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Die Stunden

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Die Mädchen aus Trara hatten immer etwas zu lachen. Vor allem eine Else, die am vorletzten Tisch an der Tür saß und sich mit Lippenstift bemalte. Dann kicherte sie zusammen mit den anderen Mädchen in ihrer Ecke. Sie hatte in ihrem Mäppchen einen Spiegel. Darin betrachtete sie ihren Lippenstift und ihren Mund, wenn der Lehrer das nicht sehen konnte, und danach prustete sie los. Manchmal warf sie sich vor Lachen über den Tisch, und wenn sie sich wieder eingekriegt hatte und sich umdrehte, um der mit der Zahnklammer am letzten Tisch etwas zuzuflüstern, war das, was sie sagen wollte, so komisch, daß sie es einfach nicht herausbrachte. Einmal lachte sie so sehr, daß sie vor die Tür gestellt werden mußte. Das war im Norwegischunterricht, sie nahmen gerade einen Roman von Gabriel Scott durch.

„Gabriel Scott, du meine Güte!“ sagten die Mädchen aus Trara, und dann gackerten sie los und wollten einfach nicht aufhören. Ob das denn wirklich so komisch sei, fragte Davidsen vom Pult herab. Aber das war es eben. Und deshalb mußte die mit dem Lippenstift vor die Tür gesetzt werden, sie war nämlich die Schlimmste. Sie kicherte den ganzen Weg vorbei an den Tischen und bis zur Tür, ihr Gesicht war rot vor Heiterkeit. Sie hieß Liv.

Inger mochte sie nicht, aber sie mußte doch immer wieder an sie denken. Auf dem Heimweg sagte sie zu Lillian: „Eine in meiner Klasse kann ich einfach nicht ausstehen.“ „Ach?“ fragte Lillian. „Ja, diese Liv Abrahamsen. Die ist so albern, daß die Hälfte wirklich reichen würde.“

Aber in jedem norwegischen Aufsatz bekam Liv ein Sehr gut. Wie war es möglich, sich mit Lippenstift zu bemalen und trotzdem Sehr gut im norwegischen Aufsatz zu bekommen?

Sie sollten beschreibende Aufsätze schreiben, erklärte Davidsen. Das war etwas anderes als in der Volksschule, sie waren schließlich älter. In der Volksschule hatten sie nur erzählende Aufsätze geschrieben, erklärte er. „Ein unvergeßlicher Ausflug“ und so. Jetzt sollten sie folgenden Aufsatz schreiben: „Eine Straße bei Regenwetter.“

Eine Straße bei Regenwetter, dachte Inger. Das war wie ein Bild. Sie dachte an Nygaardsgata, der Ecke Solheimhjørnet, wenn es regnete, und blickte zum Kirkepark hinüber.

„Es braucht keine bestimmte Straße zu sein“, sagte Davidsen. Und auch kein bestimmter Zeitpunkt. Es sollte zeitloser sein. Wie sieht eine Straße bei Regenwetter gewöhnlich aus?

Na gut, dachte die 1 B und schrieb das Thema in ihr Aufgabenheft. Zeitloser Regen. In vierzehn Tagen abzugeben.

In den beiden letzten Stunden am Montag hatten sie Zeichnen oben im Zeichensaal im Neubau, bei einem Mann namens Konsul Saxeby. Der war ein zackiger glatzköpfiger Herr mit spöttischem Blick und Goldzahn. Wovon er Konsul war, wußte niemand. Jedenfalls war er kein Studienrat, aber das war auch nicht nötig, schließlich sollte er der heranwachsenden Generation Form und Schatten beibringen.

Schon in der ersten Stunde schockierte er alle, als er einen Blumentopf vor ihnen aufpflanzte. „Den sollt ihr zeichnen!“

Einen Blumentopf zeichnen, meine Güte! Sowas von öde. In der Volksschule hatten sie Aufgaben gehabt wie „Der Nationalfeiertag“ oder „Die Zugvögel kommen zurück“ oder „Kinderspiele im Frühling“, wo sie das schwachsinnige Leben in Fredrikstad frei und in all seiner Farbenpracht zeichnen konnten. Aber einen Blumentopf!

„Ich lach’ mich kringelig!“ sagte Kjell Grunder. Das hätte er nicht sagen sollen. „Raus auf den Flur, Junge!“ sagte der Konsul und zeigte mit seinem vergoldeten Drehbleistift auf die Tür. Hier herrschte vom ersten Moment an Disziplin.

