Читать книгу Am Pier - Gerd Mjøen Brantenberg - Страница 8
Hoffen und Bangen
ОглавлениеInger fand es witzig, in Jeans und Cowboyhut herumzulaufen. Aber in der Schule mußte sie immer Röcke tragen.
Eines Tages sagte Astrid Evensen zu ihr: „Du traust dich bestimmt nicht, mit dem Rad durch Nygaardsgata zu fahren, wenn die Vorstellung aus ist, mit deinem Cowboyhut, und ‚Yippieh!‘ zu rufen, das wette ich.“
„Um wieviel wettest du?“
„Eine Krone.“
Also fuhr Inger mit Cowboyhut und Revolver an der Blauen Grotte vorbei und rief „Yippieh!“, eines Samstagsabends, als alle aus der Sieben-Uhr-Vorstellung kamen. Die anderen Mädchen fuhren in gebührendem Abstand hinterher. „Du bist verrückt“, sagten sie.
An einem anderen Abend kam sie mit Duschhaube in die Stadt. Wenn irgendwer sie anglotzte oder sich umdrehte, schnitt sie Grimassen. Das machte sie übrigens auch oft, wenn sie keine Duschhaube trug.
„Grimassenschneiden ist viel besser, wenn die Leute glotzen“, erklärte sie Lillian. „Dann glotzen sie nicht umsonst. Außerdem fühlen sie sich dann selber normal. Also tue ich eigentlich eine gute Tat.“ Lillian und sie hatten gehört, daß die Pfadfinder jeden Tag eine gute Tat tun mußten.
Eine Dame zu werden, war öde. Damen mußten Seidenstrümpfe und Hüfthalter tragen und durften nur tun, was sich gehörte. Und alles, was witzig war, gehörte sich nicht. Außerdem verrutschte immer die Strumpfnaht.
In der Blauen Grotte fand die Uraufführung von „Besser als ihr Ruf“ statt, eines Films über Abiturienten, der in Fredrikstad gedreht worden war. Einige Minuten jedenfalls. Zum erstenmal fand in ihrer Stadt eine Uraufführung statt. Mit Blumen und Edith Carlmar und allen Schauspielerinnen und Schauspielern. Da stand Vigdis Røising mit ihren langen, gewellten dunkelbraunen Haaren und hochgeschlagenem Kragen an ihrem weißen Kleid und war das Schönste, was sie im Leben je gesehen hatten. Die Bühne in der Blauen Grotte war geschmückt mit Herbstblumen, es wurden Reden gehalten, denn die Zugbrücke in der Altstadt durfte im Film auftreten. Einige der Abiturienten dieses Jahres hatten auch mitmachen dürfen. Einer hatte sogar etwas gesagt! Ach, es dauerte noch so entsetzlich, entsetzlich lange bis zu ihrem Abitur! Vigdis Røising spielte in der Abitursrevue im Film einen Vamp und sang: „Tu viens, tu viens, tu viens, mon chéri? Das haisssst: Kommste mit nach Haus?“, und für den Rest des Herbstes spielten alle Mädchen Vigdis Røising als Vamp.
Jeden Samstagabend gingen sie Nygaardsgata auf und ab und hofften, daß irgend etwas passierte. Die Kinoplakate berichteten von fernen Romanzen und Abenteuern, „Gefährliche Küste“ in Neuseeland und „Alt-Heidelberg“ mit Ann Blyth und Edmund Purdon, über die Kellnerin, die zu Mario Lanzas Gesang den Prinzen bekam, und jeden Tag gab es ein Bild aus einem Film, auf dem ein Mann eine Frau oder eine Frau einen Mann küßte oder gerade dazu ansetzte. Sie hielten sich in den Armen und sangen sich ins Glück hinein. Aber in Nygaardsgata ging man einfach nur auf und ab, zur Ecke Glade Hjørne, zum Lykkebergparken und wieder zurück, und niemand blieb irgendwo stehen, um sich ins Glück hineinzusingen. Wer das getan hätte, wäre wohl für verrückt gehalten worden.
