Читать книгу Oktoberstürme - Gerd-Rainer Prothmann - Страница 6
Оглавление4.
Der Wind hatte schon einen großen Teil der dunkelbraunen Schoten von den Johannisbrotbäumen geweht.
Die Schatten ihrer noch saftig grünen Kronen flossen auf den beigegrauen Hügeln ineinander.
Blätterlos glitzernde Mandelbäume schimmerten wie Drahtplastiken in der Mittagssonne.
Die Feigenbäume zierte noch ein Rüschensaum aus hellgrünen Blättern.
Endlose Reihen abstrakter Flamencoskulpturen.
Dunkle Wolkenfetzen verschatteten kurz die Hügellandschaft und gestatteten der Sonne gleich darauf, wieder alles in einem silbrigen Glanz erstrahlen zu lassen.
Oktober auf Mallorca.
Jan Borsum war im Begriff, ein neues Leben zu beginnen. Mit fünfundfünfzig.
In den letzten Monaten hatte er sich selbst dabei wie einem Fremden zugeschaut. Mit Interesse, sogar mit Neugier, aber ohne wirkliche Anteilnahme.
Zunächst war er plötzlich aus einer sicheren Stellung herausgefallen wie eine Skatkarte beim Mischen aus den Händen eines ungeübten Spielers. Seine arroganten Ignoranz hatte ihn unfähig dazu gemacht, die Situation richtig einzuschätzen. Als er Hartkes Frau Caroline erklärt hatte, dass es wegen der momentanen Spannungen für sie beide keine Chance mehr für eine Fortsetzung ihrer nicht ganz heimlichen Beziehung geben könnte, war er sich sogar noch besonders strategisch vorgekommen. Aber er hatte die vernichtungswütige Energie der plötzlich zurückgewiesenen Frau unterschätzt. Sie ließ ihn fallen. Für Hartke war endlich der Moment gekommen, den Rivalen zu kastrieren. In Bezug auf taktisches Verhalten war er Jan weit überlegen. Er musste nicht lange warten, bis dieser wieder seine Kompetenzen überschritt.
Hartke war im Urlaub gewesen und Jan hatte für kurze Zeit eine Sozialarbeiterin eingestellt, ohne ihn vorher zu fragen. Das war zwar vernünftig im Sinne der Einrichtung, formal aber zweifellos wieder eine Kompetenzüberschreitung.
Als er aus dem Urlaub zurück war, konfrontierte er Jan damit und hatte dessen mögliche Reaktion völlig richtig eingeschätzt. Ungeübt in solchen Situationen, nach Androhung seiner fristlosen Kündigung, hatte er sofort einen Aufhebungsvertrag unterschrieben. Mit einer Galgenfrist von einem Jahr, das nun abgelaufen war. Zunächst hatte er überhaupt nicht gewusst, was er machen könnte.
Nie zuvor war er in eine vergleichbare Lage geraten. Nie zuvor hatte er sich so etwas auch nur vorstellen müssen. Obwohl er ein Jahr Zeit gehabt hatte, sich darauf einzustellen, hatte er völlig irrational auf ein Wunder gehofft. Das natürlich nicht eingetreten war.
Der Gedanke, sich in seinem Alter bei Personalchefs bewerben zu müssen. Möglicherweise einem 15 Jahre jüngeren Wichtigtuer erklären zu müssen, warum er nach 25 Jahren ohne Perspektive aus dem Öffentlichen Dienst ausgeschieden wäre. Dieser Gedanke bereitete ihm Übelkeit. Das konnte er nicht. Und er wollte es auch nicht.
Einen Ausweg schien ein Gastronom zu weisen, in dessen Kneipe Jan viele Jahre lang Hof gehalten hatte. Der hatte ihm erzählt, er würde seine Zelte in Deutschland abbrechen und auf Mallorca ein kleines Luxushotel aufmachen. Seit vielen Jahren redete Wilhelm Sievers davon, was Jan stets nur zum Anlass für sarkastische Pointen genommen hatte. »Warte nur ab«, hatte Wilhelm gedroht, »du wirst vielleicht noch einmal auf mich angewiesen sein.« Jans Lachen hatte damals die ganze Kneipe angesteckt. Ihm gefiel die absurde Vorstellung so gut, dass er Wilhelm nur zum Spaß immer wieder ausgefragt hatte. Der musste nicht lange aufgefordert werden.
