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Pastor Spåvang und die Schöpfung

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Eines Tages kurz nach Ostern kam Liv auf dem Schulhof zu Inger und sagte: „Ich habe mich bekehrt.“ Inger blickte in ihr rotes, aufgeregtes Gesicht. Da stand sie ohne Lippenstift. Ansonsten war sie fast so wie früher. Was war geschehen?

„Das ist in Fjellvangen passiert, wo ich über Ostern war“, sagte Liv. „Findest du das schrecklich?“

„Nein, schrecklich...“ Sie war nicht ganz sicher. Im Grunde war es schrecklich, Liv ohne Lippenstift und bekehrt zu sehen.

„Wenn du nur so bist wie früher“, sagte sie. Denn inzwischen mochte sie Liv ziemlich gern.

„Aber ich bin nicht wie früher. Es ist etwas anderes. Alles ist anders, jetzt, wo ich Jesus angenommen habe.“

„Ich weiß nicht, was das bedeutet“, meinte Inger. Mehr sagte sie nicht, sie begriff überhaupt nichts von der Bekehrerei, mit der die Leute in Fredrikstad so beschäftigt waren. Mußte man sich denn bekehren, um an Gott zu glauben? Konnte sie nicht einfach glauben, ganz direkt? Glaubte sie selber denn nicht, bloß, weil sie nicht bekehrt war? Inger wußte nicht, was sie noch sagen sollte, obwohl Liv immer noch dastand und sie ansah. Als Beate vorbeikam, drehte sich Inger deshalb rasch zu ihr hin und rief: „Mit neuem Schal protzen, was!“

„Der ist nicht neu. Hab’ ich doch zu Weihnachten gekriegt.“ Aber das wußte Inger ja. „Worüber redet ihr denn?“

„Über diesen Jesus von Nazareth“, antwortete Inger. Und dann bereute sie das sofort.

Später hörten sie, daß einer nach dem anderen bekehrt worden war. Die Råbergjungen hatten bei einer Erweckungsveranstaltung in der Bibliothek weinend auf dem Boden gelegen, und Harry aus Stranda, der Schrecken von Nygaardsgata, hatte eine Andacht auf Fjellhøy mit Engelsblick und Heiligenschein verlassen. Auch Sigvart Jespersen war bekehrt worden. Aber das glaubte niemand. „Stimmt es wirklich, daß du dich bekehrt hast, Sigvart?“ fragten sie. „Ja“, antwortete er und blickte ernst auf sie herab. Aber bis Pfingsten war ihm das vergangen.

Einige dagegen waren immer schon fromm gewesen, sie waren wohl von Geburt an bekehrt. Wer christlich war, trat in den christlichen Schülerbund ein. Als sie noch zur Volksschule gingen, war das nicht so gewesen. Alle Kinder gehörten Jesus, stand in der Bibel. Es war etwas anderes, wenn man Teenager und frech wurde. In der Bibel stand nichts darüber, daß Jesus Teenager, die auf den Straßen herumlärmten, hatte zu sich kommen lassen.

Ich glaube auch an Gott, aber ich würde doch nie auf die Idee verfallen, das auf dem Schulhof zu verkünden, überlegte Inger sich. „Bekennen ist wichtig“, sagte Liv. „Für uns selber und für andere.“

Damit war sie einsortiert. Sie gehörte zu den Unbekehrten. Zu den Verrückten und Sündigen. Alle Schülerinnen und Schüler an Fredrikstads höherer Schule mußten wählen. Lebst du mit Jesus, oder lebst du in Sünde? Bist du verrückt oder bist du bekehrt? Die meisten wollten lieber verrückt sein.

Die Religionslehrer trugen auch nicht gerade zur Aufklärung bei, jedenfalls nicht die, die sich in der 1 B zeigten. Immer wieder tauchten neue auf – die Religionslehrer hatten eine ganz eigene Tendenz dazu, Vertretungslehrer zu sein; Pastoren oder Pröbste oder Vorsteher irgendeiner unklaren Sorte, auf eine Weise standen sie über und neben dem Pensum, und nie war ganz klar, ob man gute Noten bekam, weil man glaubte oder weil man seine Aufgaben gemacht hatte.

