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6. Kapitel

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Samstag, 12. Juli 2008


Sie hatten Glück, dass sie relativ zeitig in Lohme-Hagen auf Rügen angekommen waren. Jetzt, in der Urlaubszeit, war der Verkehr auf der Insel mehr als zähflüssig. Das hatte sich am frühen Morgen schon auf der Autobahn bemerkbar gemacht.

Nachdem sie die Rügenbrücke, die das Festland und die Insel verband, überfahren hatten, war der Verkehr streckenweise sogar kurzzeitig zum Erliegen gekommen. Das hatte sie gut eine halbe Stunde gekostet. Auch auf den Fisch, den sie beim Fischer Peters in Polchow bestellt hatten, mussten sie eine gefühlte Ewigkeit warten. Nun war es früher Nachmittag, als sie vor der Hotelpension Nordfeuer ankamen, die Larsson gebucht hatte. Zu dieser Zeit waren die meisten Gäste irgendwo am Strand oder mit einem der Urlauberschiffe, die von Saßnitz aus fuhren, unterwegs. So fanden sie auch unschwer einen Platz für ihr Auto direkt vor dem Haus.

Schon bei der Anfahrt hatte Monika die beiden hässlichen Häuser bemerkt, die gegenüber der Hotelpension Nordfeuer standen. Eines davon war bewohnt, wie sie unschwer ausmachen konnte. Es war trotz seines Alters noch in einem respektablen Zustand. Der Bauart hafteten unweigerlich die Anfangsjahre der DDR an. Beim zweiten Haus hatte man verschiedene Fenster eingeworfen und die Eingangstür herausgerissen. Alte verschlissene Vorhänge gaben dem ganzen Ensemble ein verwahrlostes Aussehen.

Wie immer, wenn sie ihn verführen wollte, trug sie ihre Haare offen. Sie sah dann noch bezaubernder aus. Es war ihm stets schwergefallen, diesen Reizen zu widerstehen.

»Ich hab deinen Blick gesehen.«

»Und?«, fragte Larsson.

»In diesem Augenblick hast du nur daran gedacht, wie du mich erobern kannst.«

»Ach was.«

»Ich bin überzeugt davon, dass du das nie zugeben würdest. Warum eigentlich nicht?«

»Ärgert dich das?«

»Es ärgert mich nur, dass du mir unter Vorspiegelung falscher Tatsachen diese Reise untergejubelt hast. Ich war einfach nicht wachsam genug. An deinen Gesten hätte ich wissen müssen, dass du gar nicht daran denkst, nur mit mir zu verreisen, um die Zeit mit mir, und nur mit mir zu verbringen. Ein Glück, dass meine Mutter uns Elina bis Sonntag abgenommen hat.«

Er stellte sich hinter sie, beugte sich leicht vor und begann ihren Nacken zu streicheln. Noch bevor sie etwas sagen konnte, fing er an, sie zu massieren. Monika tat das gut. Manchmal fühlte sie, wie ihr Rücken und Nacken sich versteifte, dann sich langsam die Verspannungen nachließen.

»Denkst du oft daran, wie es ist, wenn du zum zweiten Mal Vater wirst?«, fragte Monika unvermittelt.

Dieser Gedanke nahm Larsson mit einem Mal die Luft.

»Willst du damit sagen, du bist wieder schwanger?«

Sie sah ihn durchdringend an. »Wäre das so ein unangenehmer Gedanke für dich?«

»Wie kommst du denn darauf? Bist du oder bist du nicht?«

»Eher nicht. Und ich werde mir sehr überlegen, ob ich mit dir noch ein zweites Kind haben will.« Sie grinste ihn unverschämt an.

Wenn er ehrlich war, so war dieses Gesicht eine einzige Aufforderung, ihn abhängig zu machen. Und wenn er etwas hasste, dann war es, seine Unabhängigkeit zu verlieren. Doch jedes Mal, wenn sie Sex haben wollte, brachte sie es fertig, ihn dafür im Handumdrehen zu gewinnen. Ihm war klar, dass er sich in einer gewissen Abhängigkeit befand. Dennoch würde sie auch dieses Mal wieder Sieger sein.

»Hey«, sagte sie. »Bist du überhaupt in Lohme?«

»Wieso?«

»Weil ich denke, dass du mit deinen Gedanken weit weg bist. Manchmal denke ich, du würdest in diesem Zustand nicht mal merken, wenn ich dir einen blase.«

»Vielleicht denke ich darüber nach, wie du in eine Verdi-Oper passt«, parierte er.

»Lucia di Lammermoor.«

»Verdi«, verbesserte Larsson. »Nicht Donizetti.«

»Spießer.«

»Ich werde dich in Zukunft Azucena nennen, wie Verdis Zigeunerin im Troubadour benannt ist.«

»Bin ich eine Zigeunerin?«

Larsson hob die Schultern.

»Manchmal denke ich, dass du gar nicht in der Lage bist, mit deinen Gefühlen innerhalb deiner Familie zu sein. Du lebst wie ein Single in einer kleinen Familie ... Au … Das ist die harte Stelle. Sei bitte vorsichtig.«

Larsson strich die kleine Massage aus und gab ihr einen kleinen Klaps.

