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Blaue Nacht im Einstein
ОглавлениеZwischen 24 und 1 Uhr wird das Einstein ohne Rücksicht auf die ungelösten Welträtsel des Tages geschlossen. Dann beginnt eine andere Zeit. Die Zeit des Flugmenschen-Fluchtmenschen, der in seinem nächtlichen Schweigen sagt: „Früher, da waren die Menschen schwach, sie starben wie die grünen Fliegen, weil sie nur Wasser in ihren Adern hatten. Da kam einer, der stach seinen Degen mit aller Kraft in den Mond. Blutstropfen fielen zur Erde und einige tranken sie. Starke Krieger entstanden daraus, die jetzt Blut in ihren Adern hatten, die Kinder des Mondes genannt. Die anderen trugen das Blut auf ihre Leinwand und der böse Engel begann mit seinen Hörnern nach der Sonne zu stoßen.“
Nacheinander betreten Ariadne, Olga und Francoise, eine eigentümliche Schwerkraft, das Kaffeehaus, gefolgt von mehreren Matadoren und dem kleinen Picador auf seinen letzten Lebensmetern. Einer der Matadoren ruft: „Da Vinci, mit deinen Leonardo-Erektionen und Flugabstürzen. Deine anatomischen Studien, dein Sezieren von Leichen, diente einzig dazu, im menschlichen Körper den Sitz der Seele zu ergründen. Du hasstest den Krieg, wurdest aber nicht müde, Jahr für Jahr neue Waffen, neue Tötungssysteme zu entwerfen.“
„Ein Herz muss doch zu finden sein! Eine Seele muss doch zu finden sein!“, antwortet Ariadne. „Mit der Klingel zwischen meinen Beinen werden wir den Tod so gut als möglich betrügen in dieser Nacht. Nie werde ich ein Unwetter zulassen.“
Der Kellner reicht Getränke. Ein anderer Matador beginnt zu singen: „Goya, in der Loge der Arena des weiblichen Geschlechts, das Schöne und das Hässliche, es liegt in einem Bett. Ich will Ruhm! Denn Ruhm ist die beständige Hoffnung in den langen Nächten der Jugend."
„Wenn du Ruhm hast, dann kommen die Frauen, die Aktionäre, die Ölbarone, die Whiskeyhändler, die jungen Erben, die Kleinspekulanten, die Hedgefonds Manager. Sie alle kommen wie Insekten. Sie interessieren sich nicht für dich und deine Kunst, nur dafür, wie du gekleidet bist, was du frühstückst und wen du fickst.“
Alle im nächtlichen Kaffeehaus reden jetzt vom Kosmos, seinem Herzschlag, reden vom Aufflammen und Verglühen seit Ewigkeiten. „Wem nützt das alles?“, fragt Olga. „Wer nach dem Sinn fragt, hat ihn bereits verloren“, antwortet Ariadne. „Ich bin weder Engel noch Tier, auf der Suche nach dem heilenden Licht. Ich sehne ich mich nach einem Zuhause und weiß doch nicht, wo dieses ist.“
Der Matador sagt: „In der Kunst wie im Leben musst du den Vater töten, sonst tötet er dich, denn hinter jeder Trauer um einen Verstorbenen verbirgt sich der heimliche Triumph dessen, der überlebt. Aber Kinder von Schlangen sind Schlangen. Wurm, Fisch, Lurch, so wächst der Mensch im Mutterleib. Die blaue Seele ist ihm nur für diese Nacht geliehen."
Der andere Matador sagt: „Wir sind im Begriff zu erwachen, wenn wir träumen, dass wir träumen. Ich kann meine Träume nicht entlassen, ich schulde ihnen noch mein Leben. Ihr alle seid Künstler und Künstler sind Jäger ohne Jagdgründe. Ich aber will zur Jagd.“
„In dieser Nacht wollen wir euren Schlaf bewachen“, sagen die Matadore. „Wir öffnen eure Muscheln, geben Champagner, Honig und Kokain hinein, bis unsere Melancholie vergeht und unsere Hoden platzen.“
„Lieber Staub sein als ein Weib, das nicht reizt“, sagt Olga. Der Matador, Abenteurer, Erfinder, Playboy, künstlerisches Genie, Alphatier und Heiliger entgegnet: „Die Liebe bin ich. Die Eifersucht bin ich. Meine Göttin, meine Geliebte, mein Modell, meine Mutter, meine Sekretärin, meine Köchin, mein Hund. Da du jede blaue Stunde meiner Nächte kennst, bitte die Stunde 26 in mein Bett. Erschrecke meine Einsamkeit. Danke für das aufgewühlte Meer, den verschwimmenden Horizont. Danke für Wolken, Zufälle, Fluss und Feuer. Danke für Wärme, Wind und Trauer. Danke für Liebe, Angst und Schmerz. Danke für euch Frauen. Ich habe am Lebenskokain den Schlaf verlernt und einen blauen Felsen zu durchfliegen ist die Zeit.“
Ein anderer Matador sagt: „Ich wurde im Meer gezeugt, ich trage die Haie in der Seele." Wieder ein anderer Matador sagt: „Ich wurde in der Corrida gezeugt, ich trage die Stiere in der Seele. Heute Nacht beginnt der Kampf, heute Nacht beginnt die Schöpfung. Am Ende steht der Tod. Heute kämpfen in mir, in dir Instinkte gegen zivilisiertes Grauzellenhirn. Liebe gegen Abwesenheit. Kopie gegen Original. Sterbender Wald gegen Asphalt. Postmoderne gegen die moderne Post."
