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Ist da jemand zu Hause?

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Ich liebe das Land, in dem ich lebe, für mich ist es das Paradies. Keiner muss hier Hunger leiden, jedem stehen die Türen zur ärztlichen Versorgung offen, es herrschen keine Seuchen, keine Malariamücken stechen die Menschen in Richtung eines lebensbedrohlichen Fiebers, Wasser ist reichlich vorhanden, jeder kann lernen was ihm beliebt, es gibt keinen aufgesetzten Zwang, einer bestimmten Religion anzugehören. Allen in meinem geliebtem Land stehen unendlich viele Türen offen, so die Menschen fähig sind, die Schlüssel, die ihnen ihr Schicksal ständig zuwirft, zu erkennen, aufzufangen, um ihre unterschiedlichen Ziele, Meinungen, Träume, Wünsche zu realisieren. In meinem geliebten Land kann man selbst in den großen Städten noch durchatmen. Die Verschmutzung der Umwelt ist gemessen an vielen anderen Ländern eine der niedrigsten. Aber wenn ich meinen Spaziergang durch die Stadt mit ihren baumbewachsenen Straßen unternehme, fällt mir immer wieder auf, dass die Menschen, die in diesem Paradies leben, ihre Körper wie steingewordene Bausparverträge vor sich hinschleppen, dass sie meist abwesend wirken, so, als ob sich ihre Gedanken ausschließlich um ihre Altersversicherungen zu drehen scheinen. Ihr Leben verläuft natürlich ganz anders, als es ihnen ihre Stimmen abhängigen Politiker weismachen wollen, die ihnen die Illusion völliger Sicherheit, Gewissheit und Dauer zwischen dem wechselnden Mond verkaufen. Für den Verkauf solcher Illusionen werden Wahlen gewonnen. Dass das Leben in Wirklichkeit voller Risiken und Unsicherheiten ist, wird nicht einmal in den Schulen gelehrt und so herrscht in den Menschen statt Neugier die Angst. Jeder hält sich selbst in seinem Hamsterrad gefangen und obwohl sie durch die Straßen laufen, hat man das Gefühl, sie treten innerlich auf der Stelle, drehen sich voll Wut und Zorn im Kreis, tief vom Leben gekränkt, chronisch verbittert und sinnen auf Rache und Schuldzuweisung, ihre Seelen gleichen einem Käfig oder wie Rilke sagte „als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt“. In der wunderbaren, lebendigen, polaren Gegenwart ist selten jemand in diesem Land anzutreffen. Augen, wie zwei blass gewordenen Knöpfe aus Angst, schauen enttäuscht vom Leben und ihren starren und festgehaltenen Körpern möchte ich zurufen: „Hallo, ist denn da jemand zu Hause“?


Der charmante Nihilist

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