Читать книгу Greystone Manor - Gerda M. Neumann - Страница 8
Kapitel 3
ОглавлениеLeonards Freund Arthur hatte die genauen Angaben gefunden und sie betrafen das laufende Jahr: Copper Hill in Buckinghamshire, 30. März, 15.00 Uhr im Gemeindesaal.
Olivia fühlte sich so kribbelig, als wäre sie im Begriff, etwas völlig Ungewöhnliches zu tun, was wirklich nicht der Fall war. Schrieb sie doch seit nunmehr vier Jahren regelmäßig für die ›Süddeutsche Zeitung‹ über Interessantes, Skurriles, Ungewöhnliches, das ihr in und um London herum auffiel. Die heutige Unternehmung ließ sich mit einem guten Aufhänger ohne Schwierigkeiten zu einer ›Londoner Skizze‹ verarbeiten. Andererseits machte man sich nicht alle Tage auf den Weg, einen Menschen kennenzulernen, dessen Todesanzeige sich im eigenen Hut verfangen hat. Auch gab einem dieser Umstand nicht selbstverständlich das Recht, ein Papier in die Manteltasche zu schieben, das noch gebraucht wurde. Die erschrockene Sekretärin hatte die Verse gewiss nicht auswendiggelernt, bevor sie sie unbedacht dem Wind überlassen hatte. Und was sollte sie nun abschreiben?
Entschlossen stand Olivia auf, schraubte die Marmeladengläser zu und trank den letzten Schluck warmen Kaffee. Sie hatte oft genug darüber nachgedacht. Das Blatt Papier lag noch immer auf ihrem Schreibtisch und da blieb es jetzt auch.
Als sie den schmalen gewundenen Gartenweg zur Garage hinunterging, wusste sie, was sie als erstes mit diesem herrlichen Samstagvormittag anstellen konnte: London im Frühling war nirgendwo schöner als im Regent’s Park. Sie liebte die weiße Prachtentfaltung des frühen 19. Jahrhunderts, in der noch die klare Linienführung des 18. Jahrhunderts fortlebte: Queen’s Gate, durch die Weite des Hyde Park nach Sussex Gardens und durch York Gate hinein in den Regent’s Park. Die Nash Terraces erstreckten sich so weit das Auge ihnen folgen konnte, davor schmale Grünanlagen, abgeschlossen von hohen, schwarzen, schmiedeeisernen Gittern und an der Straße entlang das Rosa der blühenden Kirschbäume. Langsam folgte sie der Straße, bis der Kreis sich wieder schloss. Sie steuerte zum inneren Zirkel des Parks und fuhr Runde um Runde, bis sie sich so einverstanden mit der Welt um sich herum fühlte, dass sie, nun wieder recht tatendurstig, diese friedvolle Oase verließ. Auf der A40 fuhr sie nach Westen aus London hinaus.
Unmittelbar hinter High Wycombe bog sie von der Hauptstraße ab. Die gewundenen Straßen der Chiltern Hills nahmen sie auf. Die Täler waren hier enger und die Hänge steiler, als man es von der Landschaft Südenglands im allgemeinen erwartete. Olivia sah große Schafherden grasen. Weit zog sich der Wald die Hügelkuppen hinauf. Wo das Land weniger steil war, erkannte sie hinter den noch unbelaubten Hecken die charakteristischen Balkenzäune der Pferdekoppeln. Die Häuser der kleinen Dörfer, durch die sie kam, waren zumeist aus roten Ziegelsteinen gebaut, die älteren vorwiegend aus Flint. Sie mochte beides nicht besonders, es wirkte leicht düster. Ihr kamen Geschichten in den Sinn, die ihre Großmutter ihr als Kind erzählt hatte: von den Räubern, die in den Buchenwäldern der Chiltern versteckt lebten, so ähnlich wie im Märchen von den Bremer Stadtmusikanten.
Der Gemeindesaal von Copper Hill war ein Ziegelsteinbau der spätviktorianischen Zeit. Die schmalen hohen Fenster auf beiden Längsseiten liefen oben spitz zu und erinnerten an Kirchenfenster. Olivia lehnte in der hintersten Fensternische und schaute hinaus auf den Platz vor dem Gemeindesaal: Er war von einer ebenfalls roten Mauer zur Straße hin abgeschlossen, beschattet von zwei gewaltigen Buchen und umstanden mit zahlreichen grünen Bänken. Durch die gegenüberliegenden Fenster fiel der Blick ins Freie auf weich dahin rollendes Weideland.
