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Kapitel 2

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Es war März. Noch wurde es bei Zeiten dämmerig und kühl. Ein Feuer knisterte im Kamin und leiser Teeduft durchzog den Raum. Olivia hatte den Hauptteil des Tages in der London Library verbracht, auf dem Nachhauseweg einige Einkäufe erledigt und auf den letzten Metern vom Bus, die an einer Gärtnerei vorbeiführten, einen Strauß leuchtend gelber Osterglocken gekauft.

Sie lebte in Fulham, nah am Fluss, wo vor hundert Jahren noch kleine Werften und Obstplantagen in ländlichem Miteinander gediehen waren, in einer jener ruhigen Straßen mit der ebenmäßigen Abfolge gleicher Doppelhäuser, die in vielen Stadtteilen Londons zu finden sind. Ihre Großeltern hatten ihr dieses Haus hinterlassen, in der alten Schreinerwerkstatt stand heute ihr Auto und der Apfelbaum hinten im Garten war zusammen mit dem Apfelbaum jenseits der Mauer im Nachbargarten der letzte Zeuge des Obst- und Gemüsefarmlandes ihres Urgroßvaters.

Jetzt saß sie mitten im Wohnzimmer am Boden, die Beine unter ihren sehr weiten, langen Rock gezogen, in einer Flut aufgeschlagener Zeitungsseiten. Todesanzeigen waren auf all diesen Seiten abgedruckt, die meisten englische, rechts neben ihr einige deutsche und österreichische, unterschieden durch ein völlig anderes Layout.

Es klopfte und auf Olivias Ruf hin öffnete Leonard die Tür. Groß, fast hager steckte er in einer alten blauen Cordhose und dem großen irischen Fischerpullover, den er fast den ganzen Winter über zu Hause trug. Sein Gesicht, ebenfalls hager, zeigte erste Ansätze jener Gelehrtenköpfe, die für England und vielleicht für Österreich so charakteristisch sind.

»Schau!« , sie blitzte zu ihm hinauf, »jetzt kannst du selbst sehen, wovon ich neulich sprach: Die Engländer informieren ihre Mitwelt in äußerst kleingedruckten Nachrichten über das Ableben ihrer Angehörigen. In alphabetischer Reihenfolge und in Variationen eines immer gleichen Textes erfahre ich vom Tode von Ehegatten oder Großmüttern – hundert oder erst sechsundfünfzig Jahre alt, gestorben in einem Dorf in Kent oder in Zimbabwe, Handwerker, Professor oder der 20. Baron von irgendwas. Es ist ein für die englische Klassengesellschaft ganz ungewöhnlich demokratisches Verfahren.«

»Tod ist außerordentlich demokratisch.«

»Halte diese Seite einer deutschen Zeitung daneben«, fuhr Olivia fort, »in schwarzgerahmten Feldern unterschiedlichster Größe, mit oder ohne Kreuz, häufig mit einem Bibelzitat, teilt man mit, ob der Genannte unerwartet, nach einem Unfall oder schwerer Krankheit verstorben ist, ob mit oder ohne Sterbesakramente, welchen Beruf er ausgeübt hat, von der Gefasstheit oder Verzweiflung seiner Angehörigen. Hier haben wir es mit einer ungemein persönlichen Theatralik zu tun. Besonders umfangreiche Texte klingen wie ein ferner Nachhall alter Mysterienspiele.«

Leonard trat behutsam in den Raum, dennoch stieß ihn eine Zeitung in den Arm. Sie war auf dem Schirm der Bodenlampe abgelegt. Er nahm sie in die Hand: Todesanzeigen einer Tiroler Tageszeitung.

»Sieh«, machte Olivia ihn aufmerksam, »der Leser erfährt dort ungefähr das gleiche wie in den deutschen Zeitungen, doch in gleich großen, ziemlich gleichgestalteten schwarzgerahmten Feldern, auch die verschiedenen Texte liegen näher beieinander als in den deutschen Zeitungen; dafür bringt jede Anzeige ein Photo des Verstorbenen. Diese unterschiedlichen Traditionen europäischer Nachbarn zeigen die unbeachteten Abgrenzungen und die gewachsene Vielfalt in dem dichten Nebeneinander. In meinem nächsten Essay für die ›Süddeutsche Zeitung‹ werde ich mich endlich einmal damit befassen.«

Sie zog ihre Füße eng an den Körper, setzte sie sorgfältig auf, um in keiner Rockfalte hängen zu bleiben und sprang wie eine losgeschnellte Feder in die Höhe. Auf Zehenspitzen stieg sie anschließend über die Zeitungen zu Leonard. Als er sie eine Weile später aus seinen Armen entließ und sie zu ihrem Platz am Kamin stelzte, entdeckte Leonard etwas ratlos, dass er den ›Tiroler Anzeiger‹ noch immer in der Hand hielt. Ratlos blickte er um sich und legte die Zeitung schließlich mangels Alternative auf den Lampenschirm zurück.