»Der Single geht jetzt gleich in das gelbe Haus neben der Ruine«, sagte er. »Ich weiß noch nicht, wie lange das dauert.«

»Wenn du mir das nur vorher gesagt hättest ...« Sie schäumte vor Wut.

Er kannte sie genau, wusste, wie sie reagierte. Sie pflegte nicht zu brüllen, ganz im Gegenteil. Ihre Stimme wurde fast leise, blieb aber dennoch intensiv in einer Tonlage, die er gar nicht schätzte.

»Vielleicht ist es ja ganz interessant. Möglicherweise gibt es eine Chance, dich nachzuholen.«

»Untersteh dich. Ich gehe nirgendwohin.«

»Fühlst du dich gut, wenn du so grantelst?«

»Nicht wirklich.«

»Ich auch nicht.«

»Das ist aber weiß Gott nicht meine Schuld«, beharrte Monika.

»Es wäre vielleicht doch besser gewesen, du wärst zu Hause geblieben«, sagte er bissig. »Immerhin ist das ein Freundschaftsdienst.«

Sie schüttelte unwillig den Kopf. »Mal ist es deine Arbeit, ein anderes Mal ein Freundschaftsdienst. Fakt ist, dass wir wieder ein Wochenende unterwegs sind, in dem wir gar nichts voneinander haben.«

Irgendwie musste er ihr Recht geben. Was zum Teufel hatte ihn nur geritten, diese Mission zu übernehmen? Dann besann er sich. Auch eine Freundschaft verlangt hin und wieder mal nach einer Streicheleinheit. Und so sah er diese Aufgabe als das, was sie war: ein Freundschaftsdienst.


*


Larsson wartete, bis der Pulk Autos an ihm vorbeigefahren war. Dann ging er über die Straße, maß noch einmal den hässlichen Kasten, der wohl Anfang der Siebzigerjahre entstanden sein musste. Kurz darauf stand er vor dem Eingang des Hauses. Im Garten sah er eine junge Frau mit einem Kleinkind spielen. Das Kind war in jedem Fall älter als Elina. Die Frau schien ihn nicht zu bemerken.

Er klingelte. Kurz darauf erschien eine Frau in der Tür. Sie mochte um die sechzig oder etwas älter sein, schlank. Sie machte einen gepflegten Eindruck. Doch spürte er sofort, dass sie etwas bedrückte. Ihre Augen sahen verweint aus.

»Mein Name ist Lasse Larsson«, stellte er sich vor. »Frau Makowski?«

Die Frau nickte.

»Ich hatte mit Ihrem Mann telefoniert. Er war so freundlich, mir zuzusagen, dass er mit mir in einer delikaten Angelegenheit reden würde.«

»Kommen Sie bitte herein.«

Der Raum, den sie jetzt betraten, war abgedunkelt. Dennoch drang für Larsson genügend Licht durch die zugezogenen Vorhänge, um den Mann, der am Tisch saß, zu erkennen.

»Herr Larsson«, sagte die Frau mit dünner Stimme.

Larsson nahm wahr, wie sein Gegenüber ihn musterte und dann mit einer Handbewegung auf den Stuhl, der ihm gegenüberstand, deutete.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee vielleicht?«, fragte die Frau.

Larsson schüttelte den Kopf. »Danke, nein.«

»Du solltest uns lieber ein Bier bringen. Herr Larsson trinkt bestimmt eins mit.« Herr Makowski schaute Larsson herausfordernd an.

Larsson wusste, dass, würde er jetzt kneifen, der Mann für ihn nicht mehr erreichbar sein würde.

»Würden Sie ein Bier mit meinem Mann trinken?« Er merkte, dass der Frau diese Frage widerstrebte.

»Gern«, sagte Larsson.

Er sah aufs Fenster. Durch den Schleier der Gardinen sah er schemenhaft, dass der Himmel blau war, und dass die Sonne schien, während sie hier saßen, wie in einem Verlies des Todes.

»Wir haben gleich gesehen, dass dieser Mann unserem Mädel den Tod bringen würde. Er hat sie nicht geliebt, er hat sie beherrscht.«

Die Frau kam aus der Küche zurück und brachte zwei Flaschen Bier und zwei Gläser.

»Du weißt, dass ich aus der Flasche trinke«, herrschte Makowski seine Frau an.

»Und Sie?«

»Ich würde gern ein Glas nehmen«, sagte Larsson.

Leise, wie sie gekommen war, ging sie hinaus. Wahrscheinlich stellte sie das überflüssige Glas nur ab, denn sie kam wieder herein und setzte sich in einen Sessel, der in der Ecke stand. Larsson nahm sie schattenhaft wahr.

»Sie kommen also in seinem Auftrag.«

Er hatte keinen Namen genannt, doch Larsson wusste, wen er meinte. Sie hatten am Telefon kurz darüber gesprochen.

»Herr Thun hat mich beauftragt, mit Ihnen über Ihre Tochter Suzanne zu sprechen.«

»Gerd Thun und ich kannten uns aus der Werkstatt von Auto-Kruse, wo ich beschäftigt war.«

Makowski prostete Larsson zu, und die beiden Männer nahmen einige Schlucke des Störtebeker-Bieres, das aus einer Stralsunder Brauerei kam.

