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Hartvig

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Hartvig stand am Rande der Jungengruppe und lachte über etwas, das Rolf Magnor gesagt hatte. Irgendeine Frechheit über Spåvang, den Religonslehrer. Dann lachte er über etwas, das Kjell Grunder sagte. Dann lachte er über das, was Rolf Magnor darauf erwiderte. Nun sagte Leif Monradsen etwas, und das wollte er kommentieren, aber statt dessen sagte Kjell Grunder etwas. Und deshalb lachte er darüber.

Sie standen da und boxten sich gegenseitig beim Reden. Eigentlich war es gar kein richtiges Gespräch. Nur Ausrufe, über die man lachen oder die man mit „verflixt!“ kommentieren konnte. Nur selten gab es ein Thema. Hartvig hatte keine Lust, alles mögliche mit „verflixt“ zu kommentieren, und zum Boxen hatte er auch keine Lust. Also blieb ihm nur das Lachen.

Er war ganz versessen darauf, von Leif gemocht zu werden. Er lachte immer am lautesten, wenn Leif etwas sagte. Gleich darauf konnte er dann zu Leif sagen: „Ganz schön platt, Monradsen“, dann lachte Leif, und damit hatten sie eine Art Gespräch laufen. Aber er lernte ihn trotzdem nicht kennen. Er lernte niemals jemanden kennen, obwohl er sich Mühe gab. So war es immer schon gewesen. Am liebsten hätte er Konrad Storås und Nils Berg aus der 2. kennengelernt und mit ihnen über Philosophie diskutiert. Oder den, der Kaspar Olesen hieß und Anthroposoph war. Sie gingen in blauen Arbeitskitteln auf dem Schulhof hin und her und nickten einander ernst zu. Wie erwachsene Männer. So wollte Hartvig auch werden.

Mit den Mädchen war es etwas leichter. Aber Mädchen waren nicht für ernste Gespräche geschaffen. Sie waren für etwas anderes geschaffen, und Hartvig war ganz beklommen zumute, wenn er daran dachte. Aber wie er es angehen sollte, um mit einem Mädchen bekannt zu werden, wußte er auch nicht. Die anderen redeten von einem Dachboden, den sie abends aufsuchten. Mittwochs abends gingen sie in die Wochenschau und saßen auf der Galerie. So mußte man es wohl machen. Aber Hartvig bekam kein Mädchen ab, obwohl er in die Wochenschau ging. Nie sah ihn eine an, weder vor noch nach der Vorstellung, und während der Vorstellung konzentrierten sie sich wohl darauf.

Was sollte er auch mit Mädchen? Die hatten doch bloß Filmstars im Kopf. Im Oktober war die Nachricht von James Deans Tod gekommen. „Vor einigen Tagen“, hatte es in den Zeitungen geheißen. Die Mädchen seufzten und stöhnten. Sie redeten von James Deans hellbraunen Haaren, seinem weichen, geschwungenen Mund und seinen wehmütigen Sternenaugen. „Die Augen!“ sagten die Mädchen, tagelang sagten sie nichts anderes. Sie hörten, daß sich Mädchen drüben in Amerika bei Paso Robles, wo er tödlich verunglückt war, auf die Straße legten und nicht glauben wollten, daß er tot war. Sie wollten die Straße erst wieder freimachen, wenn ihnen jemand versicherte, daß er noch lebte. Da niemand ihnen das erzählen konnte, hatten mehrere Selbstmord begangen.

So waren Mädchen. Hartvig tadelte seine Klassenkameradinnen im „Radiergummi“, der Klassenzeitung, die sie in den Norwegischstunden herstellten. Was für eine Vorstellung, um einen Typen am Ende der Welt zu weinen und zu wehklagen, den sie nicht einmal gekannt hatten, schrieb er. Das war total idiotisch, einfach ein schwachsinniger Tick, und sie sollten sofort damit aufhören. Außerdem hättet ihr ihn ja doch nicht heiraten können, schrieb Hartvig. „Woher weißt du das?“ fragte Astrid ihn nachher auf dem Schulhof. Sie war zutiefst verletzt. Die Mädchen trauerten unbeirrt weiter.

