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Beate aus Lahellemoen
ОглавлениеDen Kindern aus St. Croix hat immer schon die Stadt gehört. Sie kommen aus den feinen grauen Villen von Cicignon oder aus den modernen weißen Steinhäusern der Nygaardsgata und erobern die Kinoschlangen vor der Blauen Grotte und der Roten Mühle, erobern alle Spielplätze und Karussells in der Stadt, nehmen sonntags Hatthütte und Skihütte ein, und im Winter kommen sie mit ihren schwarzweiß-gestreiften Hockeyschlägern und ihren rot und blau gestrickten Pullovern und Mützen und besetzen die Wiesenbahn und den St. Croix plass. Und als dann dunkelblaue Mützen in Mode kamen, hatten sie die auch. Sie spannten die Schlittschuhe stramm, probierten es ein paarmal kurz auf den Zehenspitzen, ehe sie übers Eis jagten, riefen einander zu, klopften einander dreimal auf die Schultern und machten im Handumdrehen die ganze Bahn zu einem Spielplatz für ihr Bockspringen, ihr Räuber und Gendarm, mit dem Gefängnis in der hintersten Ecke, Richtung Bydalen. Die anderen mußten sich mit den übrigen Ecken und dem Rand begnügen, wo sie auf ihren Klammerschlittschuhen in einer braunen Jacke mit Gummizug in der Taille, die sie von ihrer Kusine geerbt hatten, dahinstapften. Mit lautem Rufen und ohne etwas wahrzunehmen außer sich selber und die, die dazugehörten, glitten die Jungen und Mädchen aus St. Croix übers Eis, beugten sich vor und zurück, und immer hatten sie genügend Geld für eine Wurst und eine Cola, mit denen sie zu den Klängen des Schneewalzers und anderer Wiesenbahnschlager aus den knackenden Lautsprechern übers Eis tanzten. „Schneyschney schneyschneywalllzer!“ sangen die Kinder von St. Croix und schwangen sich und wogten hierhin und dorthin, und plötzlich kam eins von ihnen angefegt und warf einen fast um, und im nächsten Moment stand man ohne Mütze da. Und dann durfte man sich nichts anmerken lassen. Der Versuch, in einer solchen Situation die Mütze zurückzuerlangen, war das Blödeste, worauf ein Kind aus Lahellemoen oder Lislebyveien verfallen konnte. Bald kamen sie dann wieder angefegt, mit ihren Vor- und Zurücktricks, bremsten ganz scharf und hielten einem die Mütze hin. „Willst du deine Mütze wiederhaben?“ fragten sie. Dann galt es, die Hand nicht auszustrecken. Und wenn man sich gleichzeitig noch umdrehen und ein Stück weggleiten konnte, als ob man Wichtigeres zu tun hätte als sich die Ohren abzufrieren, war die Schlacht gewonnen. Bald darauf würde die Mütze mit ihrem kleinen grauweißen Bommel einsam auf einer Schneewehe liegen.
Mit diesen Menschen sollte Beate Halvorsen aus Lahellemoen jetzt in die Schule gehen – in diese Schule, die unten im feinsten Stadtviertel lag, gleich bei Cicignon, und die manche immer noch „Mittelschule“ nannten, obwohl sie doch schon lange nicht mehr so hieß. Nur zwei aus Lahellemoen waren in diesem Jahr dorthin übergewechselt. Hartvig Gravdahl, der ganz oben in Bydalen bei der Brauerei wohnte, und Beate, die auf Kapellfjellet wohnte, durch den sich jetzt die Baumaschinen hindurchfraßen, um Fredrikstad die Fredrikstadbrücke zu bauen. Gravdahl. Eigentlich konnte Hartvig Gravdahl ihr gestohlen bleiben. Er war immer so arrogant, und er hatte selten mit ihr gesprochen, hatte nur gerufen, und auch das war jetzt schon lange her. Aber Beate war nur froh, wenn er die Ruferei auch weiterhin nicht wieder aufnahm. Am besten wäre überhaupt niemand aus Lahellemoen dabeigewesen.
