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1. Kapitel

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Ein Mittwoch im Juni 2008


Ben Thun war gerade dabei, die Mutterstute mit dem Fohlen auf die Weide zu stellen, als ihn das Geräusch eines anfahrenden Autos erreichte. Er drehte den Kopf, sah, dass ein Streifenwagen der Polizei auf das Grundstück fuhr und vor dem Haus anhielt. Mit einem Klick löste er den Führstrick vom Halfter der Stute. Sie drehte sich um, und Mutterstute samt Fohlen begannen einen Aufgalopp über die Weide.

Ben schloss das Gatter und ging auf die beiden Polizisten zu. »Was verschafft mir diese Ehre?«, fragte er.

»Herr Thun? … Gerd Thun?«

»Ich bin der Sohn. Mein Vater ist auf Reisen. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«

»Es gibt eine Anfrage der Schweriner Polizei. Ihr Vater wird für eine Befragung gebraucht«, sagte einer der beiden Polizisten.

»Aus Schwerin? Worum gehtʼs da?«

Der Polizist zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich auch nicht. Es geht um eine Zeugenaussage.«

»Ich gebe Ihnen die Handynummer meines Vaters. Da können sich Ihre Kollegen mit ihm in Verbindung setzen.« Er nannte die Nummer, die einer der Polizisten notierte. Die Polizisten verabschiedeten sich und fuhren davon.

Ben ging ins Haus zurück. Er nahm sein Handy und wählte die Nummer seines Vaters.

Als sich der Rufton des Smartphones in Gerd Thuns Wagen bemerkbar machte, schaute er kurz auf das Display und aktivierte die Freisprechanlage.

»Ben … Grüß dich. Gibtʼs Probleme mit den Pferden?«

Ben Thun lachte. »Mit den Pferden ist alles in Ordnung. Aber die Polizei war gerade hier.«

»Die Polizei?«

»Sie brauchen dich für eine Zeugenaussage.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Das konnten sie mir nicht sagen. Die Anfrage kommt aus Schwerin. Ich habe ihnen deine Handynummer gegeben, sie werden sich bei dir melden. Aber was in Gottes Namen gibt es in Schwerin, was du in irgendeiner Art und Weise bezeugen könntest?«

»In Schwerin, nichts.«

»Dann verstehe ich die ganze Aufregung nicht.«

»Aber Ben, denk doch einmal nach. Wer wohnt denn in der Zuständigkeit des Innenministeriums Mecklenburg-Vorpommern?«

Als sein Sohn nichts sagte, fasste der alte Thun nach. »Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern … Denk an deine Halbschwester.«

»Suzanne …«

Gerd Thun hatte mit einem Mal ein ungutes Gefühl. Suzanne war seine außereheliche Tochter. Offiziell hatte er von ihrer Existenz erst vor einigen Jahren erfahren, als er aus seiner Vita »Das Haus nahe des Strandes« in Bergen auf Rügen gelesen hatte. Damals hoffte er, dass die Makowskis, die inzwischen in den Norden der Insel gezogen waren, von dieser Lesung erfahren hatten und gekommen waren, um zu hören, ob er etwas von seinen Erfahrungen aus der Jugendzeit preisgab. Aber das war nicht der Fall gewesen. Eine weit entfernte Freundin Rosa Makowskis hatte Thun erkannt. Sie winkte ihm kurz zu. Daraufhin sprach er sie an. Er gab dieser Frau seine Karte, bat darum, Rosa in seinem Auftrage zu bitten, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Er wollte ein Zeichen der Versöhnung setzen. Alles hat seine Zeit. Zeit, so sagt man, heilt alle Wunden.

Rosa hatte sich tatsächlich mittels einiger E-Mails mit ihm in Verbindung gesetzt und ihrer Tochter Suzanne Kontakt ermöglicht.

Das erste Treffen zwischen Suzanne und ihm fand in einem italienischen Restaurant in Berlin Weißensee statt. Das war vor sieben Jahren gewesen. Doch bei genauer Überlegung waren die Kontakte über die ganzen Jahre immer sehr fragil geblieben.

Auf einer Lesereise, die ihn nach Tornesch im Norden von Hamburg, Leer in Ostfriesland, Oldenburg und wieder Hamburg führte, hatte er sich bei der Rückfahrt nach Prätenow am 27. April mit Suzanne in Stralsund getroffen. Wieder hatten sie bei einem Italiener, in der Osteria Dell‘Oca am Neuen Markt, gespeist. Suzanne hatte das Lokal ausgesucht. Während er Grigliata Di Pesce Misto, verschiedene gegrillte Fischfilets, bestellte, bestand Suzanne darauf, ihre Scampi nur mit Spaghetti zu ordern. Alle Versuche, sie zu einem höherwertigen Angebot zu bewegen, liefen ins Leere.