»Auch Thun brachte sein Auto zur Reparatur«, nahm Makowski das Gespräch wieder auf. »So freundeten wir uns ein wenig an. Das Elend kam über uns, als ich zur Armee eingezogen wurde.« Makowski schwieg eine Weile, als müsse er sich sammeln.

»Thun lebte zeitweise in einer Wohnung in Berlin, die seiner Mutter gehörte. Meine Frau und ich trafen uns in dieser Wohnung und hatten natürlich Sex. Also war ich anfangs überhaupt nicht im Zweifel darüber, wer der Erzeuger des Kindes ist, ich.«

Larsson hörte ein Stöhnen aus der Ecke, in der Frau Makowski saß. Sie schien sehr schwer an ihrem Schicksal zu tragen.

»Irgendeiner meiner Kollegen machte eine anzügliche Bemerkung. Er sagte, er habe meine Frau mit Gerd Thun in einem Edelschuppen auf Usedom gesehen. Sie hätten gemeinsam dort gegessen und reichlich sowjetischen Sekt getrunken. Sie wären auch gemeinsam gegangen. Und schon war mein Misstrauen geweckt. Es hatte mich auch nicht verlassen, als meine Frau mir sagte, es sei nichts gewesen.« Der Mann lachte auf. »Frauen können lügen, ohne rot zu werden.«

Rosa Makowski verließ wieder den Raum. Larsson hörte, wie sie schluchzte.

»Rosa ist die Liebe meines Lebens, trotz allem«, sagte Makowski. »Aber sie hat mich enttäuscht. Das geht tief, sehr tief.« Er stand auf, ging zu einem großen Büfett. Larsson sah und hörte ihn hantieren. Dann kam er mit zwei Wassergläsern und einer Flasche Korn zurück.

»Eigentlich trinke ich nur Bier«, sagte Makowski. »Doch ich kann Ihnen gar nichts erzählen, wenn ich nicht einen gewissen Pegel habe. Dann ertrage ich das Leben nicht mehr. Aber ich möchte es noch ertragen. Schließlich bekommen wir eine Rente, mit der wir auskommen können.« Er schwieg einen Moment, als müsse er seine Gedanken sortieren. »Obwohl, groß an Veränderungen oder Restaurationen am Haus können wir gar nicht denken. Dazu reicht es nicht. Aber das brauchen wir auch nicht. Das letzte Hemd hat keine Taschen. Also versaufen wir unser Kleinhäuschen.« Er füllte die beiden Gläser mit dem Korn und kicherte vor sich hin.

»Als ich es Jahre später erfuhr, habe ich lange an Rache gedacht. Ich hatte tatsächlich angenommen, ich würde ihn halb totprügeln, erwischte ich ihn.«

Als Makowski schwieg, fragte Larsson: »Hat es sich nicht ergeben?«

»Nein. Er war plötzlich verschwunden. Und es hieß, er sei über die Ostsee in den Westen geflohen. Ich wusste, dass er meinetwegen abgehauen war.«

Makowski schob Larsson das Glas zu, sodass durch die Bewegung ein Teil der Flüssigkeit über den Tisch lief.

»Rosa«, rief er. »Bring einen Lappen, ich habe ein wenig verschüttet.«

Die Frau ging hinaus in die Küche, kam kurz darauf mit einem Tuch zurück und wischte den Tisch ab. Als sie wieder gegangen war, hob Makowski das Glas.

»Prosit, Herr Larsson.«

Während Larsson nur einen kleinen Schluck nahm, trank Makowski das Glas in einem Zug leer.

»Sie wissen, warum ich hier bin?«, bohrte Larsson nach.

»Warum kommt er nicht selbst?«

»Er weiß, dass er eine Menge falsch gemacht hat. Wenn man jung ist, verliert man die Übersicht über das Machbare«, sagte Larsson.

Makowski hob die Schultern. »Er hat mit einem Mal irgendwelche Gewissensbisse? Das kann ich nicht glauben.«

»Ich weiß nicht, ob er Gewissensbisse hat. Nur eins weiß ich genau, er meint es ernst. Er sagte, er wolle sich bei Ihnen entschuldigen. Und er wolle ein Teil von dem wiedergutmachen, was er mit seinem Verhalten in der Jugend zerstört hat.«

Makowskis Lachen war ein wenig hysterisch, wie immer, wenn er getrunken hatte. »Thun hat mir ein Stück meines Lebens geraubt, und nun glaubt er, er könne das mit einem Federstrich aus der Welt schaffen.«

Larsson sah ihn ruhig an. »Als er mit mir sprach, hat er das sehr, sehr ernst gemeint.«

»Dem glaube ich kein Wort.«

»Ich hatte das Gefühl, man könne ihm glauben.«

Makowski nickte. Er goss nach, und schaute Larsson fragend an.