Die Klasse 1 B minus Grunder senkte die Köpfe und zeichnete den Blumentopf. Inger war unglücklich. Sie konnte ohnehin nicht zeichnen, und wenn nun auch noch das Motiv blöd war? Sie strichelte und strichelte und sah bald, daß ihre Bemühungen einen schiefen und ziemlich unannehmbaren Blumentopf ergaben. Zu allem Überfluß mußte sie auch noch neben dieser Beate aus Lahellemoen sitzen, die nichts anderes tat als den Lehrern engelhafte Blicke zuzuwerfen, ohne ein Wort zu sagen.

Sie waren nämlich immer zwei und zwei auf große Zeichentische mit Schienen und Ständern verteilt worden, und hatten absolut nicht selber entscheiden dürfen, wo sie sitzen wollten. Das hatte Saxeby übernommen. Inger spürte, wie Beate Halvorsen ihren Engelsblick auf den Blumentopf konzentrierte und neben ihr lange, gehorsame Striche zeichnete. Am Ende mußte sie einfach hinsehen. Ein prächtiger, naturgetreuer Topf erschien auf dem weißen Bogen – mit Schatten. „Du kannst das ja toll“, sagte sie. „Ach was, kann ich gar nicht, ich zeichne bloß, was ich sehe.“ – „Was du siehst?“ Inger war nicht einen Augenblick auf die Idee gekommen, einen Blick auf den blöden Topf zu werfen, sie hatte einfach ihren inneren Topf in ihrem Kopf gezeichnet. Beate sah Ingers Topf an und lächelte. „Du mußt genauer hinsehen“, sagte sie.

Nun musterte Inger den Blumentopf. Sie betrachtete ihn aufmerksam mehrere Minuten lang. Er war rund. Sie kann also doch sprechen, dachte sie in den Topf hinein.

Wenn sie einen ganzen Satz zustande brachte, konnte sie vielleicht auch noch mehr sagen? Inger machte noch ein paar Striche, genauso unbeholfen wie die anderen. Dann hielt sie die Zeichnung hoch und sagte: „Das hier ist ein expressionistischer Topf.“ Den Expressionismus hatten sie gerade im Norwegischunterricht gehabt. „Der soll gar nicht aussehen wie ein echter Topf. Das Problem ist bloß, daß ich kein Talent habe.“ Beate lachte. Ach? dachte Inger. Lachen kann sie auch?

„Jetzt kommt eine Besprechung“, sagte Konsul Saxeby und rief sie zu einem erhöhten Podium, einer Art Rednerpult mitten im langen, schmalen Raum. Sie wimmelten um ihn herum, und er streckte seinen vergoldeten Drehbleistift aus. „Ihr haltet den Bleistift so“, sagte Saxeby und zeigte ihnen, wie sie beim Zeichnen den Bleistift benutzen sollten. Es war eine über alle Maßen gähnfördernde Vorstellung. Saxeby maß und wog, und es wollte und wollte einfach nicht schellen. Als das dann endlich seltsamerweise doch geschah, war die Befreiung ohrenbetäubender als nach jeder anderen Stunde.

Später ging Inger auf, daß sie sich auf den nächsten Montag freute. Dann würden sie einen Klotz zeichnen.

Markmo hielt einen riesigen Zirkel mit Kreide in der Spitze in der Hand und spähte über die 1 B hinweg. „Was machen wir jetzt?“ fragte er, suchte sich aber nicht sofort sein Opfer aus. Er hielt die Kniegelenke steif und spreizte die etwas zu kurzen Beine und sah dabei selber aus wie ein Zirkel. Manchmal versuchte er auch auszusehen wie ein Dreieck. Oder wie das Parallelogramm ABCD. „Sølvi Andersen“, sagte Markmo, der Name detonierte über ihren Köpfen. „Ja?“ fragte Sølvi, und Hitze überflutete ihr Gesicht. „Wir können die Zirkelspitze auf Null setzen.“ – „Wir können auch einen Ausflug zur Skihütte machen“, antwortete Markmo und erntete den Applaus, den er für diese schlagfertige Antwort verdient hatte.