Der andere Matador sagt: „Wenn ich jetzt zu euch rede, dann durch Kiemen. Die Welt über dem Wasserspiegel ist voll von Kopisten. Man überhäuft sie mit Reichtum und Ruhm. Interpretieren lohnt mehr denn komponieren. Eine Meinung zu einem fertigen Erbe haben lohnt mehr als ein eigenes Werk schaffen. Dieses verfluchte Behagen am immer Gleichen. Komposition ist ohne Zweifel etwas Seltenes. Sie zieht die Parasiten an im überfüllten Bildersaal des zwanzigsten Jahrhunderts.“
Der andere Matador zieht seinen Degen und schreit: „Ich verführe, jage, tanze und töte in der Arena meiner Kunst." Der kleine Picador auf seinem letzten Lebensweg sticht mit seinem Degen in Olgas Brust und fand ein Blut, wo er zuvor zu wenig Milch gefunden hatte.
Ariadne, Olga, Francoise schrecken plötzlich aus dem Schlaf: Wild rufen sie durcheinander im Kaffeehaus: „Matador, bald kommt die Torrera! Mit den Pasadobles zwischen den Beinen. Mit den Walzertangos zwischen den Beinen. Mit der Capea zwischen den Beinen. Mit den Banderillas zwischen den Beinen. Matador, Schlächter und Schlächterinnen in der Arena der Liebe gibt es genug. Triff das Herz, Matador!“ Und die Frauen fahren fort: „Mein Künstler, wer in dieser Stadt Berlin kann schon über Kunst nachdenken? Ich denke soviel über Sex und Geld nach. Also muss meine Kunst Sex und Geld sein, aber ich werde mich zügeln. Weck mich, stoß mich, begehre mich. Nimm mich, nach Brasilien, nach Argentinien, ins Bett. Du könntest der Einzige sein, der mich glücklich machen kann. Ich liebe dich. Wenn ich verliebt bin, spielen Dinge wie vögeln, Alter, Geld keine Rolle. Hast du Geld, Matador? Willst du mich durchbringen? Darf ich dein Kind sein? Ich liebe dich. Fickst du mich jetzt? Ich werde bei dir bleiben, aber jetzt noch nicht. Zuerst musst du leiden. Du musst lernen, was es heißt zu leiden. Und eines Tages findest du mich und das ist das Ende der Welt.
Und wieder beginnt in dieser Nacht im Kaffeehaus der böse Engel mit den Hörnern nach der Sonne zu stoßen. Aber plötzlich, der Matador, er kämpft nicht mehr. Er quält sich nur noch mit Farben am Maul. Ariadne, Olga, Francoise steigen vom Pferd, um ihm den Todesstoß zu geben. Doch das können sie nicht. Kurz bevor er fiel, hatten sie ihn gestreichelt. Eine kleine Zärtlichkeit vor dem späten Tod. „Du stirbst, aber du bist umsonst gestorben. Unsere Schönheit fehlte. Wir beide, Torera und Matador, wir haben nicht triumphiert. Wir haben kein lebendiges Kunstwerk geschaffen. Nur den Tod mit seinen sieben Sünden: der grüne Geiz, die graue Eitelkeit, die gelb-braune Völlerei, die schwarze Feigheit des Herzens, die graue Lüge, Neid und Zorn."
Jetzt endlich weicht er von mir. So hatte das schreckliche Insekt schon einmal das Kaffeehaus verlassen, durch die Eingangstür und mit knirschenden Zähnen an einem Morgen im Mai in Berlin. Etwas hatte begonnen. Ruhig, heiter und ohne Angst. Denn wer weiß schon, woraus die Kunst geboren wird?