Larsson schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht gewöhnt, so viel Alkohol zu trinken. Und ich möchte gern meine Gedanken beisammenhaben, wenn wir miteinander sprechen.«

»Als Suzanne zur Welt kam, wohnten wir zwei Häuser weiter, in dem grauen Kasten, der nach dem Krieg entstanden war. Wir hatten zwei Zimmer, keine Zentralheizung, aber einen Badeofen, den wir mit Holz und Kohlen anheizen mussten.«

Makowski stand schwankend auf. »Ich muss mal ins Bad.«

»Manuel leidet sehr«, sagte die Frau, als der Mann aus dem Zimmer war. »Es ist nicht nur, dass Suzanne nicht sein Kind ist, das war sie in den ersten Jahren ihres Lebens trotz allem immer. Wir sind die Familie, in der der Tod zu Hause ist.«

Larsson hatte das Gefühl, dass die Frau ihm etwas sagen wollte. Sie schaute ihn mit offenen Augen an.

»Unsere Erstgeborene, Helga, fiel ganz plötzlich bei einem Besuch bei uns um und verstarb. Mein Mann fragte immer wieder, warum es Helga getroffen hat. Schließlich hätten wir doch zwei Töchter. Das hat Suzanne sehr getroffen. Die beiden Mädels waren zwar einige Jahre auseinander, aber sie waren unzertrennliche Freundinnen über ihre verwandtschaftlichen Verbindungen hinaus.«

»Wann war das? In welchem Jahr ist Ihre Tochter Helga verstorben?«, fragte Larsson leise.

»1988. Suzanne war damals 22 Jahre alt. Das war auch der Zeitpunkt, als sie erfuhr, dass sie nicht die leibliche Tochter meines Mannes ist.«

»Wie genau hat Suzanne das erfahren?«

»Ich glaube, es ist ihr bewusst geworden, als sie gerade dazukam, wie Manuel sagte, dass er nicht verstünde, warum Helga verstorben sei und nicht Suzanne ... Darüber hinaus hatte ich einen großen Fehler gemacht.«

»Einen Fehler macht jeder einmal«, stellte Larsson lakonisch fest.

»Erzähle etwas einer besten Freundin unter dem Siegel der Verschwiegenheit, und es wird garantiert unter die Leute gebracht werden.«

»Wo ist ihr Mann eigentlich? Hoffentlich ist ihm nichts passiert«, wandte Larsson ein.

»Das Gespräch geht ihm sicher sehr an die Nerven. Oftmals, wenn er etwas getrunken hat, legt er sich hin und schläft ein. Aber es dauert meist nie lange, dann ist er wieder da.«

Sie stand auf, ging kurz hinaus auf den Flur und in das angrenzende Schlafzimmer. Es war, wie sie gesagt hatte.

»Manuel hatte sich aufs Bett geworfen und ist eingeschlafen«, sagte sie, als sie zurückkam. »Was wir auf Usedom verheimlichen konnten, war plötzlich auf Rügen wie ein Gespenst aus einem Grab auferstanden. Wenn ich einkaufen ging, starrten mich die Leute an. Sie wussten also Bescheid. Was wir sehen, ist eine Ehebrecherin. Und selbst das ist kurz vor der Beerdigung Helgas bis zu Suzanne vorgedrungen.«

Larsson konnte sich sehr gut vorstellen, was in einer jungen Frau vorgeht, die beim Tod ihrer Schwester plötzlich erfährt, dass sie ein Kuckuckskind ist.

»Ist Suzanne manchmal von Ihrer Familie zurückgesetzt worden? Wurde Ihre ältere Tochter vorgezogen?«,

»Manchmal schon. Doch als Kind hat sie das nicht ganz so gemerkt.«

»Wie hat sie auf die Nachricht reagiert?«

»Sie hat kurz nach der Beerdigung Helgas ein paar Sachen zusammengepackt und wortlos das Haus verlassen. Nicht einmal ihren Freund hat sie über ihre Abreise verständigt. Für uns löste sie sich von einer Minute zur anderen in Luft auf.«

»Sie haben Ihre Tochter doch wiedergefunden«, stellte Larsson fest.

»Einige Monate später habe ich durch eine Freundin meiner Tochter erfahren, dass Suzanne nach Berlin gegangen war.«

»So ist das also. Die Kinder suchen das Weite, wenn sie einen verlassen, und gehen gleich bis in die Hauptstadt«, stellte Larsson lapidar fest.

»Über diese Freundin habe ich erfahren, dass sie sich in Ost-Berlin aufhielt. Kurz vor dem Fall der Mauer erfuhr ich Suzannes Adresse. Bevor ich hinfahren konnte, war die Mauer gefallen, und meine Tochter hatte sich in den Westen abgesetzt.«

»Das ist bitter.«

»Ja. Das war es.«

»Das Suchen ging von vorne los«, sagte Larsson.

»Ja, denn es dauerte auch einige Monate, bis sie wieder Kontakt zu Selina aufnahm. Selina wiederum verständigte mich, dass der Kontakt zu Suzanne wieder bestünde. Doch da war sie schon verheiratet. Zwei Jahre später wurde Lilian, ihre Tochter, geboren.«

»Da hatte sie es eilig«, sagte Larsson. »Besser wäre vielleicht gewesen, sie hätte sich erst ein wenig in der Welt umgeschaut.«

»Suzanne hat einen sehr eigenen Charakter. Was sie unter umschauen verstehen, Herr Larsson, das hat sie sicher schon hier gemacht. Sie war relativ frühreif. Ich hatte in der Hinsicht schon einige Probleme mit ihr.«

»Der Baum ist nicht mehr verantwortlich für die Frucht, ist sie erst einmal abgefallen« sagte Larsson.