Jetzt gingen dahinten Liv Abrahamsen und Stina Weidel mit der Zahnklammer und diskutierten über die Auferstehung. Was wußten die denn darüber? Sie sprachen so laut, daß der ganze Schulhof sie hören konnte. Stina war nämlich gerade frisch bekehrt. Eingesperrt in die Einfalt des Kleinbürgertums, genau wie seine Eltern. Land, Land, Land, lausche den Worten des Herrn. Aber wenn irgendwelche Mädchen zu ihm herüberkamen, diskutierten sie niemals solche Fragen. Sie juxten bloß. „Was liest du denn jetzt schon wieder, Gravdahl?“ fragten sie. Schon die Frage war ein Witz. Das war ihm klar. Anfangs hatte er nämlich ernsthafte Antworten gegeben. Aber warum sollte er mit ihnen über Goethe reden? Das einzig Geistige, das sie interessierte, waren die Top Twenty von Radio Luxemburg. Wenn man diese tierischen Geräusche überhaupt als Geist bezeichnen konnte. „You are my special angel“, jaulten die Mädchen auf dem Schulhof.

Beate war ziemlich nett. Sie redete nicht soviel. Er hatte sie immer schon gekannt, trotzdem kannte er sie nicht. Jetzt ging sie Hand in Hand mit Inger. Mädchen machten so viele seltsame Dinge. Vor Inger fürchtete er sich ein bißchen. Man wußte nie, was sie als nächstes sagen würde. Und in allen Diskussionen glaubte sie, das Pulver erfunden zu haben. Aber als er seine Ansichten zum Thema James Dean geschrieben hatte, war sie zu ihm gekommen und hatte gesagt: „Dein Kommentar hat mir wirklich aus der Seele gesprochen.“

Das machte ihn stolz. Ach, es brauchte so wenig, um ihn stolz zu machen. Außerdem hatte er das Gefühl, daß zum erstenmal eine wirklich mit ihm gesprochen hatte.

In der E-Klasse gab es ein Mädchen namens Gyda Gulldahl. Sie hatte langes volles Haar wie die Loreley und wohnte auf Kråkerøy. In jeder Pause ging sie mit einer aus der 2, die die Verrückte Maja genannt wurde und Locken und ein spitzes Gesicht hatte, über den Schulhof. Sie hieß nicht wirklich Verrückte Maja, aber er hatte nie gehört, daß sie anders genannt worden wäre. Die schrecklich dicke Gudrun Hauger aus seiner Klasse ging auch mit ihnen zusammen. Gyda Gulldahl hatte einen geraden Rücken und einen schmalen Körper. Er konnte sich an ihr einfach nicht sattsehen. Warum machte er das? Er kannte sie ja nicht einmal.

Im Klassenzimmer war er in Sicherheit. Hartvig saß am zweiten Tisch in der zweiten Reihe. Wenn sich Stille über die Klasse senkte und sie sich in ihre Bücher vertiefen sollten, erfüllte ihn ein Friede wie immer, seit er sich zum erstenmal durch ein Wort hindurchbuchstabiert hatte. Die meisten Lehrer verstanden nicht viel. Aber Davidsen war toll, wenn er über die großen Schriftsteller sprach. Auch Hartvig hatte vor, ein großer Schriftsteller zu werden. Besonders schön war es, über Dostojewski zu hören. Wenn Davidsen über die großen Russen erzählte, spürte Hartvig, daß er trotz allem an einer Art Gemeinschaft teilhatte. Da saßen alle anderen genauso allein wie er an ihren Tischen, dann zählte es nicht, daß er in der Wochenschau nie ein Mädchen fand.

Hartvig hatte nicht immer in Fredrikstad gewohnt. Er war mit zehn Jahren hergekommen, aus einem Waisenhaus in Baerum. Wie oder wann er dorthin gekommen war, wußte er nicht. Er dachte aber oft darüber nach. Er hatte einige klare Erinnerungen, die er nicht einordnen und die ihm niemand bestätigen konnte. Er sah ein Tor vor sich. Nachdem sie das Tor passiert hatten, gingen sie über ein von der Sonne beschienenes Feld. Dann kam der Wald. Zuerst war er dunkel, mit einem schmalen Grasweg. Nach und nach stieg er etwas an und wurde hell. Hier gingen sie, zuerst die Frau im geblümten Sommerkleid, die ihn an der Hand hielt, hinter ihnen der Mann.

Hartvig blickte in sich hinein. In seinem Kopf sah er einen mit Gras bewachsenen Abhang voller Stiefmütterchen, und er saß darauf, zusammen mit einer Frau im dunklen Mantel, und pflückte Blumen und fragte die Frau, wie die Blumen hießen, und er wußte noch, daß er gedacht hatte: Sicher heißen sie so, weil sie meine Mutter ist. Das Wort „Stiefmutter“ kannte er damals noch nicht.