Doch kam eine sehr angeregte Unterhaltung zustande, bei der sie auch über die Beziehung sprachen, die Suzanne seit ihrem plötzlichen Wegzug aus Berlin zu einem Mann in Stralsund unterhielt.

Erst am Vorabend hatte Thun die Adresse ihrer Wohnung und den Namen des Mannes erfahren, mit dem sie jetzt lebte.

Das Haus lag ganz in der Nähe der Osteria Dell‘Oca in der Umgebung des Katharinenbergs, neben einem historischen Bürgerhaus, in dem in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ein beachtliches Fuhrgeschäft mit dem Namen Schulz residierte. Gerd Thun erinnerte sich nicht mehr an die Hausnummer. Suzanne hatte sie doch genannt. Er dachte daran, dass das Alter immer mehr und mehr seine Erinnerungen trübte. Speziell die Kurzzeiterinnerungen. Aber eben nicht nur die. Wie alle Menschen seines Alters fürchtete er den Namen Alzheimer, ganz besonders in Verbindung mit dem Wort Krankheit.

»Du meinst, es hat etwas mit Suzanne zu tun?«, unterbrach Ben seinen Gedankenfluss.

»Das ist die einzige Möglichkeit.« Gerd Thun dachte an eine der letzten WhatsApp-Nachrichten, die er von Suzanne bekommen hatte.

»Bitte, kannst Du mir helfen? Ich hasse mein Leben.«

»Und?«, drängte Ben.

»Ich habe ein ungutes Gefühl. Es hat einige Hinweise gegeben, die ich als Warnsignale registriert hatte.« Er sagte ihm, was sie ihm geschrieben hatte, und fuhr fort: »Das betraf auch dich. Sie hat immer wieder versucht, Kontakt zu dir zu bekommen.«

»Du weißt, warum ich da abgeblockt habe. Ich hatte weiß Gott genug eigene gesundheitliche Probleme. Da konnte ich es einfach nicht ertragen, länger vollgenölt zu werden als unbedingt nötig. Und sie konnte sich einfach nicht kurzfassen.«

»Warte kurz. Ich fahre gleich auf einen Parkplatz.« Gerd Thun fuhr auf den nächsten Autobahnparkplatz, stellte den Motor ab und rief Suzannes WhatsApp-Konto auf. Ein Blick auf das Icon gab ihm einen Stich ins Herz.

Ein »Danke« oder ein »Es ist schön, dass es Dich gibt« ist so viel mehr wert als etwas Materielles. Er öffnete die Nachrichten.

»Bitte, kannst Du mir helfen? Es geht nicht um Geld. Ich hasse mein Leben.«

Es geht nicht um Geld. Den Teil hatte er vergessen. Aber genau dieser Teil der Nachricht war es gewesen, der alle seine Warnlampen blinken ließen.

»Warum hasst Du Dein Leben??«, hatte er mit zwei roten Fragezeichen zurückgeschrieben. Ein Emoji zwinkerte zwischen den zwei S. Damit wollte Thun ein wenig Spannung aus der Nachricht nehmen. Der Versuch ging nach hinten los.

»Weil es so ist.«

»Und nun? Da gibt‘s nur eins, zu versuchen, dass man das Beste daraus macht.« Er setzte eine Hand mit erhobenem Daumen und ein Icon mit einem Herzen dahinter. Dann schickte er die Nachricht ab. Das war am 1. Mai um 15:34 Uhr.

Sechs Tage lang kam keine WhatsApp-Nachricht mehr von Suzanne bei ihm an. Doch am 7. Mai schrieb Thun: »So, ich bekomme meine Gesundheit langsam wieder in den Griff. Wie steht es bei dir?«

Dreizehn Minuten später kam die Antwort. »Was soll ich sagen? Alles gut.« An das Ende hatte sie ein Icon gesetzt, das schockiert schaut, bei dem kalter Schweiß von der Stirn tropft und der Mund entsetzt offensteht.

»Na, von gut sind wir sicher beide noch weit entfernt. Aber wir müssen es nehmen, wie es kommt. Ben liegt wieder auf der Nase.«

Drei Minuten später schrieb sie: »Rufe mich bitte an. Es kotzt mich immer an, zu schreiben.«

Diese Nachricht erreichte Thun erst am Morgen des 9. Mai, zusammen mit einer weiteren Nachricht, die sie am 8. Mai am späten Nachmittag abgeschickt hatte: »Tut mir leid. Ich konnte mich nicht richtig at kulturellen. Habe meinen zu dicht.«

Er konnte mit dieser verstümmelten Nachricht nichts anfangen. Vielleicht hatte sie ja wieder getrunken, wie manchmal, wenn sie nachts bei ihm das Telefon klingeln ließ. Doch das war, wie sich erst später feststellen ließ, die letzte Nachricht, die er von ihr erhalten hatte.