»Nein. Und dennoch hätte ich diese kleinen Probleme liebend gern auf mich genommen, wäre sie dageblieben.«

»Wie haben Sie den Kontakt hergestellt?«

»Ich fuhr nach Berlin. Ihre Freundin hatte mir erzählt, dass sie an diesem Tag zusammen zum Bummeln ins Europa Center gehen würden.«

»Ein relativ kleines Einkaufszentrum«, stellte Larsson fest.

»Es liegt genau neben der Gedächtniskirche am Kurfürstendamm. Es ist bestimmt einer der quirligsten Einkaufszonen Berlins.«

»Es hat sie beeindruckt.«

»Sehr. Ich sah, wie die beiden Mädels sich vor dem Weltkugelbrunnen am Breitscheidplatz trafen.«


*


Sie hatten schon sämtliche Modegeschäfte in der Umgebung abgeklappert, das Zara am Anfang der Tauentzienstraße, waren über die Rankestraße hinweggegangen bis zum Levis Store, um nach Hosen zu sehen, hatten die Tauentzienstraße überquert. Am Breitscheidplatz blieben sie vor dem Weltkugelbrunnen einen Augenblick stehen. Dann gingen sie langsam die Treppe hinunter in Richtung Europacenter.

Rosa Makowski stand vor der Treppe und schaute den beiden Frauen entgegen. Am rechten Steinlauf war ein riesiges Krokodil, dessen Kopf ihr entgegenschaute. Hoffentlich ist das kein schlechtes Omen, dachte sie. Ihr Herz klopfte, sie fürchtete, dass Suzanne nicht mit ihr sprechen würde.

Kurz vor dem letzten Treppenabsatz blieben die Frauen stehen. Suzanne sah ihre Mutter an dem schmalen schmiedeeisernen Zaun sitzen, der zum Abschluss vor dem Café im Untergeschoss zur Sicherung stand.

»Mama, was machst du denn hier!«, rief Suzanne. Ihre Freundin Selina war stehen geblieben und schaute, wie sich Mutter und Tochter umarmten.

»Ich bin gekommen, um dir zu sagen, wie unendlich leid es mir tut, dass du weggegangen bist. Und vor allem, wie du erfahren hast, was in unserer Familie schiefläuft.«

Selina kam hinzu. Sie begrüßte Rosa Makowski. »Ich glaube, ihr beide habt euch viel zu erzählen.«

Suzanne ließ ihre Mutter kurz los, und die beiden Frauen gaben sich die Hand.

»Danke, Selina. Vielen herzlichen Dank. »Ja, wir haben uns sehr viel zu erzählen. Und ich glaube, wir dürfen die Gemeinsamkeiten, die wir haben, nicht einfach über Bord werfen, ganz gleich, welche Wurzeln ihnen zugrunde liegen.«

»Du bist mir schon eine«, sagte Suzanne und schüttelte den Kopf. Sie lachte. »Lässt mich ohne Vorbereitung in die Falle laufen.«

Selina verabschiedete sich und ging die Treppe zum Weltkugelbrunnen wieder hoch. Sie drehte sich noch einmal um und winkte kurz. Doch Suzanne und ihre Mutter nahmen das gar nicht mehr wahr.

Das schwarze Gebäude mit der Saturn-Werbung beherbergte verschiedene Geschäfte. Doch die beiden Frauen liefen durch die Gänge an den Geschäften vorbei, ohne sich an den Auslagen zu erfreuen. Zu sehr waren sie miteinander beschäftigt. Vorbei ging es am Modelabel Soccx und Tchibo. Plötzlich standen sie am Ausgang.

»Ich hab eine Idee«, sagte Suzanne.

»Wir sollten uns irgendwo eine Ecke suchen, in der wir uns setzen und in Ruhe unterhalten können«, sagte Rosa.

»Genau daran habe ich auch eben gedacht. Du hast doch sicher noch nichts gegessen.«

»Nein.«

»Eigentlich hatte ich vor, mit dir irgendwo essen zu gehen. Es kommt nicht so oft vor, dass ich allein durch die Gegend laufen kann«, sagte Suzanne. »Gleich gegenüber ist Mings Garden, ein tolles China-Restaurant. Ich kenne es von meiner Zeit, bevor es Muzafer Beganovic gab.«

Die beiden Frauen überquerten die Tauentzienstraße. Sie liefen direkt auf die Ecke zur Marburger Straße zu, an der sich das Restaurant befand.

»Du redest von deinem Mann?«

»Ja. Und ich weiß, was du sagen willst.«

Suzanne kannte ihre Mutter genau und wusste in diesem Augenblick auch, was sie bedrückte.

»Muzafer Beganovic. Ist es das?«

Rosa Makowski nickte.

Inzwischen waren sie an Mings Garden angekommen.

»Sieht sehr gut aus« sagte Rosa und senkte ihren Blick in die Speisekarte, die sorgfältig unter Glas vor dem Eingang angebracht war. »Teuer zumindest.«

»Mit dem teuer hält sich das in Grenzen, Mama. Mings Garden ist eines der gehobenen China-Restaurants in Berlin. Und da sind sie ihrem Ruf etwas schuldig.«

Draußen wallte der Verkehr.