Vielleicht bildete er sich das alles nur ein? Und weil er es sich so oft eingebildet hatte, hielt er es am Ende für die Wahrheit? So etwas kam vor, davon hatte er gehört. Ein Mensch konnte sich selber täuschen und darüber verrückt werden.

Werde ich jetzt verrückt? dachte er. Ist diese Blumenwiese nur der Anfang einer schleichenden Schizophrenie, wie bei Nietzsche? Dann würde er vielleicht auch eines Tages große Gedankenbauwerke errichten können. Aber Irrsinn war natürlich keine Garantie für Größe.

Und dann ging Hartvig zu Hause über die Wiese und spürte einen bestimmten Blumenduft. Vielleicht auch den Geruch neuen Grases. Oder der Erde? Unmöglich zu sagen. Aber es war ein ganz bestimmter Geruch. Der Geruch kam leicht wie ein Schmetterlingsatem auf ihn zu, scharf, klar, plötzlich, und brachte Tor und Waldweg zurück. Sie gingen weiter aufwärts. Der Weg wurde heller. Schließlich war es so hell, daß sich der Wald zu einer kleinen Lichtung mit Gras öffnete. Hier ließen sie sich nieder. Und neben der Lichtung floß ein Bach.

Welcher Bach? Welcher Wald? Es mußte doch irgendwo gewesen sein – irgendwo auf der Karte von Norwegen. Wenn er nur wüßte, wer ihm sagen könnte, daß Tor und Weg wirklich waren und wo sie lagen. Er verspürte ein unbeschreibliches Verlangen gerade danach.

Manchmal ging er nach Bingedammen in der Hoffnung, die Stelle zu finden. Nicht, weil er glaubte, daß sie dort lag – sie war weit von Fredrikstad entfernt, ja, er war sicher, daß sie überhaupt nicht in Østfold lag –, sondern weil er hier manchmal denselben Geruch verspürte.

Zu anderen Zeiten wies er das alles von sich. Es gab anderes auf der Welt, worüber er spekulieren konnte, als die Frage, wo er als Dreijähriger gewesen war. Manchmal vergaß er Waldweg und Blumenwiese. Er war mit den Dutzenden von Büchern beschäftigt, die er immer gerade zwischen den Fingern hatte. Aber mitten in seiner Vertiefung in die halbseitenlangen Sätze in Goethes „Dichtung und Wahrheit“ konnte die Frage in seinem Kopf landen wie eine unerwartete Flugmaschine. Hatten sich Weg und Blumenwiese am selben Ort befunden?

Seit vielen Jahren wußte Hartvig schon, daß er nicht der war, für den seine Eltern ihn ausgaben. Seine frühesten sicheren Kindheitserinnerungen stammten aus dem Waisenhaus. Dort war es entsetzlich gewesen. Alle Jungen hatten gebrüllt und sich geprügelt, und die meisten von ihnen konnten keine Wörter, sie konnten nur kreischen. Und kreischend waren sie gekommen und hatten ihn zu Boden geworfen, wenn ihnen das gerade Spaß machte. Die Schwestern im Waisenhaus waren gelbgrau im Gesicht gewesen.

Hartvig wollte das Waisenhaus vergessen. Aber voller Freude erinnerte er sich an seinen Schulbeginn, denn damals hatten sie Bücher bekommen, und er war der einzige aus dem Waisenhaus, der das Alphabet lernte. Mit Hilfe des Alphabets versank er in allen Büchern, die er finden konnte. Bald benutzte er das Alphabet auch, um selber zu schreiben. Lange Gedankenfolgen, in denen er das vertiefte, was er gelesen hatte, und in denen er die Bücher rezensierte. Sein Schreibheft hatte gar nicht genug Platz dafür. Und er wurde ausgeschimpft. Im Schreibheft sollte er Schönschrift üben.

Trotzdem war es etwas Großes, denn nachdem das Alphabet in Hartvigs Leben getreten war, war es nicht mehr ganz so einfach, ihn zu Boden zu werfen. Er konnte ein Zitat dagegenhalten. Und die Jungen rissen die Augen auf und fragten sich, was er da sagte, denn für sie war es vollkommen unverständlich, obwohl es doch Wörter waren. Manchmal hatte er Glück, und sie fanden es witzig und wollten noch mehr hören. Dann zitierte er weiter. Und am Ende konnte er in einer Schar von Jungen stehen, die ihn baten, zu „predigen“.

Auf diese Weise wuchs Hartvigs Seele, äußerlich auf dem Schulhof und innerlich in den Büchern.