Beate schleppte sich mit ihrer Tasche voller Bücher Kapellveien hoch. Nur gut, daß sie unten alte Bücher verkauft hatten, sonst hätte ihre Mutter einen Schock erlitten. 163 Kronen und 25 Öre kosteten die Bücher insgesamt, wenn sie alles neu kaufen mußte. Viele von den alten Büchern, die die großen Schüler verkauft hatten, waren so zerfleddert, daß sie kaum noch zusammenhingen, aber zum Glück hatte sie auch zwei erwischen können, die noch einigermaßen gut aussahen. Die deutsche Grammatik, schwarz und gelb, und dieses Christenheitsbuch von Fjellbu oder so hatte sie nicht bekommen, es kostete 4,70. Das norwegische Lesebuch kostete neu 17,50. Sie hatte es für fünf bekommen. Sie freute sich darauf, ihrer Mutter das zu erzählen. Das Erdkundebuch hatte sie nicht, auch das war schrecklich teuer, 8,85 stand auf der Liste. Aber sie würde Tone fragen, die letztes Jahr Abi gemacht hatte.
Beate nahm die Schultasche in die andere Hand und hoffte, daß Tone dieses Erdkundebuch nicht hatte. Ein neues Buch wäre auch schön. Nur eines. Sie konnte doch an ihre Sparbüchse gehen. Aber dann würde es noch länger dauern, bis sie sich ein Fahrrad kaufen konnte, und jetzt hätte sie gut eins brauchen können. Wenn sie sich jeden Tag so abschleppen mußte, wäre ihre Schulter bald ausgerenkt.
Beate näherte sich ihrem Haus. Es war ein langes flaches hufeisenförmiges Haus, ungefähr auf halber Höhe des Hangs, weiß, wie so viele Häuser hier oben. Hier wohnte sie mit ihrer Mutter in zwei Zimmern und Küche in der Hälfte des einen Flügels. Sie ging auf den Hof, blieb bei der Pumpe stehen und trank einen Schluck, es war so schwül, es würde sicher ein Gewitter geben. Sie blickte hoch zu den blauschwarzen Wolken über dem Dach, dann stieg sie die beiden Treppenstufen hoch und erreichte den schmalen Flur. Hinter dem Fenster sah sie das kleine zerfurchte Gesicht ihrer Mutter.
„Schon wieder da? Ich habe noch nicht mit dem Mittagessen angefangen, aber jetzt dauert’s nicht mehr lange.“ Wie üblich redete ihre Mutter mit dem Mund voller Stecknadeln.
„Laß dir ruhig Zeit. Ich hab’ sowieso noch keinen Hunger.“
Sie ging ins Wohnzimmer. Überall lagen Teile des dunkelblauen Gabardinestoffs für Frau Direktor Bøhmers neues Kostüm herum, das zum Empfang fertig sein sollte, den der Herr Direktor Ende des Monats geben wollte. Frau Bøhmer mit ihren weißen Haaren sah so elegant aus in schwarz oder blau.
„Nina hat heute auch in der Schule angefangen“, sagte Beate und wanderte durch das Wohnzimmer ins andere Zimmer. Tone hatte ihr erzählt, ab jetzt würde sie ununterbrochen Hausaufgaben machen und dicke Bücher lesen müssen, die kein Ende nahmen, von dem Moment an, wo sie nach Hause kam, bis zur Schlafenszeit am Abend. Aber das machte Beate keine Angst. Sie freute sich darauf, die Welt der Bücher zu betreten, nahm sie aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Die Mutter schaute herein. „Jetzt wirst du wohl klug?“
„Ach, ich weiß nicht. Du hättest mal die Lehrer sehen sollen. Die sahen allesamt so aus, als ob sie nicht alle Tassen im Schrank hätten.“
Fräulein Halvorsen dachte ein Weilchen darüber nach. Sie beendete den Saum der Jacke und ging in die Küche. „Kennst du welche von den Kindern, mit denen du jetzt zur Schule gehst, Mädi?“ rief sie Beate zu.