Sein Blick wanderte weiter neugierig durch den Raum: »Warum brauchst du diese Unmenge Londoner Zeitungen? Die Todesanzeigen sehen doch in allen gleich aus. Ich glaube fast, es sind alle Zeitungen, die neben dem Hauseingang lagen und das sind immerhin mehrere Tageszeitungen von fast einem Monat.«

Olivia erzählte ihm von dem Papierwirbel in Lincoln’s Inn und dem Blatt, das sich in ihrem Hut verfangen hatte. Es sei zwingend gewesen, die wundervollen Gedichtzeilen zu sichern und somit das Blatt Papier automatisch in die Tasche zu stecken. Ein halb verschmitzter, halb verlegener Blick flog zu Leonard. Erst zu Hause habe sie entdeckt, dass es sich um den Anfang einer für England höchst ungewöhnlichen Todesanzeige handelte. Und das wiederum hatte sie an dieses schon lange geplante Thema für ihren nächsten Zeitungsessay erinnert.

»Nun ja, und so suchte ich auch nach meiner Lady mit den schönen Versen. Keine Nachricht von ihrem Tod in den letzten vier Wochen.«

»So viel Papier für eine so sparsame Auskunft,« grinste Leonard.

Die beiden hatten es sich vor dem Kamin bequem gemacht und tranken Tee, wie sie es oft am späten Nachmittag taten. Dabei tauschten sie die Ereignisse des Tages aus. Leonard lehrte und forschte an der London School of Economics; er war spezialisiert auf Computer-Simulationsmodelle für Probleme der Entwicklungshilfe. Sein seit Kindertagen lebendiges Interesse für die Wechselwirkungen von Land und Pflanzen und Wetter, später von Geomorphologie, Vegetation und Klima hatten hier die Möglichkeit gefunden, persönliches Wissen in konkrete Hilfe zu verwandeln. Oft erzählte er Olivia von dem Fall, für den er gerade eine Lösung suchte.

Heute jedoch blieben sie bei den Todesanzeigen, was angesichts der Papierflut um sie herum kaum anders möglich war. Und bei dem Gedicht. Leonard horchte den Versen, die Olivia seit dem Morgen nicht mehr aus dem Sinn gingen, nach.

»Darf ich das Blatt einmal sehen?«

Olivia gab es ihm.

»Lady Gaynesford. Deren Todesanzeige hast du gesucht? Ist es möglich, dass du nie etwas von Victoria Gaynesford gehört hast?«

Olivia schüttelte so lebhaft den Kopf, dass ihre Haare flogen, dunkelbraun, sehr kräftig und zwei Fingerbreit über den Schulten zu einer geraden Kante geschnitten, hatten sie die entgegenkommende Eigenschaft, fast immer in nahezu vollständiger Glätte wieder zur Ruhe zu kommen.

»Aufgewachsen ist sie auf den Plantagen ihres Vaters irgendwo in Lateinamerika,« grub Leonard in seinem Gedächtnis. »Sie hat sich früh für indianische Kulturen interessiert und wurde dann Bildhauerin. Sie muss heute an die achtzig Jahre alt sein. Du kannst dir vorstellen, wie viele Skandale sich um die englische Lady rankten, die bei indianischen Künstlern gelebt hatte, um die Bildhauerei zu erlernen. Auf der anderen Seite versuchten verschiedene Frauenbewegungen sie für sich zu gewinnen. Aber Victoria Gaynesford entzog sich allen Zeitströmen und Moden. Dennoch: Als Künstlerin verschaffte sie sich im Laufe der Jahre Respekt, Arbeiten von ihr waren wohl in bedeutenden Ausstellungen zu sehen. Aber das müsstest du nachschlagen. Jedenfalls genießt sie heute allgemeine Anerkennung.«

»Hast du je Skulpturen von ihr gesehen?«

»Eher nein. Aber wenn ich mich richtig erinnere, war ihr zentrales Thema immer der Mensch. Ich glaube mich an Photos zu erinnern: Gesichter, die starke Emotionen ausdrücken, kleine Figuren bei irgendwelchen Tätigkeiten. So in der Richtung.«

»Das ist ja spannend!« entfuhr es Olivia. »In der Hochphase der abstrakten Skulptur beschäftigt sie sich mit dem Menschen, ganz konkret. Das allein mag schon Aufsehen erregt haben – wo lebt sie heute? Weißt du das zufällig?«

»Zufällig ja, in Buckinghamshire. Den Namen des Dorfes habe ich allerdings vergessen,« fügte er entschuldigend hinzu. »Ich bilde mir ein, dass dort Ende März mehrere ihrer kleinen Figuren versteigert werden sollen, ich glaube, im Rahmen eines Wohltätigkeitsbazars, und dass sie aus diesem Anlass selbst anwesend sein wird – es stand in einem Kunstmagazin, das bei Arthur herumlag.«

»Du warst vor wenigen Abenden bei ihm, nicht wahr? Oh bitte, ruf ihn an und frage ihn nach dem genauen Datum.«

»Jetzt gleich?«

»Ja, bitte! Ich muss es unbedingt wissen! Und heute ist die Wahrscheinlichkeit, dass er das Magazin noch hat, größer als morgen. Bitte!« Sie hielt inne.

»Leonard, bist du sicher, dass die Zeitschrift neu war? Ich frage das nur wegen der Todesanzeige.«

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