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Angst. Eine Störung mit 60 Watt.

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Ana und ich sind ein Paar. Heute, an diesem heißen Tag im Kaffeehaus, wirft sie mir Folgendes vor: Ich bin gepeinigt, geschlagen von der Schlaflosigkeit, die du mir ständig aufdrängst. Statt der ersehnten Selbstvergessenheit und Leichtigkeit quälst du mich mit Gedanken. Unvollständige Gedanken, unfruchtbare Gedanken, zersplitterte Gedanken, die Angst vor dem Ungewissen, diese nächtliche Zerrissenheit. Du zwingst mich zu den Schlaftabletten, zur chemischen Beruhigung, diese verflucht hohen Ansprüche, die du mir aufzwingst, diese ständige Unzufriedenheit, ich hätte mehr aus mir machen können, bessere Gedanken, besseres Schreiben. Erwartungsangst, Vermeidungsangst, Überforderungsangst, generalisierte Angst, Todesangst und Ruhmsucht, Versagensangst, Lebensangst, Krise und Größenwahn, die Angst, das Falsche zu tun, die Angst vor der Ablehnung, die Selbstablehnung, die Angst vor der Angst, Verzweiflung und Höhenflug: Alles vermischt sich zu einem Getränk in mir.“ Mit einer Energie von 60 Watt in ihrem Kopf spricht Ana weiter zu mir.

„Ich bin eine ungeheure Vielheit. Ich habe wie Kraken ein Hauptherz und zwei Nebenherzen.

Bin ich ehrlich, dann muss ich sagen, dass ich genauso geworden bin, wie das, was um mich herum passiert. Seit meinem ersten Atemzug verhalte ich mich genauso, wie der Markt um mich herum, depressiv, psychisch schwer angeschlagen, euphorisch, ohne Mitte. Ich renne allem hinterher, was der Schwarm ausbrütet, aber ich habe keine Mittel, meinen hysterischen Angstkörper zu beruhigen. Ich will mit dir auf der Stelle ficken, um diese Anspannungen loszuwerden. Valium, Therapeuten ohne Ende, mit dem Fernrohr tief ins Innere schauen und dabei erkennen, dass jeder von uns aus Zufall zusammengesetzt ist. Ich schaue weiter, ob Wesentliches zu entdecken ist. Ich bilde Rücklagen, eine nach der anderen, schließe Versicherungen ab ohne Ende, Versicherungen, die mir keinen inneren Frieden bringen. Der ständige Gedanke an die Zukunft macht meine Gegenwart zunichte, dabei wollte ich eigentlich Friseurin werden, um zu sehen, was sich in den Köpfen der anderen Leute abspielt. Letztlich ist alles auf Wasser geschrieben und in den Wind gesprochen!

Die Zeit läuft einfach über alles hinweg. Das hat mich zur Grübel-Idiotin gemacht, mein klägliches Selbst aufgezehrt. Ich hoffe ständig geistig gesund zu werden, diesen Wahnsinn zu überlisten, so dass ich nicht mehr wissen muss, dass ich verrückt bin. Meine Kunst beginnt, wenn mein Geist mehrere Dinge verbindet, zwischen denen normalerweise keine Verbindung steht. Alle wollen den Leuten Dinge verkaufen, die sie vorher nicht vermissen. Immer dieses Bemühen, Dinge aus meinem Kopf in meinen Mund zu befördern, um mit meinen Worten ihre Erwartungen zu erfüllen! Aber eigentlich ist man nur dann gut, wenn man die Dinge macht, die einem selbst ähnlich sind.

Wir Menschen sind von unendlicher Bedürftigkeit. Wie zerbrechlich wir doch alle sind. Manchmal höre ich mich auf das Pflaster fallen und zerspringen. Ich will sie loswerden, die Ängste, die wir selbst sind, herausspülen aus meinem Blut, herausspülen aus den überfüllten Nervenzellen. Von allem haben wir zuviel. Diese Angst, die ich selbst bin, macht mich zur Spaziergängerin ins Nichts. Wo wohnt mein Zuhause, wo ist der friedliche, ruhige Ort, wo mir niemand etwas verkaufen will,“ fragt mich Ana mit einem Lächeln.