Anfangs stand Markmo mit rechtwinkligen Beinen und viereckigem Gesicht da und erklärte den ersten Quadratsatz. Wenn er erklärte, war das immer zu verstehen, denn er erklärte deutlich und logisch, und man begriff, daß er einfach recht hatte. Und außerdem konnte man ganz still am Tisch sitzen und einfach zuhören. Aber wenn man anwenden sollte, was man verstanden hatte, dann klappte das nicht. Das Ergebnis stimmte absolut nicht mit der richtigen Lösung überein. Die richtigen Ergebnisse waren immer rund und vor allem ganz.

Auf der Volksschule war mehr Ordnung in der Angelegenheit gewesen. Dort waren Buchstaben Buchstaben und Zahlen Zahlen. Aber jetzt führte Markmo ein, daß eine Zahl eine Zahl war, sobald jemand sie dazu ernannte, und daß a eine Zahl sein konnte, wenn jemand behauptete, es sei eine Zahl, und, schlimmer noch, a konnte jede beliebige Zahl sein. Damit nicht genug. Auf der Volksschule war die kleinste Zahl immer 1 gewesen. Vielleicht auch 0. In diesem Punkt hatte ein wenig Unsicherheit bestanden. War 0 eine Zahl oder einfach nur 0? Jedenfalls war die kleinste Zahl entweder 1 oder 0 gewesen. Und was könnte auch kleiner sein?

Aber jetzt sagte Markmo, daß die Zahlen hinter 0 in einer unendlichen Reihe weitergingen, genau wie die steigenden Zahlen über 0, man brauchte nur ein Minuszeichen davorzusetzen. 0 war eine Art Mittelpunkt für alles, nichts nahm je ein Ende.

Der reine Zirkus. Hokuspokus und Akrobatik. Aber es hieß Algebra.

Algebra war ja gut und schön, aber wozu sollten sie es verwenden, abgesehen davon, sich damit zu amüsieren, jedenfalls die, die das lustig fanden? Und die zu quälen, die das nicht schafften? Mathematik war eine feinere Form der Folter.

Die Mädchen büffelten. Nichts von allem, was jetzt in sie hineingestopft wurde, büffelten sie so wie Mathematik. Und bei den Quadratsätzen erreichte die Büffelmanie ihren vorläufigen Höhepunkt. Alles Dickgedruckte sollte auswendig gelernt werden. Die Mädchen standen auf dem Schulhof und sagten laut zu sich und den anderen: „Wenn wir die Summe zweier Zahlen quadrieren wollen, erhalten wir das Quadrat der ersten Zahl plus dem doppelten Produkt der beiden Zahlen plus dem Quadrat der letzten.“ Sie büffelten und sahen einander an. Aber in ihren Köpfen gab es nur Markmo.

Das Seltsame bei diesem fieberhaften Auswendiglernen war nämlich, daß eine nach der anderen erklärte, daß sie nicht das geringste begriff. Warum also lernen? Eine absolut überflüssige Frage. Die Quadratsätze mußten alle aus dem Ärmel schütteln können, und falls sie abgehört würden und es nicht schafften, würde das Schulgebäude über ihren Köpfen einstürzen. Die Glomma würde nicht mehr ins Meer fließen, es würde Erdbeben geben, Heulen und Zähneklappern, Pastor Spåvangs Armageddon würde über sie hereinbrechen, Fredrikstad würde zu Kleinholz zerschlagen werden. Das wußten alle.

Und Markmo, den Kopf gefüllt mit Buchstaben und Potenzen, das Jüngste Gericht in seinen tiefen Taschen, hielt, was er versprochen hatte. „Liv Abrahamsen. Schreib den ersten Quadratsatz an die Tafel.“ Liv sprang auf, blutrot im Gesicht, und schrieb mit prachtvoller Schönschrift, die sie aus der Trara-Schule mitgebracht hatte, wo alles noch verständlich gewesen war: (a+b)2 = a2 + 2ab + b2. „Prächtig“, sagte Markmo. Er sagte immer „prächtig“, aber es stand nicht fest, ob er den Inhalt oder die Ausführung meinte oder das Gegenteil, immer ließ er sie in dieser Unsicherheit. Liv errötete, falls möglich, noch stärker.