Der, den sie zuletzt gehabt hatten, brach alle Rekorde. Er hieß Spåvang und hatte eine kleine ausgefranste Schmalzlocke in der Stirn, die war so ungefähr alles, was von seinen Haaren noch übrig war. Er war ziemlich breit und füllig, hatte aber einen überraschend kleinen Hintern. Um diesen Körper trug er immer ein weißes Hemd, eine offene Jacke und eine graue Hose mit Hosenträgern, die er ununterbrochen leicht hochzog, wenn er den Text durchging. Die 1 B glotzte ihn und seine spitze Nase und seine fahle Haut in stummer Verachtung an und machte ihn verantwortlich für die gesamte Biblische Geschichte.

„Jaaaaaahve war der Gott der Israeliiiiiiten“, psalmodierte Spåvang, er gab sich unglaubliche Mühe, langsam zu reden.

Es war interessant, daß diese himmlische Gestalt, von der sie auf der Volksschule sieben Jahre lang gehört hatten, nun endlich einen Namen hatte.

„Derselbe Naaaaame, den wir auch in deeeeen Zeugen Jehoooovas finden“, sagte Spåvang. Ei der Daus. Unglaublich, wie alles anfing, zusammenzuhängen. Spåvang zog an seinen Hosenträgern, denn egal wie dick man auch ist, man kann immer zu weite Hosen tragen. Er erzählte vom Propheten Amos und dessen Zorn über das israelitische Volk. Er warnte vor dem Wohlleben und der Faulheit der Menschen. Er kam aus einfachen Verhältnissen, er war Hirte und daran gewohnt, Jahves Gesetze zu beherzigen. Jetzt reagierte er stark auf die allzu üppigen Feste und die Gottesdienste in der Stadt. „Sie verloren durch die äußerliche Praaaaacht viel von ihrem Inhalt“, sagte Spåvang. „In vieler Hinsicht war Aaaaaamos ein Aufrüüüüüüührer.“

Die Propheten wurden plötzlich zu Menschen. Vorher waren sie nur Stimmen gewesen. Jetzt wurden sie eher wie historische Persönlichkeiten, die wirklich gelebt hatten.

Es war unmöglich, Spåvang Fragen zu stellen. Es gab nie Zeit zu anderem als zum Abhören der Hausaufgaben und zum Durchgehen der neuen. Niemals wurde ihnen auch nur ein Millimeter außerhalb des Buches gestattet. Wie Spåvang die Noten verteilte, war ein Mysterium. Denn er wußte nicht den Namen eines einziges Schülers, das war ein Prinzip. Und sie sahen auch nie, daß er sich Notizen gemacht hätte.

Eines Tages, eine Weile nach Ostern, kam er frischen Schrittes ins Klassenzimmer marschiert. „Jetzt kommt die groooooooooße Boooooombe“, sagte er. „Schreibt die Hausaufgaaaaaben auf!“

„Ach du Scheibenkleister!“ rief Leif Monradsen. Spåvang tat so, als ob er das nicht gehört hätte, und verteilte ungerührt leere Blätter zwischen den Tischreihen. „Ich hab’ das Buch nicht einmal aufgemacht“, flüsterte Inger. „Na“, sagte Sølvi. „Ich kann mich an nichts erinnern.“

„Ruuuuuhe!“ sagte Spåvang. „Wer jetzt noch ein Wort sagt, bekommt ungenüüüüügend.“ – „Aber welchen Propheten nehmen wir gerade durch? Onan?“ flüsterte Astrid. In der Mädchenecke wurde gekichert. „Hallooooooo dahinten!“ sagte Spåvang. „Wie heißt du?“ Er sah Astrid mit blitzenden Augen an. Auch seine Langmut hatte ein Ende.