Also schrieb er um 6:32 Uhr »Guten Morgen, mein Kind. Hast du versucht, hier anzurufen? Ich stehe gerade erst auf. Endlich habe ich mal eine Nacht richtig geschlafen. Ich habe versucht, zurückzurufen. Es funktioniert nicht. Du musst dich hier mit mir auf WhatsApp verabreden, und dann versuchen wir es noch einmal. Euch beiden einen schönen Tag nach Stralsund.«

»Ben, bist du noch dran?«

»Natürlich.«

»Ich glaube, ich habe mich völlig falsch verhalten.«

»Verstehe wirklich nicht, Vater, was du damit sagen willst.«

Gerd Thun berichtete seinem Sohn, dass alle weiteren Versuche, Suzanne nach dem 8. Mai zu erreichen, ins Leere gelaufen waren.

»Du glaubst, dass sie nicht mehr lebt?«

»Vielleicht hat sie sich ja ...«

Einen Augenblick schwiegen beide Männer.

»Ich kann unmöglich bei den Eltern anrufen«, sagte Thun. »Manuel würde durch den Draht hindurchkommen und auf mich losgehen.«

»Auf dich vielleicht, Vater. Ich kann ja anrufen.«

»Das würdest du machen?«

»Es ist ja schließlich meine Halbschwester.«

Thun gab Ben die Nummer durch. Dann fuhr er weiter auf der Autobahn in Richtung Dresden.

Zwanzig Minuten später, er hatte gerade die Ausfahrt nach Groß Köris passiert, rief Ben ihn wieder an.

»Ich habe mit dem Mann telefoniert«, sagte er. »Nachdem ich ihm sagte, wer ich bin, hat er kurz mit mir geredet.«

»Er ist nicht auf dich losgegangen?«

»Er war sehr, sehr ruhig.«

Thun merkte, dass sich seine Herzfrequenz erhöhte. »Was hat er gesagt?«, drängte er.

»Ich habe ihm gesagt, dass die Polizei hier war, um mit dir zu sprechen. Als ich ihn fragte, ob etwas mit Suzanne sei, sagte er nur, dass sie tot sei.«

Ben hatte eine Pause gemacht, um zu hören, wie sein Vater reagierte. Aber als Thun nichts sagte, fuhr er fort: »Als ich ihn fragte, wie sie ums Leben gekommen sei, fragte er, ob er das beantworten müsse. Ich habe das verneint, habe mich bedankt für die Auskunft, und damit war das Gespräch für uns beide beendet ... Vater, bist du noch dran?«

»Ich frage mich immer wieder, warum ich ihren offensichtlichen Hilferuf so beiseitegeschoben habe.«

»Du solltest dir keine Vorwürfe machen, schließlich war sie immer sehr widersprüchlich in ihren Aussagen.«

Gerd Thun wusste, dass Ben recht hatte. Dennoch hatte er genau bei diesem letzten Hilferuf das Gefühl gehabt, dass etwas dran sein musste. Doch er hatte das Gefühl negiert.

An der Ausfahrt Großräschen verließ er die Autobahn und bog rechts ab. Nach wenigen Kilometern kam der Ort Saalhausen, wo er vor dem örtlichen Friedhof hielt. Er stieg aus, um das Grab eines Ehepaars zu besuchen, mit dem er mehr als sechs Jahre befreundet gewesen war. Die beiden hatten ein glückliches Leben hinter sich gebracht, zwei Kinder großgezogen, beide Kinder hatten studiert, aus beiden war etwas geworden. Das war ohne Zweifel eine Erfolgsstory.

Vor zwei Jahren war der Mann gestorben. Nur einige Monate später folgte ihm seine Frau. Nun waren ihre Urnen vereint unter dieser Steinplatte mit der einfachen, schnörkellosen Aufschrift.

Gerd Thun wurde an die eigene Vergänglichkeit erinnert. Obwohl er sonst sorgsam vermied, ausschließlich Privatreisen zu unternehmen, hatte er diese Dresden-Fahrt als eine solche geplant, um auf den Spuren seiner Wurzeln zu wandeln. Ein kleiner Teil dieser Wurzeln lag auch hier auf diesem Friedhof. Wenn man alt wird, dachte er, kommen die Einschläge immer näher. Es ist wie bei einer Blume, die erst aufgeht, schön anzusehen ist und dann doch welk wird und schließlich umfällt. Auf diesem letzten Trail des Lebens schien er jetzt unterwegs zu sein.