„Kannst du erklären, was hier passiert ist?“

„Ja“, antwortete Liv. Dann sagte sie nichts mehr, und Markmo grinste und meinte: „Ja und nein?“ – „Nein, nein“, sagte Liv, und nun lachte die Klasse. Liv errötete noch mehr. „Na?“ fragte Markmo. „Der erste Quadratsatz?“ Jetzt hatten sich mehrere Hände erhoben, langsame Jungenpulloverärmel, wache Augen richteten sich auf Markmo. „Wenn wir kadavrieren... nein, kadavieren... nein...“ – „Jetzt mußt du aber wirklich in Gang kommen, ehe ich zum Kadaver werde.“ Der eine oder andere Bengel brüllte los, in der Hoffnung, Markmo werde gerade sein Lachen hören und begreifen, daß er den Quadratsatz beherrschte. „Wenn wir quadrieren“, sagte Liv endlich und war so erleichtert darüber, daß sie das Wort geschafft hatte, daß sie eine kleine Pause einlegte. „Wollen wir das überhaupt?“ fragte Markmo. „Oder wollen wir zum Ball gehen?“

Doch, es war wirklich eine Vorstellung, wenn Markmo abhörte. Selten wurde man enttäuscht. Liv räusperte sich und fing noch einmal an. „Wenn wir die Summe zweier Zahlen quadrieren“, sagte sie, „erhalten wir das Quadrat der ersten Zahl plus dem doppelten Produkt der beiden Zahlen plus dem Quadrat der letzten.“ – „Prächtig“, sagte Markmo. „Richtig prächtig. Und kannst du diese Verwandlung auch erklären?“ – „Das ist einfach so“, antwortete Liv. Sie wußte es nicht. Im Buch hatte das ja auch nicht gestanden. „Das weiß ich nicht“, sagte sie. „Das ist eben so.“

„Aber Liv“, sagte Markmo, „wenn du eine weiße Soße kochst, sagst du auch nicht, ‚das ist einfach so‘. Du weißt, welche Zutaten du dafür benötigst. Und die nennen wir in der Mathematik Faktoren.“ – „Aber bei weißer Soße braucht man kein unbekanntes Mehl in zweiter Potenz“, warf Astrid Evensen ein. „Und auch keine unbekannte Menge.“ Jetzt kicherten die Mädchen hörbar.

Markmo schüttelte den Kopf. Er hatte es ja immer schon gewußt. Es hatte keinen Sinn, Mädchen Mathematik beizubringen. Aber wenn sie schon einmal da saßen, mußte man sein Bestes tun, um sie ihnen in den Schädel zu hämmern. „Rolf Magnor, bitte“, sagte er. Und Rolf, der während der ganzen Szene mit Liv abwechselnd die linke und die rechte Hand hochgestreckt hatte, sprang jetzt voller Selbstsicherheit auf und bewies, daß es genauso sein mußte, wie es im Mathematikbuch stand. Denn (a+b)2 war ja dasselbe wie (a+b) (a+b), und wenn man das miteinander multiplizierte, dann kam a2 + ab + ab + b2 heraus, eine Verkürzung von dem, was an der Tafel stand. „Da sehen wir’s, da sehen wir’s“, sagte Markmo, er hatte sich ganz hinten in die Klasse gestellt, um diesen Rechenvorgang richtig genießen zu können.

Inger hatte das Gefühl, daß das alles unverständlich war. Durch Rolf Magnors hinzugefügten Beweis wurde es auch nicht verständlicher. Sie glaubte auch nicht, daß die Jungen das verstanden. Sie lernten es einfach auswendig und gaben es weiter. Ohne rotzuwerden. Jeder konnte (a+b)2 und was dabei herauskam auswendig lernen. Das war nicht schwieriger als das Alphabet. Und auch das Alphabet hatte nicht die geringste Bedeutung. A, b, c. Was bedeutete das? Man mußte es verwenden können, das war alles. Und es war nicht schwer zu begreifen, warum das nützlich war. Man konnte schreiben statt zu reden. Es war unendlich nützlich. Aber wozu brauchte man (a+b)2? Selbst wenn man das ausrechnen konnte? Ja, daß die Verwendung so unklar war, schien daran schuld zu sein, daß es unverständlich wurde. Aber den Jungen schien das nichts auszumachen. Oder wenn es ihnen etwas ausmachte, dann versteckten sie es jedenfalls und sprangen über die Buchstabenzahlen, als ob das ihre besten Freunde wären. Und Markmo wurde nie spöttisch, wenn sie steckenblieben.