„Else Hansen“, sagte Astrid. Jetzt konnten viele nicht mehr an sich halten. Es kochte nur so von unterdrückten erschrockenen Glucksern. Spåvang notierte den Namen in sein kleines gelbes Notizbuch. „Das gibt ein Miiiinus“, sagte er.

Sie beugten sich über ihre Blätter. Aber wer war gerade an der Reihe? „Hosea“, schrieb Inger, denn sie wußte, daß der gerade durchgenommen wurde. Ansonsten wußte sie nichts über ihn. Sie zog einen dicken Strich unter die Überschrift und tat so, als ob sie schriebe. Spåvang machte endlich einen kleinen Spaziergang zum Fenster und blickte hinaus ins Frühlingswetter. Da landete plötzllich ein zusammengefalteter Zettel auf ihrem Schoß. Sie blickte auf. Der Zettel kam von Liv. „Hosea sagte, daß Gott die Menschen so liebt, wie ein Mann eine treulose Frau lieben kann. Das hatte er selber erlebt und sie in Gnaden wieder aufgenommen. ‚Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer und an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer‘ (6,6), hat er gesagt. Schreib darüber.“ Inger starrte den Zettel an. Las ihn noch einmal. Las ihn ein drittesmal. Je mehr sie nachdachte, um so mehr Stoff zum Schreiben hatte sie. Es wurde die gewinnbringendste Religionsstunde, die sie je gehabt hatte. Sie piekste Astrid in den Rücken und gab ihr den Zettel. Liv ist toll, dachte sie. Sie mag ja bekehrt sein, aber sie ist verflixt noch mal in Ordnung.

Samstags haben sie in der vorletzten Stunde Biologie bei Sundt. Er hat gesagt, wenn sie etwas wissen möchten, sich aber nicht zu fragen trauen, können sie ihre Frage auf einen Zettel schreiben und den aufs Pult legen. Sie brauchen nicht mit ihrem Namen zu unterschreiben. Also fragen sie. Sie fragen, ob Amöben eine Seele haben und wie die Wanderungen der Aale verlaufen, ob sich auch heute Affen zu Menschen entwickeln können oder ob das nur zu Darwins Zeiten möglich war, was eigentlich der Unterschied zwischen einer Pflanze und einem Tier ist und ob das Leben wirklich im Meer entstanden ist. Aber eines Tages kommt folgende Frage, Sundt liest sie vom Zettel ab: „Im Religionsunterricht lernen wir, daß Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat. Im Biologieunterricht lernen wir, daß das Millionen von Jahren gedauert hat. Was stimmt denn nun?“

Alle sehen Sundts nachdenklich gerunzelte Stirn und seine freundlichen Biologenaugen an, die über dem Zettel brüten, ohne aufzublicken. So. Jetzt wird endlich die Bibel entlarvt.

Sundt räusperte sich, blickte aufs Pult hinunter, sah auch jetzt nicht auf, schaute wieder den Zettel an, strich sich übers Kinn. Im Grunde hatte er ein bißchen Ähnlichkeit mit Darwin, wie er so dasaß, nur in verkleinerter Ausgabe. „Mnja-a“, sagte er endlich. „Ich sehe das so: Wenn wir in der Bibel lesen, daß Gott die verschiedenen Teile der Welt geschaffen hat, daß er das Licht von der Finsternis trennte, das Meer vom Land, daß er Blüten über Felder und Bäume verteilte, Fische ins Wasser setzte, Vögel in die Luft und schließlich Tiere in die großen Wälder – und am Ende noch die Menschen selber, Adam und Eva... dann sehe ich das als eine symbolische Darstellung, als ein Bild dessen, was in Wirklichkeit während einer langen, langen Entwicklungszeit geschehen ist. Was die Verfasser der Bibel einen Tag nennen, ist vielleicht eine Million Jahre, und die sechs Tage zusammen sind viele Millionen von Jahren.“

Die 1 B saß still da. Das hatte sie nicht erwartet. Sie hatte gehofft, daß Sundt sagen würde, ja, jetzt ist Gott entlarvt. Das Paradies hat nie existiert, und Gott hat die Welt nicht erschaffen. Sie hatten gehofft, er würde sagen, daß die Wissenschaft Gott als schnöde Erfindung entlarvt habe. Waren denn nicht all seine Biologiestunden darauf hinausgelaufen?