»Eigentlich wollte ich hören, wie es dir nach deinem Weggang von uns geht. Aber zuerst will ich dir sagen, dass ich sehr froh bin, dass du dich mit mir triffst.«

»Ich bin auch froh, Mama.«

Sie setzten sich an einen Vierertisch. Das Restaurant war so kurz nach der Öffnungszeit um zwölf erst mäßig besetzt. Der Kellner kam und gab beiden eine Karte.

»Liebst du ihn?«, fragte Rosa Makowski, als sie wieder allein waren.

»Muzafer Beganovic?«

Suzanne nickte.

»Sonst hätte ich ihn kaum geheiratet. Obwohl es mit ihm nicht immer einfach ist.«

»Und er, liebt er dich?«

»Auf seine Weise schon. Aber lass uns erst einmal etwas bestellen, sonst verhungern wir noch.«

»Was hältst du von Rindfleisch mit Morcheln und Spargel an Reis?«, fragte Rosa Makowski. »Ich lade dich dazu ein.«

»Das klingt richtig gut. Und ich weiß, dass es hier sehr gut schmecken wird.«

»Dein Vater lässt dich grüßen. Es tut ihm unendlich leid, was passiert ist. Er hat es sicher nicht so gemeint.«

»Du musst es nicht herabspielen, Mama. Er hat es so gemeint. Es wäre ihm lieber gewesen, ich wäre gestorben, und Helga wäre noch am Leben. Mir wäre übrigens das auch lieber gewesen.«

»Suzanne.«

Der Kellner kam wieder zum Tisch, und Rosa Makowski gab die Bestellung auf.

»Was möchtest du dazu trinken, mein Kind?«

»Am liebsten ein kleines Bier.«

Der Kellner wiederholte die Bestellung und fragte: »Und Sie?«

»Für mich bitte auch ein Bier.«

Als der Kellner gegangen war, sagte Rosa: »Ich will mich nicht mit dir streiten, Suzanne, denn ich bin froh, dass wir uns getroffen haben. Dennoch möchte ich sagen, dass dein Vater euch immer gleich behandelt hat. Ihr seid beide seine Töchter. Und sicher gab es ab und zu eine Ausnahme, dann aber für beide Töchter.«

Suzanne griff über den Tisch nach der Hand ihrer Mutter.

»Ich weiß, du meinst es gut, Mama.«

»Es tut gut, dich zu spüren, mein Kind. Das habe ich vermisst.«

»Dein Kind bin ich in der Tat. Aber seines …«

»Seins auch. Zumindest was die Familie insgesamt betraf.«

»Aber er hatte immer im Hinterkopf, dass er nicht mein Erzeuger war. Und irgendwann hatte ich auch immer das Gefühl, die Tochter zweite Klasse zu sein.«

Das Essen kam, und sie mussten einen Augenblick ihr Gespräch unterbrechen.

»Lass es dir schmecken, mein Kind.«

Rosa Makowski wusste, dass ihre Tochter recht hatte. Aber dennoch wollte sie das so nicht sehen. Das hätte ja ein Eingeständnis vorausgesetzt, dass sie wissentlich zugeschaut hätte. Und das hatte sie tatsächlich nicht. Sie hatte immer versucht, zu vermitteln, hatte immer versucht, Manuel in die richtige Richtung zu lenken. Und in der Regel klappte das auch.

»Die Hauptsache ist, dass du jetzt glücklich bist, Suzanne«, sagte sie zwischen zwei Bissen.

»Glück? Was ist Glück überhaupt, Mama?«

Sie ist mein schwieriges, mein aufsässiges, mein nachdenklich machendes Kind, dachte Rosa Makowski. Helga war da wesentlich einfacher zu dirigieren.

»Glück ist es, eine eigene Familie zu haben, in der man sich sehr wohlfühlt.«

»Eine eigene Familie habe ich ja jetzt schon. Lillian ist zwei Jahre alt, und Muzafer wird es sicher nicht bei dem einen Kind belassen.«

Die Art, wie sie Suzanne das sagte, gab der Mutter ein Stich.

»Lil-li-an?«

»Meine Tochter, Mama. Hast du nicht gewusst, dass ich eine Tochter habe?«

Obwohl es ihr schmeckte und sie noch nicht aufgegessen hatte, schob Rose Makowski den Teller von sich weg. »Nein.«

»Schmeckt das Essen nicht?«

»Nicht mehr, Suzanne.«

»Aber genau so ist es, Mama. Ich weiß nicht, was ihr in dieser Zeit getrieben habt, und ihr wisst von mir gar nichts.«

»Bist du glücklich mit diesem …«

»Muzafer, Muzafer Beganovic.«

»Ein Ausländer also.«

»Ein Bosnier.«

»Ein Bosnier«, stellte Rosa Makowski lakonisch fest.

Suzanne merkte Enttäuschung in der Stimme der Mutter. Anders hatte sie das gar nicht erwartet.