„Wir sind keine Kinder mehr, Mensch, falls du dir das eingebildet hast“, kam die Antwort aus dem Schlafzimmer. „Aber ich kenne sie nicht. Nur Nina, natürlich, und die anderen aus St. Croix. Aber die wissen nicht, wer ich bin.“
„Hast du denn mit irgendwem gesprochen?“
„Nein, ich hab’ zu niemandem ein Wort gesagt. Was hätte ich denn auch sagen sollen?“
„Aber Nina kennt dich doch wohl?“
„Ja, aber ich glaub’ nicht, daß sie mich gesehen hat, und außerdem ist sie sowieso in der D-Klasse gelandet. Ich bin in der B-Klasse. Dies Jahr gibt es nämlich sechs erste Klassen.“
„Du bist also nicht in derselben Klasse wie Hartvig?“
„Doch. Aber ich könnte gut ohne ihn auskommen.“
„Und mit wem bist du sonst noch zusammen?“
„Ach, mit der Hälfte von allen Bonzenkindern aus der Stadt. Mit der Tochter vom Oberingenieur Hauger – Gudrun heißt sie, sie ist schrecklich dick, und mit der Tochter von Inspektor Martinsen aus Trara, die heißt Sandra und ist schrecklich sportlich, und mit der Tochter von Dr. Holm unten in der Stadt, die hat sich getraut, etwas zum Klassenlehrer zu sagen. Und dann ist da noch einer, der heißt Rolf Magnor, Sohn von Granit-Magnor, und einer heißt Sigvart Jespersen, Sohn von der Kartonfabrik, und Kjell Grunder, Sohn von der Glommen-Kreditbank, und eine heißt Liv Abrahamsen. Die ist auch aus Trara. Und dann ist da noch ein ganz langer, der Leif Bang Monradsen heißt.“ Hiermit beendete Beate ihre Aufzählung.
„Ach? Wer ist das denn?“
„Der? Ach, einfach so ein Junge, natürlich.“
Wieder dachte Fräulein Halvorsen eine Weile nach. Seit vielen Jahren hatte alles dem Ziel gedient, ihre Tochter in die Gelbe Anstalt zu bringen. Nichts durfte dabei schiefgehen. Aber gleichzeitig wußte sie, daß sie jetzt nicht mehr von früh bis spät auf sie aufpassen konnte. Das mußte sie jetzt selber schaffen. Das tat weh.
„Heute gibt’s Erbsensuppe, Mädi.“
„Schön“, rief Beate. „Aber Mama, kannst du nicht anfangen, mich Beate zu nennen?“
Im kleinen Zimmer neben dem Wohnzimmer hatten sie ans Fenster neben dem Bett ein Tischchen gestellt. Hier konnte Beate hinter den Blumentöpfen sitzen und auf Kapellveien hinausblicken. Das Fenster war ziemlich niedrig, wenn Leute dicht vorbeigingen, konnte sie sie ungefähr von der Taille aufwärts sehen. Waren sie weiter entfernt, sah sie sie ganz. Es war schön, hinter dem kleinen Dschungel aus Topfblumen zu sitzen und einfach nur zu schauen. Auf dem Tisch lag ein großer neuer grüner Bogen Löschpapier als Unterlage, darauf Hefte und Kladden und ein kleiner hellgrüner Behälter für Bleistifte, Radiergummi und Bleistiftspitzer. Endlich hatte sie einen Ort für sich allein.
Beate fragte, ob sie keinen Vorhang haben könnte. „Wozu soll das denn gut sein?“ fragte Mama, und darauf hatte Beate nicht sofort eine Antwort. „Einfach so“, sagte sie.