Und jetzt saß er da und murmelte so etwas. Adam und Eva gab es immer noch, zusammen mit seinen Amöben.

Jetzt, wo endlich ein bißchen System in die Dinge gekommen war, mit Darwin und allem, jetzt ergab es sich, daß alles noch genauso unerklärlich war wie früher. Denn selbst wenn er gesagt hätte: „Nein, so, wie das in der Bibel dargestellt wird, ist es in Wirklichkeit natürlich nicht abgelaufen“, bliebe ja immer noch die Frage übrig, wie die Amöbe entstanden war. Und wenn die Amöbe auch nicht so schön anzusehen war wie Adam und Eva im Paradies, so war sie doch auch ein Wunder.

„Ich finde, diese Erklärung war ziemlicher Pfusch“, sagte Inger zu Liv, als sie das Klassenzimmer verließen.

„Nein, ich fand sie toll“, erwiderte Liv. „Ich muß schon sagen, Sundt ist in meiner Achtung gestiegen.“

Liv und Beate und Inger gingen auf dem Schulhof hin und her und diskutierten über die Schöpfung. Was bedeutete „schöpfen“? „Leben einhauchen“, sagte Liv. „Formen“, meinte Inger. „Nein, Leben einhauchen“, beharrte Liv. „Das hab’ ich auf einem Bild gesehen.“ – „Davon, daß du das auf einem Bild gesehen hast, wird es ja wohl nicht wahrer.“ – „Nein, aber trotzdem heißt Schöpfen Leben einhauchen.“ – „Ja, aber wie macht man das?“ – „Nein, dazu muß man Gott sein.“ – „Und wer hat ihm Leben eingehaucht?“ – „Er ist schon immer dagewesen.“ – „Wie kann irgendwer immer irgendwo sein?“ – „Das ist Er eben. Das brauchst du nicht zu verstehen. Das brauchst du nur zu glauben.“ – „Was heißt glauben?“ – „Glauben... glauben heißt, sein Herz für Jesus zu öffnen.“ – „Ja, aber wir reden jetzt über Gott.“ – „Das ist dasselbe.“ – „Aber was bedeutet es, sein Herz für Jesus zu öffnen?“ – „Zu glauben.“ – „Jetzt sagst du, A ist B, weil B A ist.“ – „Ja. Aber so erleben wir das. Du mußt das Erlebnis annehmen und an das glauben, was mit dir geschieht. Verstehst du?“ – „Mit mir geschieht aber nichts“, sagte Beate. „Dann kann man es suchen.“ – „Wie kann man es suchen?“ fragte Inger. „Durch Beten.“ – „Ich habe gebetet. Es hat nicht geholfen.“ – „Worum hast du gebetet?“

In diesem Moment schellte es zur letzten Stunde.

Noch in vielen weiteren Pausen gingen Liv und Inger auf dem Schulhof hin und her und diskutierten über die Mysterien der Bibel. Es war ein ziemlich langer Schulhof. Inger rechnete im „Radiergummi“ aus, daß der Durchschnittsschüler an Fredrikstads höherer Schule beim Abitur auf diesem Schulhof etwa 1836 Kilometer zurückgelegt hätte. Wenn das stimmte, dann diskutierten Liv und Inger mindestens hundert Kilometer lang über Jesus und seine Bedeutung für den Sinn des Lebens. Sie diskutierten wild und voller Eifer, sie wurden sich niemals einig und diskutierten aufs neue. Als die Schulglocke vier Jahre später ihre letzte Diskussion unterbrach, waren sie immer noch nicht fertig.

Am Pier

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