»Ein Muslim, Mama.«

Rosa Makowski seufzte. »Ich habe es vermutet.«

»Und da laufen die Uhren ein wenig anders als hier in Deutschland.«

»Du liebst ihn?«

Susan hob die Schultern. »Liebe. Was ist Liebe?«

»Wärme, Suzanne. Wärme, Zusammengehörigkeitsgefühl, Streicheleinheiten für die Seele.«

»Und Sex.«

»Ja, und Sex.«

»Davon versteht er was, vom Sex. Solange es ihn betrifft. Der Rest, den du beschrieben hast, ist für ihn nicht relevant. Er hat das zu Hause nicht gelehrt bekommen, und er hat es sich nicht von anderen absehen können. Denn in seiner Welt gibt es nur die Macht der Männlichkeit.«

»Ein Macho.«

Suzanne nickte. »Wie er im Buche steht. Entweder man akzeptiert das, oder es hat Folgen.«

»Folgen?«

»Ja, Folgen. Und die können sehr drastisch sein.«

Wieder seufzte Rosa Makowski auf.

»Wenn du großes Glück hast, kriegst du eins in die Fresse. Oder er bindet dich ans Bett an und vögelt dich in Ruhe auch anal, während dir die Tränen der Scham, des Schmerzes und der Erniedrigung übers Gesicht laufen.«

Suzanne nahm den letzten Bissen von ihrem Teller und beobachtete ihre Mutter. Sie hatte es absichtlich so gesagt, um ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Das war ihr gelungen.


*


»Es war wirklich nicht leicht, Suzanne beizukommen. Das Schlimmste allerdings ist, dass die beiden Mädchen mir immer ihr Lieblingslied vorgesungen haben, was die Morbidität unseres Hauses vorwegnahm. Sie hatten es wundervoll einstudiert, sangen es zweistimmig.«

»Welches Lied?«, fragte Larsson.

»Knockinʼ on heavens door. Es ist ein Bob-Dylan-Song.« Die Frau summte es leise an, dann öffneten sich ihre Lippen. »Mama, nimm dieses Abzeichen von mir. Ich brauche es nicht mehr. Es wird dunkel, zu dunkel, um etwas zu sehen. Ich fühle mich, als klopfe ich an die Himmelspforte.«

Larsson sah, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Es zerfrisst mich, aber ich höre es immer wieder und wieder: Mama, vergrabe meine Waffen. Ich kann mit ihnen nicht mehr schießen. Der lange schwarze Schatten senkt sich ab. Ich fühle mich, als klopfe ich an die Himmelspforte.«

»Sehr gefühlvoll«, stellte Larsson fest. »Ich kann mir denken, wie Sie sich fühlen.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, das können Sie bestimmt nicht. Ich werde oft gefragt, wie es mir geht. Darauf kann ich gar nicht ehrlich antworten, denn mich fröstelt bei dem Gedanken an meine beiden Kinder. Ich setze mich dann oft in die Sonne, wenn mir kalt ist, hänge dann meinen Gedanken nach. Glauben Sie mir, diese Gedanken sind ein Albtraum.«

Larsson nickte, sagte aber nichts.

»Diese Gedanken engen mein Herz ein, lassen es manchmal aussetzen, versetzen mich in Todesangst. Sie müssen wissen, ich liebe mein Leben. Aber Liebe und Hass sind oft ganz dicht beieinander, wie Geschwister. Wie Geschwister, wie Helga und Suzanne.«

Larsson machte sich seine Gedanken. Spätestens seit er wusste, dass seine Frau ihm ein Kuckuckskind geboren hatte, hatte Makowski seine Frau leiden lassen. So wie er sie behandelte, seit er das Haus und dieses Zimmer betrat, war sein Ton schlimmer und erniedrigender als zu einem Hund, der unerwartet in die Wohnung pisste. Die Frau musste schlimme Zeiten erlebt haben. Ihr Leben von diesem Zeitpunkt an musste ein einziges Martyrium gewesen sein.

»Heute singe ich für beide Mädchen und Malo nur noch Tears in Heaven«, sagte Rosa Makowski. Sie summte den Eric-Clapton-Song kurz an.

»Wer ist Malo?«, fragte Larsson.

»Malomir«, sagte Rosa Makowski leise. »Er war unser Enkel, Suzannes Sohn. Er starb einjährig am zweiten Weihnachtsfeiertag den Kindstod hier in unserer Wohnung.«

Oh Gott, was für ein Elend, dachte Larsson.

»Er war noch so klein.« Abermals weinte die Frau.

»Bist du schon wieder bei den Trauerreden?«, tönte es von der Tür her. Makowski kam zurück, in der Hand hatte er zwei Flaschen Störtebeker.

»Tu doch nicht so, Manuel, als wärest du der, der über den Tod unserer Kinder hinwegsehen könnte, als wäre es eine kleine Träne in der Nacht.«

»Ich möchte nicht, dass du jeden Tag davon redest.«

»Wenn ich nicht davon rede, redest du davon. Wir können beide nicht aus unserer Haut«, widersprach Rosa Makowski.

Es klopfte an der Tür. Rosa Makowski stand auf und ging hinaus in den Flur.

Makowski setzte sich an den Tisch. Er hatte zwei Störtebeker aus der Küche mitgebracht. Eins davon schob er Larsson zu.

»Immer wenn ich von ihr etwas will, kommt irgendetwas dazwischen. Sie klingelt nicht, sie klopft. Und da weißt du gleich, sie will irgendwas extra, was nicht im Preis enthalten ist.«

»Sie ist ein Badegast, nehme ich an«, sagte Larsson.