Die Mädchenclique aus St. Croix ging in einer langen Reihe und lachte. Sie lachten über alles. Sie lachten beim Gedanken an Muldvigs große Füße und über den Hintern eines Polizisten, sie lachten über Hespa, der in der Deutschstunde an die ganze Klasse Lakritzscheiben verteilt hatte, und über diesen Gravdahl, der vor der Konditorei Krabseth stand und wie eine Giraffe aussah. „Hallöchen, Gravdahl“, sagten sie. „Was liest du denn gerade, Gravdahl?“ – „Was ich lese, ist nicht für die Wiedergabe an kleine Spatzenhirne geeignet“, sagte Gravdahl. Und dann lachten sie darüber. Sie lachten so sehr, daß sie in der Tiefe der Konditorei Zuflucht suchen mußten. Da standen sie Schlange und lachten darüber, daß sie jetzt Schlange standen, weil sie so gelacht hatten, und dann lachten sie darüber. Als sie wieder nach draußen kamen und Arm in Arm weitergingen, entdeckten sie plötzlich eine Gruppe von Mädchen, die ihnen Arm in Arm lachend entgegenkamen. Das war die Mädchenclique aus Trara. Sie stießen zusammen, starrten den Mädchen aus der anderen Schule ins Gesicht und lachten. „Wo wollt ihr denn hin?“ fragte St. Croix. „Zum Lykkebergparken und da kehrtmachen“, antwortete Trara. „Und wo wollt ihr hin?“ – „Wir wollen bis Glade Hjørne und dann kehrtmachen.“ Und nachdem das gesagt war, lachten sie noch mehr, kringelten sich vor Lachen, und dann mußte die Clique aus Trara in der Tiefe von Krabseths Konditorei verschwinden.
Alle in der Klasse hofften auf jemanden. Lillian hoffte auf Svend Akselsen aus ihrer Klasse. Er war süß. Nina hoffte auf Konrad Olesen aus der 2. Er war intellektuell. Astrid hoffte auf Leif. Astrid kriegte immer den, auf den sie hoffte. Sie konnte einfach draußen auf dem Schulhof stehen, und plötzlich hatte sie den, auf den sie gehofft hatte, selbst wenn sie vorher noch nie mit ihm ein Wort geredet hatte. Inger begriff nicht, wie sie das machte. Astrid hoffte jetzt auf Leif und kriegte ihn sofort. Liv hoffte auf einen, dessen Namen sie nicht verraten wollte. „Er ist jedenfalls nicht hier“, sagte Liv. Und Inger, auf wen hoffte sie? „Nach wem bist du verrückt, Inger?“ fragten die Mädchen. Also beschloß sie, auf Sigvart Jespersen aus ihrer Klasse zu hoffen. Der hatte sie einmal gegrüßt.
Das geschah, als ein Fakir in die Stadt gekommen war, der von einer langen Stange, an der er mit einem Seil um das eine Bein festhing, in eine brennende Wassertonne springen wollte. Ganz Fredrikstad versammelte sich in einem großen Kreis, um ihn in der Tonne verschwinden zu sehen. Da kam Sigvart mit seinem grünen Fahrrad und seinem weißen Hemd und hielt vor ihr an. Er war dunkel und hübsch, und sein Hemd stand am Hals offen. „Morning!“ sagte er. „Hast du schon die Rechenaufgaben gemacht?“
Das konnte Inger nicht vergessen. Danach ließ der Fakir sich in die Tonne fallen, so daß das Wasser nach allen Seiten spritzte und die Flammen erloschen. Und er brach sich dabei nicht das Genick, verbrannte nicht und ertrank auch nicht, sondern kam triefnaß wieder zum Vorschein. „Nur Tricks“, sagte Sigvart. Dann fuhr er weiter. Am Ende konnte Astrid aus Inger herauslocken, auf wen sie hoffte.
Eines Abends waren Astrids Eltern ausgegangen. Jetzt kam es darauf an. Astrid warf ihre Mähne zurück und griff zum Telefonhörer. „Ich ruf’ ihn an“, sagte sie. Inger stand neben ihr. „Nein, laß das! Du spinnst doch!“
Aber das war für Astrid kein Hinderungsgrund. Sie suchte die Nummer im Telefonbuch, tippte mit ihrem langnagligen Zeigefinger auf J und fand die Nummer 1215. Sie wählte. Inger hörte es klingeln, hörte jemanden abheben, hörte seine Stimme. „Bei Direktor Jespersen“, sagte seine Stimme. O nein, o nein! „Hallo!“ sagte Astrid. „Hier ist Astrid.“ Einen Augenblick schwieg er. Dann sagte er: „Astrid aus unserer Klasse?“ – „Ja. Ich hab’ nur kurz eine Frage. Bist du verrückt nach Inger?“ – „Nach was für einer Inger?“ – „Inger Holm natürlich.“
Stille folgte. Dann hörten sie sein Jungenlachen. Das war’s.