„Lege deine warme Hand in mich, das Meer dazu, das Licht, ich will wieder meine Freude sehen, wie schon einmal im Mai, als das quälende Insekt meinen Körper verließ und alle meine dunklen Gedanken aus meinen Augen stürzten, wie ein wilder, klarer Fluss. Du bist bei mir, ich weiß es jetzt. Du wirst Deine Hand auf meine Stirn legen, ich habe keine Angst. Es ist gut, zu dem Fluss zurückzufinden, der einen wirklich trägt.“

An die Bar gelehnt sagt Ana nach einer kurzen Pause:

„Ach, wären doch nur unsere Gedanken still.“

„Komm einem Gangster nie mit Poesie, sonst bekommst du einen Schuss ins Herz,“ sagte der 80 jährige Mann im dunklen Anzug, mit dunkler Brille im Gesicht, der soeben das Kaffeehaus betrat. Er bittet mich an seinen Tisch. „Jeder richtet es sich in der Wahrheit so ein, wie er mit ihr leben kann.“

Er sei unscharfe Aufenthaltsorte gewohnt. Er selbst sei in manchen Situationen zu einem unscharfen Aufenthaltsort geworden. Ich solle ihn nicht fragen warum das so gewesen sei, es gebe nicht für jeden Vorgang einen Grund. Er, ich, das Licht, keiner von uns wisse je genau, an welchem Ort wir oder die Dinge auftreffen würden.

Heute fühle er sich wie ein alter, verbrauchter Haifisch, der nicht mehr zubeißen könne und die Orientierung im Meer verloren habe. Das Ziel aller geistigen Anstrengungen in seinem Leben sei das Erkennen der Schönheit. Aber jetzt sei er alt und er verachte das Alter. Das Alter mit seinen demütigenden Schnapp-Atmungen. Dieser verfallende Körper, dieses biologische Verwelken, dieses sinnlose Überbleibsel unserer hoch entwickelten Medizin. Es ekle ihn an, das Alter, dieser entwürdigende Vorgang der Evolution. Er sehe sich beim Verfaulen zu. Das Schlimmste: Alt werde man auch, während man es leugne. Bei den meisten Menschen beginne das Alter sehr früh, nämlich in dem Moment, wo Rentenansprüche gegen Leben eingetauscht würden. Er verachte das Alter, auch wenn hier Erfahrung und Weisheit vermutet würden. Weisheit sei flüssig. Sie verändere sich ständig und man hätte sie nicht einfach mit den Jahren. Hätte man aber etwas davon, könne man sie auch immer wieder verlieren. Manchmal denke er zurück an seine Eltern.

Diese seien eine Zumutung. Schon allein deshalb eine Zumutung, weil man sie sich nicht aussuchen könne. Niemand habe ihn gefragt, ob er überhaupt geboren werden wolle, niemand, ob er mit den Eltern, die ihm zugewiesen wurden, einverstanden war. Mit niemandem konnte er über Chancen, gesunde Gene, Anlagen und Talente, die ihm geliefert wurden, verhandeln. Die meisten Menschen seien aufgeblähte Affen und er wolle auf keinen Fall wegen der vielen Blähungen an der Decke kleben. Schaue man nach oben, würde man sie dort alle sehen können. Er sei mit Geschichten angefüllt, die ihm das Leben gebracht hätten. Jeder von uns bestehe letztlich aus einer Vielzahl kleiner Geschichten. Der Mensch sei nun mal das Tier, das sich Geschichten erzähle, jede Familie hätte ihre eigene Geschichte und in jedem von uns läge ein tiefes Verlangen, seine eigene Geschichte zu erzählen. Die Vorstellung, zu sterben, ohne seine Geschichte zu Ende erzählt zu haben, gebe uns das furchtbare Gefühl, niemals gelebt zu haben.