»Exakt.«

Einen Augenblick hörten sie Rosa Makowski in der Küche hantieren. Kurz darauf kam sie wieder herein.

»Na, was wollte sie denn dieses Mal?«, fragte Makowski.

»Etwas Salz und ein Ei.«

Makowski prustete los. »Etwas Salz und ein Ei. Was es nicht alles gibt.«

»Es ist eben schwierig, wenn man ohne Auto hier ist. Anfang der Woche wird wohl ihr Mann wiederkommen, dann ist sie nicht mehr auf so Kleinigkeiten von uns angewiesen.« Obwohl sie ihren Mann meinte, hatte sie Larsson angeschaut. »Am liebsten würde mein Mann gar nicht mehr vermieten. Doch das können wir uns gar nicht leisten.«

»Die kaputte Heizung auch nicht«, warf Makowski ein.

Rosa Makowski hob die Schultern. »Irgendwie muss es ja weitergehen. Irgendwie.«

»Die Heizung könnte ich ja reparieren«, sagte Makowski.

»Du wirst nicht an die Heiztherme gehen«, sagte sie. »Ein kleiner Fehler und wir fliegen alle in die Luft.« Sie drehte sich Larsson zu. »Es ist eine Gastherme.«

»Ein Bums, und die liebe Seele hätte für immer Ruhe.«

»Wollen wir noch mal darauf zurückkommen, weshalb Herr Thun mich gebeten hat, mit Ihnen zu sprechen?«

»Genau.«

»Er bittet Sie, an der Beerdigung Suzannes teilnehmen zu dürfen«, sagte Larsson ohne Umschweife.

Makowski machte den Eindruck, als sei er mit einem Schlag nüchtern geworden. Er schaute zu seiner Frau.

»Was sagst du dazu, Rosa?«

Rosa Makowski schüttelte langsam den Kopf.

»Sie sehen, meine Frau will das nicht. Sie hat keine Lust, nach so vielen Jahren ihren Geliebten wiederzusehen.«

»Manuel …« Es kam wie ein Schrei.

»Was ist daran falsch?«

»Es gibt keinen Grund, so ironisch zu werden. Du weißt, dass er nie mein Liebhaber war.«

»Was war er denn dann?«

Als sie nicht gleich antwortete, setzte er nach.

»Was zum Beispiel? Ich kann mich nicht erinnern, dass du katholisch bist. Denn dann wäre es sicher eine Bestäubung durch einen Zauberficker.«

Die Frau fing abermals an zu weinen. »Ich habe dir wieder und wieder erzählt, wie das passiert ist«, sagte sie zwischen zwei Schniefern. »Und du bohrst unerlässlich nach. Dabei merkst du gar nicht, wie viel du kaputtmachst.«

»Kaputtmachst? Ich? Wenn jemand etwas kaputtgemacht hat, dann ja wohl du.«

»Ich sollte jetzt besser gehen«, sagte Larsson. »Vielleicht ist es Ihnen lieber, wenn ich morgen noch einmal vorbeischaue.« Die Frau schaute flehentlich zuerst zu ihrem Mann, dann zu Larsson.

»Bring mir ein Glas Wasser, bitte«, sagte Makowski.

Larsson hörte das erste Mal das Wort »bitte«. Fast hatte er gedacht, dass es dieses Wort im Sprachschatz Makowskis gar nicht mehr gab. Doch auch der Ton war ein anderer, als der, den er zuvor eingeschlagen hatte.

»Sag dem Kommissar Larsson, was du zu sagen hast, Rosa. Eher gibst du ohnehin keine Ruhe.«

Einen Augenblick glaubte Larsson, so etwas wie Dankbarkeit in ihren Augen zu sehen. Dann fing Rosa Makowski an, der Aufforderung nachzukommen.

»Wie ich schon sagte, ich traf Suzanne in Berlin, und nach und nach erfuhr ich von ihr, was abgelaufen war. Nachdem sie von uns weggelaufen war, hatte sie in Berlin einen Mann kennengelernt, der aus einem kleinen Dorf in Bosnien stammte.«

»Jetzt kommtʼs gleich«, warf Manuel Makowski siegessicher ein.

»U ime Boga Milostivog Samilosnog Molim te Bože Svemoguci. Neka tuga postane nada! Neka osveta bude pravda! Neka majčina suza Bude molitva: Da se nikome nikad Ne ponovi Srebrenica! Reisu-l-ulema Srebrenička Monita. Potočari 11. Juli 2001.«

»Sie hat’s auswendig gelernt«, triumphierte Makowski.

»Ich habe das schon einmal gehört« sagte Larsson. Doch ich habe vergessen, was es auf Deutsch heißt.«

»Im Namen Gottes des Barmherzigen und Mitleidsvollsten. Wir beten zu dem allmächtigen Gott. Lass die Trauer Hoffnung werden! Lass die Rache Gerechtigkeit werden! Lass die Träne der Mutter zum Gebet werden! Dass sich Srebrenica niemals, nirgendwo und keinem wiederholt … Er ist das Gebet von Srebrenica ...«

Insel der Vergänglichkeit

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