Er war erst wenige Meter von dem Friedhof entfernt, als sein Smartphone klingelte.

»Hier ist Lilli …«

Lillian, schoss es ihm durch den Kopf, die Tochter von Suzanne. Er vermied das Wort Enkelin. Es würde ihn nur an sein Alter erinnern. »Meine Enkel umfahre ich weiträumig«, pflegte er zu sagen. Daran hielt er sich. Er fuhr rechts in den Parkhafen eines Einfamilienhauses und stellte den Motor ab.

»Hallo Lilli.«

»Du weißt, was passiert ist?«, fragte sie.

»Ben hat mit deinem Großvater telefoniert, nachdem die Polizei bei uns war, um mit mir zu sprechen. Deine Mutter ist verstorben.«

»Verstorben?« Es war ein Aufschrei.

»Sie hatte mir so eine kurze Mitteilung geschickt, dass sie ihr Leben nicht mehr mag«, sagte Thun. »Ich kann das gar nicht verstehen, denn ich habe mich erst am 27. April mit ihr in Stralsund getroffen. Wir haben über Gott und die Welt geredet. Sie schien mit ihrem Leben zufrieden zu sein.«

»Das hat sie zu dir gesagt?«

»Ja. Und sie hat es durchaus glaubhaft rübergebracht. Zwischen uns gab es kein böses Wort. Es gab einen Schriftverkehr auf WhatsApp, der am 27. Dezember letzten Jahres begann. Ich habe alle Einträge geprüft. Es gab wirklich kein böses Wort zwischen uns.«

»Ich weiß.«

»Hat sie dir das gesagt?«

»Ja.«

»Ich kann dir einige Posts vorlesen, damit du mir glaubst.« Er begann, den Schriftverkehr in rückwärtiger Reihenfolge vorzulesen. Als sie versuchte, ihn zu unterbrechen, sagte er: »Ich kann nicht verstehen, weshalb sie sich umgebracht hat, ich mache mir Vorwürfe, nicht auf sie eingegangen zu sein. »

»Sie hat sich nicht umgebracht«, sagte Lillian, »Du bist nicht schuld an ihrem Tod.«

Gerd Thun hatte eine Veränderung in ihrer Stimme bemerkt. Sie war noch aufgeregter als zuvor.

»Wann ist dein Kontakt zu meiner Mutter abgebrochen?«

»Am 8. Mai«, sagte er. »Ich habe nur sehr kurz mit ihr telefoniert.«

»Wie bei mir. Ich bekam einfach keinen Kontakt mehr zu ihr, auch nicht, wenn ich versuchte, mit ihr zu telefonieren«, sagte Lillian. »Ich war beunruhigt und wollte deshalb schon mit meinem Freund nach Stralsund fahren. Du weißt doch, ich bin schwanger. Und mein Freund meinte, ich solle das Kind nicht gefährden. Also gab ich eine Vermisstenanzeige auf. Man hat mich verständigt, dass die Polizei die angegebene Adresse überprüft hat.«

»Und?«, fragte Thun leise.

»Als die Beamten den Lebensgefährten meiner Mutter nach ihr fragten, zeigte er auf einen großen Koffer, der im Flur stand.«

Thun wagte nicht, etwas zu sagen.

»Bist du noch dran?«, fragte Lillian.

»Ja.«

»Die Beamten haben dann Mama in dem Koffer gefunden.«

Gerd Thun fragte sich, wie ein Mensch von geschätzten 1,65 Metern Körpergröße in einen Koffer passen würde.

»In einem … Koffer?«

»Es war ein Schrankkoffer, wie ihn Artisten verwenden.«

»Ich bin gerade auf der Fahrt nach Dresden, Lilli«, sagte er. »Kann ich dich anrufen, wenn ich wieder zu Hause bin?«

»Ja, natürlich.«

»Ich bin so angeschlagen von der Nachricht, dass ich das erst einmal verdauen muss«, sagte er, und: »Pass auf dich auf, Kleines. Deine Mutter hat mir vor vier Wochen schon erzählt, dass du schwanger bist. Nicht, dass dem Kind noch etwas passiert.«

Als die Verbindung getrennt war, rief Thun seinen Cousin an. Er sagte ihm, dass er leider die vereinbarte Zeit nicht einhalten könne und deshalb den Termin um zwei Stunden verschieben müsse. Dann begab er sich wieder auf die Autobahn, um die restlichen Kilometer nach Dresden zu bewältigen.