Was sonst war die Erklärung dafür, daß Jungen wie dieser Sigvart Jespersen, der den Unterschied zwischen erzählendem und betrachtendem Stil nicht begriff, der sich nie die Regel merken konnte, wann im Englischen das y am Ende des Wortes zu i wurde, und der nie das Wort beautiful zu buchstabieren lernte, eine Eins in Mathematik bekam? Gehörte vielleicht ganz einfach eine gewisse Portion Dummheit dazu, mit Mathematik fertigzuwerden?

„Ich begreife nichts“, sagte Inger zu Papa.

„Das ist ja nichts Neues. Wieviel ist 2/3 mal 3/4?“

„Himmel, jetzt fang doch nicht wieder damit an!“

„Aber wieviel ist 2/3 mal 3/4?“

„Hör auf, hab’ ich gesagt. Ich will darauf jetzt nicht antworten. Was soll das alles? Das will ich wissen. Was sollen diese ganzen Quadratsätze?“

„Mathematik läßt sich für vieles verwenden“, sagte Papa.

Papa erklärte. Höhere Mathematik könnte beim Brückenbauen helfen. Er sprach voller Wärme. Davon hatte Markmo nichts gesagt. Brücken waren nützlich. Hier sahen sie zwei Brücken, die sich wie ein in die Zukunft weisender Triumph über die Landschaft erhoben. Kein Zweifel, daß das über die Maßen nützlich war. Es war fast unmöglich, sich etwas Nützlicheres vorzustellen als eine Brücke. Und die Brücke entstand durch höhere Mathematik. Aber wie?

Ja, sagte Papa. Man brauche die Mathematik, um zu berechnen, wie man mit der Brücke gleichzeitig an zwei Seiten anfangen könne. Man fing ganz einfach bis zum I-Tüpfelchen richtig im selben Moment auf der Ostseite und auf der Westseite an und baute Monate und Jahre, und die beiden Halbbögen kamen sich immer näher, und schließlich erreichten sie einander über dem Fluß in der feierlichsten Umarmung der modernen Zeit, und schwupp! – die Schraube paßte perfekt ins Loch! Stahl von Westen und Stahl von Osten glitten auf ein hundertstel Millimeter genau ineinander. Es war phantastisch. Niemand konnte behaupten, daß die nutzlose Mathematik nicht fast schon himmelstrebende Ergebnisse erzielt hatte. Da stimmte Inger zu. Aber wie?

„Mit Hilfe der Mathematik können sie messen, wo sie zu stehen haben“, sagte Papa.

„Aber wie?“ fragte Inger noch einmal. „Wieso wissen sie, wo sie sich beim Messen hinstellen müssen?“ Sie stellte sich vor, wie sie an West- und Ostufer standen, Ingenieure von der technischen Hochschule und ausländische Experten, mit komplizierten Meßgeräten und allen Quadratsätzen und Kongruenzsätzen und Gleichungen zweiten Grades im Kopf. Woher wußten sie, wo sie sich hinstellen sollten?

„Nein, das“, sagte Papa. „Das kann ich dir nicht erklären. Das verstehst du nämlich nicht.“

Und als er das sagte, wurde er nicht rot.

Torsrud war ein finsterer Typ mit weißer Mähne und trägem Teufelsblick, aber seine Augenbrauen waren immer noch schwarz und sträubten sich beunruhigend auf seiner Stirn. Es hieß, er sei während des Krieges so geworden. Jetzt kam er mit langsamen Schritten ins Klassenzimmer, nachdem er den Einmarsch der Klasse überwacht hatte, griff nach dem Zeigestock und skandierte von Reihe zu Reihe. „Ruhe“, sagte Torsrud.

Sie nahmen das Kongobecken durch. „Das Kongobecken“, sagte Torsrud und blickte sie bedrohlich an. „Kannst du etwas darüber erzählen, Evensen?“ Astrid richtete ihren Filmstarblick auf die schwarzen Augenbrauen über dem Arbeitskittel. „Ich hab’ mich nicht vorbereitet.“ – „Hm“, meinte Torsrud, wieder durchforsteten seine Augenbrauen die Tischreihen. „Holm“, sagte er. „Was?“ Torsrud setzte sich hinter das Pult und rieb sich müde das Gesicht. „Was ist los?“ flüsterte Inger in die Runde. Beate drehte sich um und legte den Kopf auf den Tisch. „Du sollst was übers Kongobecken erzählen“, flüsterte sie, und gleichzeitig lief sie im Gesicht knallrot an und prustete in einem Lachen los, das sie zu unterdrücken versuchte. Inger spürte das Lachen in ihrem Hals. Es durfte nicht heraufkommen.

