Suzanne Makowski bei Ihnen?«, fragte Funke.
»Ja.«
»Wir möchten mit ihr sprechen.«
Als der Mann sich nicht bewegte, setzte Funke nach: »Wir möchten mit ihr sprechen, jetzt.«
Sie hörten, wie der Mann die Kette, die die Eingangstür sicherte, löste. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt. Im Flur war es dunkel, Günner hatte kein Licht gemacht. Sie versuchten, in den Flur hineinzuschauen. Doch es blieb dunkel. Vor ihnen stand ein Mann im Unterhemd und einergrauen Jogginghose. Sein Haar hing ihm wirr im Gesicht.
»Rufen Sie Frau Makowski«, sagte Polizeimeister Jörn Schulz. »Und machen Sie endlich Licht.«
Günner regte sich nicht.
»Holen Sie Frau Makowski«, drängte Schulz wieder.
Funke hatte gleich das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Der Mann benahm sich einfach sonderbar.
Günner hatte Licht gemacht. Die beiden Polizisten betraten die Wohnung und schlossen die Eingangstür hinter sich.
»Ich kann Suzanne nicht holen.«
»Wieso denn nicht?«, fragte Funke ungeduldig. »Wo ist sie denn?«
Günner deutete auf einen großen Koffer, der vor dem Spiegel im Flur stand. »Im Koffer.«
»Hören Sie mit solchem Mist auf«, sagte Schulz unwirsch, »uns ist nicht zum Spaßen zumute.«
»Ich habe sie getötet, und jetzt ist sie im Koffer.«
Günner ging die wenigen Schritte zu dem Koffer und öffnete ihn.
Die Männer starrten auf die Leiche, die sicher nicht ganz einfach in diesen Koffer hineingepasst hatte. Aber irgendwie war sie hineingekommen, und sie fragten sich, wie. Gleichzeitig machte sich ein aufdringlicher Verwesungsgeruch breit.
Polizeimeister Schulz hatte seine Dienstwaffe in der Hand.
»Sie werden die Waffe nicht brauchen, ich habe Sie schon lange erwartet. Und ich bin froh, dass ich jetzt nicht mehr mit ihr allein sein muss.«
Funke nahm sein Handy und rief die Zentrale an.
Es meldete sich jemand, es war nicht die Stimme von Iris.
»Strela vier, Polizeihauptmeister Funke. Geben Sie mir bitte Iris Sellin.«
Kurz darauf meldete sie sich. »Leo, habt ihr die Frau?«
»Ja, in einem Koffer. Verständige den KDD.«
»Was?«
»Frau Makowski ist seit mehreren Tagen tot. Der KDD soll übernehmen.«
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, sagte Funke: »Sie setzen sich jetzt auf den Stuhl an den Tisch. Ich möchte, dass Sie die Hände auf den Tisch legen und sie dort liegen lassen.«
Jörn Schulz hatte seine SIG Sauer P225 wieder ins Halfter gesteckt. Er ließ Günner jedoch keine Sekunde aus den Augen.
Der Mann hatte seinen Kopf zwischen die Unterarme auf den Tisch gelegt, so wie er es nach dem Säubern des Tisches gemacht hatte. Manchmal aber hatte er den Kopf gehoben, mit offenen Augen stundenlang in dieser Position verharrt. Sein Blick war dabei auf eine gerahmte Fotografie an der Wand fokussiert gewesen, die ihn und Suzanne in glücklichen Tagen am Strand auf der Insel Rügen zeigte. Längst hatte er keine Tränen mehr gehabt, sondern nur noch Angst. Angst, dass man ihm nicht glauben würde und er für eine Sache büßen müsste, die er nicht begangen hatte. Vor allem aber vor der Schande, wenn man ihn abführte. Und ein ohnmächtiges Gefühl des Verlustes traf ihn an der empfindlichsten Stelle seiner Seele. Er hatte Suzanne geliebt, wenngleich auf seine Weise.
»Sie haben gesagt, Sie hätten schon lange auf uns gewartet. Warum in Gottes Namen haben Sie uns nicht gleich angerufen?«
»Ich habe es mehrfach versucht«, sagte Günner leise.
»Und? Es ist bei dem Versuch geblieben?«, fragte Jörn Schulz.
»Nein, ich hatte einmal sogar den Notruf dran. Habe dann aber aufgelegt, weil ich Angst hatte, man würde mich einsperren.«
Polizeihauptmeister Funke mischte sich ein. »Was haben Sie eigentlich erwartet?«
Günner hob den Kopf. »Ich habe sie nicht umgebracht. Wir hatten wohl einen Streit, dennoch habe ich sie nicht umgebracht. Ich habe sie sehr geliebt.«
»Eben haben Sie etwas anderes gesagt«, sagte Jörn Schulz.
»Ich bin durcheinander, habe einen starken Schock.«
»Einen Streit? Worum ging es in dem Streit?«, fragte Funke.