»Hier kann man auf Dauer nicht leben. Jeder ist bescheuert, der nicht die erstbeste Gelegenheit ergreift, hier abzuhauen. Die Behörden machen dich fertig. Gewerbeaufsicht, Gesundheitsamt, Ordnungsamt und das Finanzamt natürlich. Bei der kleinsten Aussicht, dass du etwas verdienen könntest, sind die Geier da. Dann kriegst du Auflagen, dass es nur so kracht. Oder du kannst gleich zahlen. Nee, in unserem Land sollst du nichts verdienen. Das wird bestraft.«
»Aber du bist doch ganz gut durchgekommen, bis jetzt!«
»Nur mit Blackbox. Anders geht’s nicht. Gerd Ramseck hat das früh kapiert. Erst hat er seine Schwarzkohle in Immobilien auf Mallorca angelegt und vor drei Jahren ist er ganz auf die Insel gezogen. Er hat so was wie ein deutsches Ärztezentrum aufgemacht. Vom Zahnarzt bis zum Orthopäden. Direkt neben meinem Hotel plant er ein zweites. Nächstes Jahr geht es los. Du könntest da vielleicht mit rein. So was wie Lebensberatung. Überleg’ es dir.«
Wilhelm war ein Spinner. Aber ein unterhaltsamer. Niemand glaubte ihm, wenn er seine weit ausholenden Reden hielt, die immer damit begannen, wie gebeutelt und gequält jeder in Deutschland wäre, der auch nur einen Ansatz von Initiative zeigte. Und wie notwendig es wäre, dieses Land so schnell wie möglich zu verlassen. Da er das aber seit so vielen Jahren erzählte und dieses Land seit sieben Jahren wieder von der politischen Partei mitregiert wurde, die er als Einzige für wählbar hielt, glaubte niemand daran, dass er jemals Ernst machen würde. Aber alle hatten sich getäuscht.
Die ersten Planierungsarbeiten hatten schon begonnen. Jan war selbst dann noch skeptisch geblieben, als Wilhelm stolz die fotografischen Beweise vom Fortschritt der Bauarbeiten in der Kneipe rumreichte.
Und jetzt war er hier tatsächlich gelandet. Auf der Insel, die vielleicht für längere Zeit seine Heimat werden könnte.
Zunächst wollte er sich nur umsehen. Eine Art Vorbereitungsurlaub sollte es werden.
Es war der 1.Oktober 2012. Peinlich berührt hatte er sich in seinem Sitz kleiner gemacht, als die Mehrzahl der Fluggäste die geglückte Landung auf dem Flughafen von Palma de Mallorca beklatschte. Nur den Kindern verzieh er diese Unsitte.
Vom Flughafengebäude ging er hinüber zur Garage. Den bestellten Leihwagen abholen.
Die wartenden Taxifahrer trugen noch kurzärmelige Hemden. Es mussten mindestens 20 Grad sein. Bei fünf war er in Deutschland abgeflogen.
Nach kurzer Suche fand er den Mietwagen. Einen unauffälligen grünen Peugeot. Stellte Koffer und Tasche in den Kofferraum und fuhr los. Richtung Osten. Wilhelm hatte es arrangiert, dass er die erste Zeit bei den Rolands wohnen konnte. In der Nähe von Felanitx.
Als er den Seitenweg in das abgelegene Tal hinunterfuhr, sah er am Hang knapp unter dem grünen Piniensaum des Hügels schon das riesig wirkende Haus.
Eine mallorquinische Finca im Gewand einer toskanischen Villa. Mit zwei Ecktürmen.
Der protzig wirkende Bau passte zwar nicht in die Landschaft aber zu Dirk Roland. Einem Szenezahnarzt mit Pferdeschwanz, dem man auf keiner Gesellschaft entgehen konnte.