„Das Kongobecken“, sagte eine innere Stimme, und jetzt hatte das Lachen schon ihren Mund erreicht. Sie blickte auf ihr Mäppchen hinunter. An etwas Ernstes denken. Beerdigung.

„Ja“, sagte sie und sah Torsrud an. „Es liegt mitten in Afrika, im Westen, meine ich, und mittendurch fließt der Kongo. Der Fluß Kongo, meine ich. Das ist der wasserreichste in Afrika – oder ist das vielleicht der Nil?“

„Nicht du stellst hier die Fragen, sondern ich.“

„Ja, sicher.“ Einige lachten. „Vielleicht also der Nil. Aber jedenfalls wächst daran Urwald, bloß nicht die ganze Strecke. Ganz unten gibt’s Savanne.“ Hier unterbrach sie sich und sah Torsrud an. „Was ist Savanne?“ fragte Torsrud. „Das ist eine große Ebene. Wie eine Prärie, aber in Afrika nennen sie das Savanne. Eine Savanne ist ein Zwischending zwischen Urwald und Wüste. Und hier laufen Löwen und Elefanten herum.“

Einige von den Jungen lachten. Was war denn daran bloß so komisch? „Ja, stimmt das denn nicht?“ – „Doch, das machen sie. Kannst du mir etwas über ihre Wirtschaftsformen erzählen?“ – „Sie betreiben Hackbau“, antwortete Inger. Sie hatte keine Ahnung, was Hackbau war, und jetzt war es zu spät.

„Wen meinst du mit sie?“ fragte Torsrud.

„Pygmäen und Bantus. Das heißt, die Pygmäen wohnen tief im Urwald.“ Sie stellte sie sich tief im Urwald vor, wo sie die ganze Zeit hinter den Büschen standen und klein waren. Die Bantus waren groß und fesch. Sie konnte nicht an die Wirtschaftsformen denken. Erdkunde wäre das lustigste Fach von allen gewesen, wenn es diese Wirtschaftsformen nicht gegeben hätte. Sie begriff sie nicht. Immer produzierten sie etwas, von dem sie keine Ahnung hatte. Kopra und Jute und Mangan. Was spielte es denn für eine Rolle, wo Sachen herkamen? Und während sie Kopra und Jute und Mangan produzierten und dabei 90% der Weltproduktion lieferten, führten sie große Mengen von ebenso unverständlichen Waren ein. Wozu mußten sie das wissen? Es war klar, daß ein Land ausführte, was es hatte, und einführte, was ihm fehlte. Dazu gab’s nicht mehr zu sagen. Flüsse und Menschen waren etwas anderes. Torsrud hatte etwas gesagt. Seine Augenbrauen musterten sie. „Was?“ fragte sie. „Du mußt aufpassen“, sagte Torsrud. „Ich hör’ dich gerade ab.“ – „Ach, ich dachte, wir wären schon fertig.“ Jetzt lachten sie wieder. So hatte sie das nicht gemeint. Sie hatte wirklich gedacht, sie wären fertig. „Du hast den Hackbau erwähnt“, erklärte Torsrud geduldig. „Ist das die einzige Wirtschaftsform?“

„Nein, natürlich nicht“, antwortete Inger. „Sie haben viele Wirtschaftszweige. In einem Gebiet im Kongo namens Katanga haben sie große Kupferadern.“ Sie wußte eigentlich auch nicht, was eine Kupferader war. Warum konnte da nicht einfach Kupfer stehen? Das wurde jedenfalls für Kirchtürme verwendet. „Ja, und dann gibt es dort Diamanten“, sagte sie. „Außerdem bauen sie Kaffee und Baumwolle und so auf den großen Plantagen an, und...“

„Und so?“ wiederholte Torsrud. „Alle Schüler sagen ‚und so‘. Was bedeutet das?“ Das sagte er jedesmal, aber Inger hatte es vergessen, sie wußte auch keine weiteren Waren mehr.