Die Hitze im Kaffeehaus wurde unerträglich. Der Alte verlässt das Kaffeehaus. Ich setze mich zu Ana am Tisch 26.

Carlos, der Kellner, bringt zwei Espresso. Ana öffnet wieder das Zuckertütchen, das sie in ihrer Hand hält. Sie gibt das fein gemahlene Weiß auf ihren Löffel. Wie durch eine Sanduhr lässt sie den Zucker auf die schwarze Oberfläche ihres Espressos rieseln, bis auf dieser Oberfläche ein kleiner Zuckerberg entsteht, der bald sich bald löst und versinkt, tief unten im Schwarz. Manchmal aber kommt ein wenig Glück und ein Stück Geborgenheit ganz einfach daher und man spricht plötzlich im Kaffeehaus mit dem Menschen hinter der Maske und man erkennt, dass man selbst entscheiden kann, ob sein Leben ein Riss in der Zeit ist oder ein Baum, in dessen Krone man hin gewachsen ist. Dank der Gravitationskraft, des geduldigen Staub- und Klumpensammelns, erwuchs aus dem Zufallskrümel Erde doch allmählich eine Kugel von erheblicher Attraktivität. In ihr, der Heimat von uns Menschen, können wir aber immer nur beginnen, nie vollenden. Dazwischen liegt unser wahres, kurzes und kollektives Zuhause. Aus diesem Grunde ziehe ich meinen Gedankenworten die Tintenkleider aus, so sehe ich ihre nackten Körper, die genau wie alle anderen, Angst und Hoffnung vor ihren Schwächen und Gebrechlichkeiten haben. Alles, was in unseren Weltbildern und Bewertungen herum kreist, seien es Heimat, Religion, Philosophie, Wissenschaft, all diese Dinge sind bloße Geschichten, die wir uns erzählen und aus denen wir Trost und Glauben beziehen. Erklärungsmodelle für unser Dasein sozusagen. Aus diesen Geschichten, von den Göttern bis zu den klugen Maschinen, ist unser Bewusstsein, unser „Ich“ entstanden: aus zufälligen Weltbildern in einer zufälligen Welt. Unser „Ich“ ist unser Zuhause, unser „Ich“ ist ein Märchen, welches das Gehirn sich selbstständig immer weiter erzählt. Da jeder Mensch seine eigene Märchenrealität hat, müssen wir, um miteinander klarzukommen, Realitäten haben, die sich überschneiden. Die Vorstellungen von „Zuhause“ oder „Heimat“ sind solche Realitäten oder besser: ausgedachte Hirnleistungen. Unser Gehirn ist süchtig nach Gewohnheiten. Neue Straßen, neue Vernetzungen in ihm anzulegen ist immer Schwerstarbeit.

Egal, welcher Nationalität wir angehören, alle sehen wir uns nach Dauer in einer sich immer schneller verändernden Welt. Nach einer Heimat. Nach einem Zuhause.

Meine Heimat ist Wolkenheim.

Zuhause! Heimat! schrie einer draußen auf der Straße vor dem Kaffeehaus.

Der Philosoph im Kaffeehaus fühlt sich angesprochen, als die Wahnsinnsschreie an sein Ohr drangen.

Da die Natur kein Zuhause für uns Menschen bietet, in dem wir überleben können, muss ich es mir schaffen, muss ich es mir konstruieren. So begann ich langsam ein Kaffeehaus zu erfinden. Ich bin süchtig nach Orten, wo es keiner Sicherheit bedarf, weil es nichts gibt, vor dem ich mich fürchten oder verstecken muss. Mein Kaffeehaus oder meine Philosophie ist nichts anderes als ein großer Trick, mir eine verständliche, erklärbare und begreifbare Welt zu erschaffen. Das Kaffeehaus sind die Menschen, die ich verstehe und die mich verstehen. Mein Kaffeehaus ist kein Ort, es ist ein Gedanke, der zu einem Gefühl wurde.“

„Carlos, bitte eine Melange.“


Der charmante Nihilist

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