Ach, war das blöd. Inger bereute. Natürlich war er nicht verrückt nach ihr. Sie hätte es niemals zulassen dürfen. Astrid fragte: „Kommst du Samstagabend in die Stadt?“
„Wann denn?“
„Gegen sechs, im Kirkepark“, antwortete Astrid und legte auf, ehe er etwas sagen konnte. „Die Sache ist im Kasten“, sagte sie, warf ihre Mähne zurück und verdrehte die Augen. „Jetzt ist er verkauft.“
Oben in Fergestedsveien, an der Ecke, wo das neue Zentralkrankenhaus gebaut wurde, lag ein gelbes, altes, langes, schmales Holzhaus mit spitzen Giebeln und weißen Gesimsen. Es war das seltsamste Haus von Fredrikstad. Es lag in einem großen verwilderten Garten mit hohen Laubbäumen und Stachelbeerbüschen und Wiesenkerbel. Das Haus sollte abgerissen werden. Es gab kein schöneres Versteck. Hierher kamen sie gefahren und fanden den Weg zum Dachboden. Dort war es ganz dunkel, oder wenigstens fast, und bald waren sie ein einziges Gewirr von Armen und Beinen und Brettern und Pullovern und Spinngewebe und heißen Wangen, die sich im Staub aneinanderpreßten.
Inger spürte Jungenarme um sich und einen nassen Mund. Ob das Sigvart war? Jetzt wurde geseufzt, und um sie herum wurde es sehr still. Ein einzelnes Brett meldete sich aus einer Ecke. „Ne, verflixt! Mach jetzt kein’ Scheiß!“ hörte sie irgendwo unter dem Dachfensterchen. Vereinzeltes Kichern. Dann war es wieder still. Doch, es war Sigvart. Er war groß und warm, atmete schwer, als er seine Wange an ihre preßte, seine Jacke war kalt, wo sollte sie ihn anfassen? Inger legte die Arme um seinen Nacken, spürte den heißen Atem in der kühlen Dachbodenluft, preßte ihre Wange ganz still an seine. Ob er mich jetzt liebt?
So fand der jüngste Jahrgang der Gelben Anstalt Auslauf für seine Sehnsüchte. Später suchten sie sich Büsche und Sträucher, Wiesen und Luftschutzräume, sie gingen in Keller und Verschläge, Scheunen und Bretterlager, in den Kohlenschuppen im Hafen, hinter den Bretterzaun bei der Tankstelle und sogar ans Flußufer, wo niemand sie sehen konnte, solange die Kapitäne der Schlepper Per und Thor nicht losfuhren und sich zum Land umsahen. In der ganzen Stadt gab es keinen Winkel, den sie nicht kannten. Wie wilde Katzenjunge suchten sie Wärme an allen kalten, zugigen Stellen, die es gab.
Sie kamen aus neugebauten Einfamilienhäusern auf Karivoll und alten Villen in Bjørnedalsveien, aus großen modernen Wohnungen unten in der Stadt und vornehmen Häusern in Cicignon. Sie hatten ein eigenes Zimmer, Wohnzimmer, Keller und Dachboden. Aber jetzt standen sie auf dem Dachboden in Fergestedsveien 8 und erwiesen auf ihre ganz besondere Weise dem seltsamen alten abbruchreifen Haus die letzte Ehre.
„Jetzt bin ich verliebt“, schrieb Inger in ihr Tagebuch, mit großen, ernsten roten Kugelschreiberbuchstaben. „Zum erstenmal in meinem jungen Leben.“ Sie träumte sich in die Tagebuchseiten hinein. Dort sah sie eine Zukunft mit Sigvart. Sie würden in der Sonne am Strand liegen und über ihre Hochzeitsreise und ihr Glück diskutieren. Abends würden sie dort im Mondschein auf den Felsen sitzen und sich umarmen und zueinander „ich liebe dich“ sagen. Und wenn es ein Junge würde, dann sollte er Klein-Sigvart heißen.
Auf dem Schulhof redeten sie nie miteinander. Auch beim Knutschen sprachen sie im Grunde nicht miteinander. In den Pausen gab es keinen Kontakt zwischen Jungen und Mädchen. Die Klassen 1 und 2 durften den Schulhof nur verlassen, wenn sie eine Freistunde hatten oder zur Gymnastik zum Tolbodplassen hinübermußten. Nach der Gymnastik trödelten sie im Sjømannspark herum. Dort gab es ein kleines Becken mit einer Amorfigur in der Mitte. Die Jungen standen neben dem Becken und betrachteten die Figur. Sie hatten sie genau da mit einem herbstgelben Ahornblatt dekoriert. Wenn die Mädchen vorbeikamen, sangen sie: „Sie trug ja nur ein Feigenblatt.“ Das war die Traraversion von „Cherry pink and apple blossom white“. Sigvart blinzelte zu Inger herüber und lachte. Das war ihr Gespräch.