Torsrud blickte sichum. Rolf Magnor meldete sich.

„Ja, Magnor?“ – „Öl“, sagte Magnor. Mist, dachte Inger. Ich wußte doch, daß ich etwas vergessen hatte. „Von Ölpalmen, meine ich“, fügte Rolf hinzu, und danach sah er Inger an und lächelte leicht. Sie erwiderte sauer seinen Blick. „Ja, Magnor. Kannst du uns über Verkehr und Entdeckungen erzählen?“ fragte Torsrud, während er eine zutiefst geheime Note in das riesige Klassenbuch eintrug.

„Der Kongo gehört Belgien. Die Hauptstadt heißt Leopoldville, nach dem belgischen König. Außerdem liegt dort das Prinzessin Astrid-Institut für Tropenforschung. Große Teile des Kongoflusses sind schiffbar, ansonsten wird die Eisenbahn verwendet. Im letzten Jahrhundert reiste Henry Stanley...“

Inger mochte nicht mehr zuhören. Sie nahm einen Zettel und schrieb: „Liebe Frau Pflaumensülz! Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Ist es nicht hinreißend, Rolf Magnor seine Hausaufgaben herunterleiern zu hören? Bald werden Torsruds Augenbrauen aus purer Freude durch die Klasse fliegen. Wollen wir dann seine wunderschönen, betörenden, himmelstürmenden Augenbrauen nicht im Flug einfangen und sie für ewige Zeit als Lesezeichen verwenden? Im Erdkundebuch natürlich. Ihr immer ergebener Freund Herr Apfelsaft.“ Sie faltete den Zettel zusammen und piekste Astrid, die vor ihr saß, in den Rücken. Astrid drehte sich halb um, sah den Zettel, hielt sich die Hand auf den Rücken und blickte mit dämlichem Blick nach vorn zum Lehrer. „Für Beate“, flüsterte Inger. Astrid nahm den Zettel, und während Torsrud bei Magnors flüssigem Bericht über Stanleys afrikanische Expedition einen Blick aus dem Fenster warf, warf sie den Zettel hinüber zu Beate. Inger sah zu, wie Beate unter dem Tisch den Zettel auseinanderfaltete, wie sie ebenfalls zu Zettel und Bleistift griff und sich zum Schreiben darüber beugte. Als sie fertig war, faltete sie ihn zusammen und warf ihn gleich zu Inger hinüber, wo er auf dem Mäppchen landete. „Hochwohlgeborener und sagenumsauster Herr Apfelsaft! Wie bebt doch mein Herz, weil ich nach all diesen Jahren von Ihnen höre! Wo sind Sie gewesen? Ich für meinen Teil habe in einem finsteren Keller auf Kapellfjellet gestanden und mein grausames Los beklagt. Magnors lebhafte Stimme ist in meinen mißmutigen, hängenden und immer gleich einsamen Ohren wie das klangvollste und hochtrabendste Glockenspiel. Hochachtungsvoll, Frau Pflaumensülz.“

Inger riß ein neues Blatt aus ihrer Kladde. „‚Dr. Livingstone, I presume‘, sagte Stanley“, sagte Magnor und blickte bei dieser verdichteten Klimax über die Klasse und klappte den Mund zu. Torsrud notierte ein zutiefst geheimes „Sehr gut“ im Klassenbuch und machte sich an eine Schilderung des ostafrikanischen Hochlandes. „Geliebte Pflaumensülz! Ich ahnte schon, daß Sie warteten, obwohl ich in all diesen Jahren nichts von Ihrer Existenz gewußt habe. Aber ich bitte Sie zu verstehen, daß ich ein vielverschlungenes Leben mit vielen gefahrvollen und abenteuerlichen Reisen hin und her im Kongobecken und unter meinen Lieblingselefanten in der Savanne führe. Wie stark würde mein Herz doch brausen, wenn Sie sich einmal von Ihren tiefen, stinkenden Kellerverschlägen auf Kapellfjellet losreißen könnten, um mit mir in die Welt zu ziehen! Falls Ihnen dabei der weitläufige und gorillahafte Torsrud zu sehr fehlen sollte, könnten wir ihn gut als Führer anstellen. In ohrenbetäubendem Herzenssausen warte ich auf Ihre liebenswerte herzförmige Antwort. Vielfältige Grüße von Apfelsaft.“