Da an der Dresdner Autobahn gebaut wurde, zog es sich endlos hin, bis er endlich die Ausfahrt nach Dresden Neustadt nehmen konnte. Nach einigen Kilometern musste er feststellen, dass die früher genutzte Einfahrt in die Stadt über den Neustädter Bahnhof so nicht mehr nutzbar für den Durchgangsverkehr war. Sicher ein Gewinn für die Stadt. Vorbei ging es am Elbschloss Albrechtsberg, hinauf in Richtung zum Weißen Hirsch. Nur einige Kilometer weiter würde er die Grundstraße nach Loschwitz hinunterfahren können. Als er rechtsseitig über die kleine Brücke fuhr, die mitten in der S-Kurve gelegen war, erinnerte er sich daran, dass er, führe er geradeaus weiter, direkt an dem auf dem Berg gelegenen Wohnhaus des Bassbaritons Theo Adam vorbeifahren würde. Er erinnerte sich an die Zeit, in der er oft in Dresden war, um seine Großmutter zu besuchen. Vor dem Haus auf dem Berg, direkt an der Straße, lag die Garage der Adams. An diese hatte Thun eine besondere Erinnerung an ein amouröses Abenteuer. Er beschloss, diese Straße hinunter nach Loschwitz zu fahren. Er fuhr die enge, kurvige abwärts, bis vor ihm die imposante Brücke Das blaue Wunder auftauchte, die er überquerte. Auf dem Schillerplatz reihte er sich nach links ein. Eigentlich wollte er in der Tolkewitzer Straße parken, fand aber keinen Platz für sein Auto. Doch hatte er ein Restaurant mit dem Namen Mikado entdeckt, von dem aus eine kleine Straße bis zur Elbe hinunterging. Er war schon an dem Restaurant vorbei, musste zurückfahren. Er hatte Glück, denn genau dort fand er, ziemlich am Fluss, den letzten freien Parkplatz, der seinen Wagen aufnahm.

Er ging zurück zum Mikado, las am Eingang die Speisekarte durch. Offensichtlich wurde hier japanisch gekocht. Aber er fand für sich einen Lachs, der seinem Wunsch der Zubereitung entsprach. Also ging er hinein, setzte sich ans Fenster und bestellte sich, was er vor dem Eingang schon ausgesucht hatte. Plötzlich machte sich sein Handy bemerkbar. Er meldete sich.

»Hier ist die Polizei in Stralsund. Herr Thun?«

»Ja. Was kann ich für Sie tun?«

»Wir haben eine Nachricht für Sie, dass Sie sich für eine Befragung zur Verfügung stellen müssen.«

Thun tat so, als wisse er nicht, worum es ging. »Was habe ich denn verbrochen?«

»Verbrochen? Ich denke mal, gar nichts. Man will ihnen etwas mitteilen«, sagte der Mann am anderen Ende.

»Na schön, dann kann man mit mir reden, wenn ich wieder zu Hause bin.«

»Ich gebe Ihnen jetzt eine Telefonnummer. Sie werden gebeten, dort anzurufen, um einen Termin zu vereinbaren.«

Thun schrieb sich die Nummer auf. »Sie wollen mir nicht sagen, worum es sich handelt?«

»Soviel ich weiß, geht es um einen Todesfall.«

»Man hat meine Tochter ermordet«, kam es aus Thun heraus.

»Oh, dann wissen Sie mehr als wir hier. Seien Sie so freundlich und rufen bei der Kripo an, um einen Termin zu vereinbaren, oder sagen Sie mir, wie Sie zu erreichen sein werden.«

Thun versicherte, sich am kommenden Tag mit der Kriminalpolizei in Stralsund in Verbindung zu setzen, und beendete das Gespräch.

Kurz darauf kam der Lachs, den er sich bestellt hatte. Obwohl er nach dem ersten Bissen feststellen musste, dass der Fisch exzellent schmeckte, stocherte er unlustig in dem Essen herum. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Es war ein Glück, dass Lillian ihn angerufen und aufgeklärt hatte, was in Stralsund passiert war. Er fragte sich, ob der Polizist, der ihn so unbedarft angerufen hatte, tatsächlich so unwissend über den Todesfall war, wie er getan hatte.

Kurze Zeit später zahlte er, rief seinen Cousin Egon an, dem er sagte, dass er in etwa zehn Minuten bei ihm in der Heinrich-Schütz-Straße ankommen würde.

Insel der Vergänglichkeit

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