Sigvart war hübsch und einer der sportlichsten Jungen in der Klasse. Seltsam, daß er gerade mit ihr knutschen wollte. Astrid fragte ihn danach. Astrid traute sich alles mögliche. Und jetzt fragte sie, warum er Inger mochte. „Sie ist nicht so blöd in der Birne“, antwortete Sigvart. Ihm gefiel, was sie im „Radiergummi“ schrieb. Kleine Glossen, in denen sie alles und alle durch den Kakao zog. Das fand Sigvart witzig. „Ach, das hat er gesagt?“ fragte Inger. Dann war er ja vielleicht auch nicht so blöd in der Birne.
Weihnachten rückt näher. Inger und Lillian wenden ihre Gesichter dem hellen Winterhimmel zu und schmecken die Luft und hoffen. Wird es Eis geben? Es kribbelt in ihren Beinen, in Knien und Füßen, sogar im Stahl der Schlittschuhe, die sie anziehen wollen, scheint es zu kribbeln. Nichts auf der ganzen Welt kribbelt so wie der Gedanke, zum erstenmal die Schlittschuhe zuzubinden, die langen Schnürsenkel strammzuziehen, kannst du mal eben festhalten? und dann die ersten Schritte über das Eis auf dem St. Croix plass zu machen.
Lillian ist verrückt nach Svend. Sie sagt, wenn sie ihn sieht, kribbelt es in ihrem Kopf so wie beim Schlittschuhlaufen in ihren Beinen. Er hat blonde Locken und verkauft nachmittags in einem Tiergeschäft in Asylgaten Fische und Wellensittiche. Jeden Tag geht Lillian in den Laden und kauft für ihre Wellensittiche einen Hirsekolben. Wenn in der A-Klasse in den Erdkundestunden Hirsekörner erwähnt werden, sehen Lillian und Svend einander an und werden rot. Svend hat sich im Wald auf Karivoll eine kleine Bretterhütte gebaut, da wohnt er. Dort sitzen er und Lillian in diesem Winter und umarmen sich. Ab und zu kommt auch Inger mit. Sie haben auf einem Kasten eine kleine Kerze stehen. Und irgendwer rumort draußen herum. Das ist Sigvart, er kommt und nimmt Inger in den Arm. Aber bei ihm kribbelt es nicht im Kopf.
Lillian und Svend sitzen und knutschen und reden. Sigvart und Inger knutschen nur. Niemand fragt, ob es in Sigvarts Kopf kribbelt. So etwas kann man auch nicht fragen. Vielleicht weiß Sigvart nicht, was Kribbeln ist? Oder vielleicht ist er damals gekommen, weil er von Astrid kribbelt?
Zwei Wochen später machen sie Schluß.
Manchmal kommt auch Beate auf die Schlittschuhbahn. Sie läuft nicht besonders gut. „Ich war sehr oft hier“, sagt Beate. „Schon auf der Volksschule.“ Das findet Inger komisch, sie hat Beate nie gesehen. „Aber ich euch“, sagt Beate.
Es ist ein seltsamer Gedanke, daß Beate in all diesen Jahren irgendwo in der Stadt gewesen ist, ohne daß sie sich gekannt haben. Daß sie sogar hier gewesen ist, auf dem St. Croix plass, daß sie einander vielleicht im Laufen gestreift haben und daß sie nicht gewußt hat, daß es Beate war.
Aber Beate kommt nie mit auf den Dachboden oder in Svends Bretterhütte, sie muß immer früh nach Hause. „Meine Mutter hat solche Angst, mit mir könnte es so enden wie mit ihr“, erklärt Beate.
Inger und Lillian laufen Schlittschuh wie früher. Sie laufen jeden Tag, egal, ob die anderen kommen oder nicht. Nirgendwo gehören ihnen die Welt und ihre Träume so sehr, wie wenn sie übers Eis sausen. Wenn sie müde werden, legen sie sich auf den Rücken in die Schneewälle um den Platz. Lillian sagt, wenn man liegt, ehe es dunkel wird, dann kann man den ersten Stern sehen. Inger und Lillian legen sich in den neuen Schnee und sehen und sehen. Und dort, ganz recht, sehen sie den Stern auftauchen, winzig klein, gelb und fern, hoch über dem Dach der aus Holz gebauten St. Croix-Schule. Er strahlt auf sie herab, einsam und klar.