Jan war gespannt, ob sich die aufschneiderische Attitüde im Inneren des Hauses fortsetzen würde. Elfi Roland war schließlich Innenarchitektin. Vielleicht hatte sie ja bei der Inneneinrichtung einen gnädigen und mäßigenden Einfluss auf ihren Mann gehabt. Da war sie wieder. Seine gewohnte Arroganz. Die würde er bezähmen müssen. Denn genau mit diesen Leuten würde er es in Zukunft zu tun haben. Von ihnen würde er leben müssen.
Schon jetzt kamen ihm Zweifel, ob er die latente Selbstverachtung, die damit verbunden war, aushalten könnte.
Der Peugeot quälte sich die kaum befestigte Schotterstraße hinauf.
Merkwürdigerweise stand das schmiedeeiserne Gittertor weit offen. Dabei hatte ihm Elfi Roland umständlich erklärt, mit welchem der vielen Schlüssel er das Tor aufschließen müsste.
Als er die letzten beiden Serpentinen des nun mit Beton befestigten Weges hinauffuhr, sah er, dass alle taubenblauen Fensterläden geöffnet waren. Elfi Roland hatte nichts davon erzählt, dass noch jemand im Haus wohnen sollte. Vielleicht war es die Putzfrau.
Während er gerade einen Schlüssel an der Haustür probierte, wurde diese plötzlich von innen aufgerissen. Er schaute in zwei strahlende bernsteinfarbene Augen unter einer fast helmartigen blonden Kurzhaarfrisur.
»Hallo Herr Borsum, ich bin Isabela, willkommen auf der Insel«, sagte sie mit akzentfreier, etwas heiserer Stimme. Sie schenkte ihm ein breites Lächeln ihrer schönen Zähne, die genau in der Mitte durch eine attraktive Lücke geteilt waren.
»Ich wusste gar nicht ...«, stammelte Jan für seine Verhältnisse ungewohnt verwirrt.
»Ich habe heute Morgen zufällig mit Herrn Roland telefoniert«, unterbrach sie ihn, »und dabei erfahren, dass Sie erst einmal hier wohnen sollen. Normalerweise muss ich nur alle vier Wochen nach dem Rechten sehen. Wenn Sie meine Hilfe brauchen, müssen Sie anrufen oder zu uns kommen. Isabela Balke«, stellte sie sich vor.
»Jan Borsum«, erwiderte Jan förmlich, während sie ihm einen Zettel in die Hand drückte. Darauf stand eine Telefonnummer und eine Wegbeschreibung zu einem kleinen Bauernhaus zwischen Manacor und Felanitx.
»So, jetzt zeige ich Ihnen erst mal das Haus«, beschloss sie energisch und ging voraus.
Sie war mittelgroß und hatte eine schlanke sportliche Figur. Über ihren ausgebleichten Jeans trug sie ein weißes Männerhemd, darunter ein braunes Top. Ihre hellbraunen spanischen Stiefel waren völlig ausgelatscht, was die Grazie, mit der sie sich vor ihm bewegte, seltsamerweise noch verstärkte.
Sie zeigte ihm alle Einzelheiten mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre sie hier tatsächlich zu Hause.
Bei dem Rundgang stellte Jan mit Genugtuung fest, dass Elfi Roland sich im Inneren des Hauses offensichtlich umfassend durchgesetzt hatte, und dass sie zu Recht eine erfolgreiche Innenarchitektin war.
In Beton gefasste Kieselsteinböden, helle Marès-Wände, gemauerte Regale. Alle Materialien -viel Stein und Holz- entsprachen dem klaren einfachen mallorquinischen Rustikalstil. Jan hatte selten einen größeren Gegensatz zwischen dem Inneren und dem Äußeren eines Hauses gesehen.
Während er diesem Gedanken noch nachhing, drückte ihm Isabela die Hand, sagte »Auf bald«, ging zu ihrem verrosteten roten R4 und fuhr den Weg hinunter
* * *