»Suzannes Schwester ist einige Jahre zuvor um diese Zeit verstorben. Immer dann wird sie schwermütig.«
»Schwermütig?«
»Ja, schwermütig aber auch streitsüchtig.«
Funke schaute aus dem Fenster. Offensichtlich hatten sich schon einige Zuschauer eingefunden, die von dem ungewöhnlich geparkten Polizeifahrzeug angezogen wurden. Als wüssten sie, dass es in den nächsten Minuten hier etwas zu sehen gäbe, warteten sie wie die Aasgeier, die über einem sterbenden Rind kreisten.
»Woran ist die Schwester von Frau Makowski verstorben?«, fragte Funke übergangslos.
Schulz sah ihn verständnislos an, sagte aber nichts.
»Sie hatte wohl Hepatitis.«
»Aha«, sagte Schulz nur.
Es klingelte an der Tür. Funke sah aus dem Fenster und den Einsatzwagen der Kriminaltechnik. Es klapperte an der Tür, jemand schien durch den Briefschlitz zu schauen. Funke ging in den Flur und öffnete.
»Hallo Kollegen. Willkommen in der Hölle.« Er zeigte auf den offenen Koffer mit der Leiche.
»Die Frau muss aber schon einige Tage tot sein«, stellte Hauptkommissar Marcel Schroder, der leitende Beamte der KT, fest.
Durch das Fenster zuckte für einen Augenblick das blaue Licht des Einsatzwagens der Kripo auf.
Kurze Zeit später tauchte hinter Schroder, der noch einmal hinausgegangen war, um seine Kollegen zu instruieren, Kriminalhauptkommissar Jürgen Reiniger, der Stellvertreter Harald Verstappens, auf. Funke machte Meldung.
»Hat er schon was gesagt, außer dass er es nicht gewesen ist?«, fragte Reiniger.
Funke musste lächeln. Es war der Standardsatz, den Reiniger in jeder ähnlichen Situation anbrachte. Funke schüttelte den Kopf.
»Dann bringt ihn ins Kommissariat in die Barther Straße.«
Die Gruppe der Voyeure vor der Tür war angewachsen. Da war eine ältere Frau, die genau aus diesem Haus kam, um ihren Müll wegzuschaffen. Sie hielt die zwei Tüten noch in der Hand. Doch die Männer der KT waren gerade dabei, alles abzusperren, auch den Platz für den Müll. Sie untersuchten bereits den Inhalt eines Containers und fanden blutbefleckte Kleidungsstücke.
Weitere Menschen waren stehen geblieben, hatten dem Treiben mit Interesse und Erschrecken zugesehen.
Zwei Halbstarke schauten fasziniert zu, redeten ungeniert miteinander. »Der sieht aus wie ein Dealer.«
»Meinst du wirklich? Eher wie ein Penner, der irgendetwas geklaut hat. Sonst würde man ihn nicht in Jogginghose und offenem Hemd rausschleppen.«
»So etwas sieht man sonst nur im Fernsehen«, sagte die Nachbarin mit dem Müll zu einer anderen Seniorin. »Ich hätte nie gedacht, dass so etwas hier bei uns passiert.«
»Man kann nie in die Menschen hineinsehen«, antwortete die Angesprochene.
»Die Frau kam aus Berlin«, sagte die Frau mit der noch vollen Mülltüte.
»Da hätte sie bleiben sollen, dann würde sie noch leben.«
»Immer wieder gab es lauten Streit in der Wohnung«, sinnierte die Müllfrau.
»Aber die waren doch ein Paar?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Gewiss. Doch die Frau hatte nichts zu lachen.«
»Die haben immer gesoffen. Manchmal stank das Gelumpe bis ins Treppenhaus«, stellte ein älterer Mann fest, der den beiden Frauen zugehört hatte.
»Glaubst du noch an die Macht des Guten, Liesbeth?«
»Wenn ich das sehe ... Eher wohl nicht. Ich werde mir eine zweite Kette an meiner Eingangstür anbringen lassen.«
»Es ist einfach nur grausam.«
Inzwischen hatten die beiden Polizisten Remy Günner in den Funkwagen verfrachtet, der sich nun langsam in Bewegung setzte.
»Das warʼs für uns«, sagte einer der beiden Halbstarken und stupste den anderen in die Seite. »Lass uns abhauen.«
Langsam zerstreuten sich die Menschen, die plötzlich über ungeahnte Zeitreserven verfügt hatten.
Während Polizeihauptmeister Funke mit seinem Kollegen Jörn Schulz Remy Günner zum Wagen brachten, begannen die weiß gekleideten Männer ihre Arbeit in der Wohnung. Stück für Stück suchten sie die Räume nach Blutspuren ab, die sie allerdings ausschließlich im Küchenbereich auf und unter dem Tisch feststellten. Dafür fanden sie andere Dinge, Medikamente gegen Epilepsie … Antikonvulsiva, diverse Antiepileptika, dazu Zolpidem, Zopiclon und andere Schlafmittel.
Jürgen Reiniger wiederum benachrichtigte kurz Verstappen über die aufgefundene Situation, und der wiederum verständigte den zuständigen Leiter der Kriminalpolizei in Neubrandenburg. Kurze Zeit später waren die Beamten der Sonderkommission für Straftaten gegen das Leben und die Gesundheit auf dem Wege nach Stralsund.
*