„Auf Seite 99 seht ihr ein Bild von einem Kaffernkraal im Betschuanaland. Seht euch die vielen Neger auf dem Platz an.“

„Wem gehört Betschuanaland?“

„Betschuanaland ist ein britisches Protektorat.“

„Hochgeachteter Herr Apfelsaft! Ich finde, Sie bringen der Bevölkerung von Kappelfjellet wenig Respekt entgegen. Vergessen Sie nicht, daß sie doch trotz allem Menschen sind, wie wir anderen auch. Abgesehen von Magnor natürlich. Den möchte ich nicht mit weiteren Kommentaren aus meinem Goldstift berühren. Leider muß ich wohl sagen, daß mein Schicksal ist und bleibt, in einem verstaubten Regal in einem Kellerverschlag des bereits erwähnten Chapel Rock zu stehen. Sie können mich besuchen. In der Dunkelheit und Verschwiegenheit der Nacht, natürlich. Am liebsten bei Mondschein. (Es gibt ein kleines Kellerfenster.) Spärliche, aber tränenerfüllte Grüße, für immer die Ihre, Pflaumensülz.“

„Auf Seite 100 seht ihr den berühmten Tafelberg in Kapstadt.“

„Meine unwiderstehliche Pflaumensülz! Darf ich meinen Lieblingselefanten mitbringen? Ihr trauriger Apfelsaft.“

„He, da hinten! Was ist das?“ Die Augenbrauen ruhen auf dem Zettel auf Beates Tisch. Torsrud nähert sich. „Das Kapland!“ sagt plötzlich Liv Abrahamsen und will sich ausschütten vor Lachen. Die Mädchen um sie herum lachen. Beate hält die Hand über den Zettel. „Nichts“, sagt sie und blickt zu ihm hoch. „Weg mit der Hand! Wollen wir uns doch mal nichts ansehen.“ Beate rührt sich nicht. „Also los. Mach schon. Wir können im Erdkundeunterricht solche Zettelwirtschaft nicht dulden!“

„Vielleicht sollten wir sie lieber im Norwegischuntericht betreiben!“ platzt es aus Liv heraus. Hier ist die Grenze. Torsrud dreht sich zu Liv um und zeigt auf die Tür. „Raus!“ Liv geht und füllt ihr Taschentuch mit Lachen. Beate hat immer noch die Hand über dem Zettel. Torsrud packt sie am Handgelenk und zwingt die Hand beiseite. Aber darunter gibt es keinen Zettel. Torsrud glotzt die Luft über der Tischplatte an. Eine Weile steht er da. Dann zuckt er die Schultern. „Ihr müßt aufhören mit diesem Unfug“, sagt er und kehrt ins Kapland zurück.

Nach dieser Stunde gingen Inger und Beate nebeneinander die Treppe hinunter. Eigentlich hatten sie bisher noch nicht viel miteinander geredet, abgesehen vom Zeichenunterricht. „Du bist verrückt“, sagt Beate. „Stimmt. Aber ich wußte nicht, daß du auch verrückt bist.“ Plötzlich kennen sie einander.

„Und ich hab’ gedacht, in Lahellemoen gäb’s bloß doofe Leute, weißt du“, sagt Inger zu Lillian. „Aber jetzt kenne ich da eine, die nicht doof ist.“

„Ach? Wen denn?“

„Beate Halvorsen. Sie hat vor Torsruds Augen einen Zettel weggezaubert.“

„Wie hat sie das denn geschafft?“

„Ach, ich hab’ vergessen, sie zu fragen.“

Hinter ihnen kommt Svend Akselsen aus Trara angefahren und läßt seine Handbremse laut aufquietschen. Er geht in die A-Klasse. Lillian läuft knallrot an und starrt geradeaus. „Kommst du um acht mit in die Wochenschau?“ ruft er, er selber ist auch nicht weniger rot. „Ja“, antwortet Lillian und tut so, als hätte sie ihn gerade erst entdeckt. Kaum hat sie geantwortet, tritt Svend hektisch in die Pedale und saust Fergestedsveien hinunter, ohne mit den Händen den Lenker zu berühren.

„In Trara wohnen auch nicht bloß doofe Leute“, sagt Lillian.

Dann schweigen beide, tief ergriffen von dieser Erkenntnis.

Am Pier

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