„Ist denn das, was du jetzt machst, so schrecklich geheim?“ hakte Mama nach. „Ach, Mama, du könntest doch gut so einen Vorhang nähen. Das macht doch wohl nichts.“ – „Aber wozu soll das gut sein, frage ich?“ fragte Mama noch einmal. „Naja, nur so, nur so... es wäre schrecklich gemütlich, finde ich.“ – „Schrecklich gemütlich? Ich glaube nicht, daß sich das Zimmer gut machen würde mit einem Vorhang in der Mitte, Mädi. Dazu ist es nicht geschaffen.“ – „Macht es sich jetzt vielleicht gut?“ fragte Beate. Aber sie gab nach. Denn eigentlich hatte sie nicht daran gedacht, wie sich das Zimmerchen vom Zimmer aus machen, sondern wie es drin sein würde. Aber das schien Mama nicht zu begreifen.
In diesen Zimmern hatten sie und ihre Mutter immer gewohnt. Nichts hatte sie bisher getrennt. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Die Mutter tat alles für sie. Sie hatte nur sie, hatte sonst keinen Menschen. Und daß sie nie einen Vater für Beate gehabt hatte, trug sie jeden Tag mit ihrem Namen mit sich herum.
Beate war Fräulein Halvorsens uneheliches Kind, das wußten alle, was aus dem Vater geworden war, das wußte niemand. Auch Beate wußte es nicht. Sie hatte sich oft den Kopf darüber zerbrochen, hatte wissen wollen, was eigentlich los war. Wann immer sie das Thema anschnitt, winkte ihre Mutter ab. „Dazu gibt es nichts zu sagen“, erklärte sie. „Aber warst du mit ihm zusammen? Hast du ihn gekannt?“ fragte Beate. „Darüber reden wir nicht, habe ich gesagt. Wir müssen ihn vergessen, Mädi, das ist das Beste.“
Aber Beate konnte ihren Vater nicht vergessen, auch wenn er nur ein Schatten war. Er war ein Samenkorn gewesen, im Leib ihrer Mutter war er zu Beate geworden, und im letzten halben Jahr oder so hatte sie sich mehr den Kopf darüber zerbrochen als je zuvor. Sie träumte von ihm und hoffte, daß er zurückkommen würde. Er kam mit Geschenken aus Amerika. Ein andermal war er tot. Vielleicht war er im Duell gefallen. Oder er war ertrunken. Manchmal segelte er zwischen den Inseln des Stillen Ozeans, und auf den Inseln tanzte er mit Hula-Hula-Mädchen und trug einen Blumenkranz in den Haaren. Sie mußte einfach an ihren Vater denken; las sie „Die drei Musketiere“, war er einer von ihnen, las sie „Der Graf von Monte Christo“, war er das; er fand sich in allen Büchern Jack Londons, er umsegelte Kap Horn oder unterwarf sich König Alkohol, in den Flickabüchern ritt er über Wyomings Prärien, überall war er, denn Beate las ungeheuere Mengen von Büchern, und niemals hatte sie genug.
„Die Suppe ist fertig!“ rief ihre Mutter aus der Küche. Beate las schnell noch einen Abschnitt in „Segen der Erde“, ihrer derzeitigen Lektüre. Gerade hatte Inger Sellanraa ihr Kind umgebracht. Es hatte wie sie eine Hasenscharte. Beate weint innerlich, legt das Lesezeichen ins Buch und geht in die Küche. Sie füllt ihren Teller bis zum Rand mit Erbsensuppe. Erbsensuppe ist ihr Lieblingsessen. Es war klar, daß es das heute geben würde. Ihre Mutter sitzt an der anderen Seite des Küchentischs und bläst auf ihren Löffel. Auf dem leeren Hocker zwischen ihnen sitzt Beates Vater mit dichter schwarzer Mähne und lobt das Essen.