Und dann kam eines Tages eine große fremde Frau ins Waisenhaus und sagte, er sollte mit ihr kommen, denn jetzt ginge es nach Hause. Manchmal, wenn er daran dachte, tauchte der Waldweg wieder auf. Hatte er damals gedacht, das bedeutete, er würde mit der Fremden dorthin gehen? Aber sie mußten doch in einem Haus gewohnt haben? Sie hatten doch nicht draußen im Wald gewohnt, sie und er und der Mann?

Die Frau, die da mit dem Koffer mit seinen Kleidern stand, war jedenfalls nicht die Frau, an die er sich erinnerte, und er begriff nicht, was sie damit meinte, daß er nach Hause sollte. Aber er ging mit. Es hätte auch nichts gebracht, sich zu weigern, und außerdem wollte er sich gar nicht weigern, denn nichts konnte schlimmer sein als das Waisenhaus. Sie nahm ihn an der Hand und ging. Sie nahmen Bus und Zug, und am Ende kamen sie zu einem gelben Bahnhofsgebäude mit der Aufschrift Fredrikstad, neben dem Ortsnamenschild hing ein großes Plakat mit dem Bild eines Jungen, der eine Tafel Freia-Schokolade unter dem Arm hielt. Inzwischen waren sie schon mindestens den halben Tag unterwegs gewesen.

Als Hartvig in das Haus des Glasermeisters Gravdahl oben in Bydalen kam, war er groß genug, um zu wissen, in welchem Waisenhaus er gewesen war, er kannte den Namen der Leiterin und einiger Schwestern. Von den Jungen wußte er meistens nur die Spitznamen. Der dünnste hieß Strauß, der dickste hieß Specksack, der frechste Jesus. Er selber war Prophet genannt worden. Das Dasein hatte ansonsten vor allem daraus bestanden, auf dem Topf zu sitzen. Er war Bettnässer. Nein, er wollte die Erinnerungen an das Waisenhaus nicht am Leben erhalten, aber nachdem die neue Wirklichkeit im Haus des Glasermeisters und der Schule von Lahellemoen ihn aufgenommen hatte, sanken sie zum Glück immer tiefer in ihm und verschwanden schließlich.

So hoffte er, daß mit der Zeit auch die Spekulationen über sein erstes Leben verschwinden würden. Das Gegenteil trat ein. Niemals hatte seine unklare Vergangenheit ihn mehr beschäftigt als jetzt, wo ihm der Übergang zu Mittelstufe und Gymnasium bevorstand. Seine Mutter wollte ihm keine Antwort geben. Sie sagte, sie hätten ihn geholt, weil sie ihn haben wollten, und daß er nun zu ihrer Familie gehörte. Er war in ein gutes und gottesfürchtiges Heim gekommen. Er hatte Onkel und Tanten, eine große Familie, die schon seit grauer Vorzeit in der Temperenzlerbewegung der Stadt engagiert war. „Hier“, sagten sie. „Das ist deine Familie.“ Das Beste für ihn wäre, nicht darüber zu grübeln, was früher war, meinte seine Mutter. Aber was war an seiner Vergangenheit so unaussprechlich?

Jedes Jahr bekam Familie Gravdahl Besuch von einer Person namens Esther Eliassen. Sie saß eine Weile im Wohnzimmer und bekam Kaffee und Waffeln, erkundigte sich danach, wie es in der Schule ging und ob er mit dem Bettnässen aufgehört hätte. Dann streichelte sie seinen Kopf und ging. In letzter Zeit kreisten Hartvigs Gedanken immer mehr um diesen Menschen. Ihm war nicht klar, wer Fräulein Eliassen schickte. Gehörte sie zu irgendeiner Jugendfürsorge, oder kam sie aus eigenem guten Willen und christlicher Besorgtheit? Hartvig schauderte beim Gedanken an die zweite Möglichkeit, und lange war er ausgewichen, vor allem, weil er nichts über seine Gesundheit hören wollte. Er hatte immer schon eine schwache Gesundheit gehabt. Er bekam oft hohes Fieber, aber das wollte er nicht zugeben. Immer sprachen seine Mutter und Fräulein Eliassen darüber. Deshalb versteckte er sich, wenn sie im Anmarsch war, und mußte erst hervorgezerrt werden.

Aber eines Tages, nachdem er wieder über die Wiese gegangen und den starken Duft früheren Lebens verspürt hatte, beschloß er: Nächstes Mal werde ich mich nicht verstecken. Nächstes Mal werde ich sie fragen, wer ich bin.

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