Inzwischen war es draußen wie drinnen ziemlich belebt, die meisten der Anwesenden schienen einander zu kennen und das Stimmengewirr verbreitete die fröhlich-geschäftige Atmosphäre, die Wohltätigkeitsveranstaltungen zu eigen war. Hier wurde sie von einigen Fremden durchkreuzt, Galeristen und Sammlern zumeist, die sichtlich distanziert, geschäftsmäßig und ein wenig ungeduldig eine störende, wenn auch gänzlich unbedeutende Dissonanz in die allgemeine Vertrautheit brachten. In der ersten Reihe saß seit kurzem der Pfarrer, hager, mit einer offenbar schwer zu bändigenden Fülle grauer Haare und einem wachen Blick unter den grauen buschigen Augenbrauen, die ihn beinahe listig wirken ließen. Er mochte ungefähr sechzig Jahre alt sein wie auch die etwas rundliche und ungemein herzlich wirkende Frau neben ihm. Die anderen Paare in der ersten Reihe hatten sich bequem zurechtgesetzt und ließen nur gelegentliche Bemerkungen zu ihren Nachbarn fallen, so dass Olivia ausschließlich ihre Rückseite studieren konnte.
Ein Gentleman mit einer Art hölzernem Koffer in den Händen trat zum Pfarrer, untadelig in jeder Hinsicht, der graue Anzug, der Schnitt der braunen Haare, die etwas steife Haltung und das fast unbewegte Gesicht; dabei nicht unsympathisch. Er wurde herzlich und wortreich begrüßt. Ein eifriger junger Mann stieß zu ihnen. Nach kurzem Hin und Her übernahm er den Holzkoffer, trug ihn zu dem vorn aufgestellten Tisch und stellte sieben Figuren daraus äußerst behutsam nebeneinander auf den dicken grünen Filz. Im Raum wurde es allmählich still. Die Besucher schauten die Figuren an, um derentwillen sie unter anderem hergekommen waren, und die Figuren, so erschien es zumindest Olivia, schauten die Besucher an. Zwei von ihnen waren aus Ebenholz, aufrecht stehend jede mit einem Buch in der Hand, die eine tief in Gedanken, die andere heiter und nahezu mitteilsam. Die übrigen fünf Gestalten zeigten eine so glatt polierte Oberfläche, dass Olivia aus ihrer Entfernung das Material nicht erkennen konnte. Sitzend oder kniend ruhten sie in sich und ihre Gesichter spiegelten unterschiedliche Emotionen. Eine dieser Figuren berührte Olivia außerordentlich, eine Frauengestalt, die nach langem Nachdenken nun den Entschluss zum Handeln gefasst zu haben schien, von sich selbst überrascht.
In der Nähe wurde leise eine Tür geöffnet und wieder geschlossen und Olivia dadurch von den Figuren abgelenkt. Eine stattliche Dame, gekleidet in ein Ensemble aus fließend schilfgrüner Seide, war eingetreten, auf den hochgesteckten weißen Haaren ruhte eine leichte Kopfbedeckung aus Federn und einem dunkelgrünen Schleier, eine Halskette und Ohrringe aus grüner Jade vervollständigten den Eindruck kultivierter Eleganz. Leicht auf einen schwarzen Stock mit Silberknauf gestützt streifte ihr Blick über die Reihen aufmerksam nach vorn schauender Menschen, verweilte kurz auf Olivia und verfolgte mit gleichmütigem Interesse die Versteigerung der Figuren. Olivia hingegen war so vollständig gefangen, dass sie den Ablauf im Saal nur noch von Ferne wahrnahm. Sie fand es wirklich schwierig, den Blick wenigstens manchmal von dieser Frau abzuwenden, die in einer perfekt gelassenen Haltung dastand, als wäre sie selbst ein Kunstwerk: In gemessener, emotionsloser Distance zu den umgebenden Menschen wie Ereignissen, kontrolliert bis in die kleinste Bewegung, bot sie ein Musterbeispiel für das Auftreten der englischen Oberschicht. Und doch wob etwas Fremdes um sie, etwas nicht Hierhergehöriges, jederzeit zum Aufbruch bereit, am Ort gehalten durch die Augen, deren aufsaugende Teilnahme die formale Gelassenheit eigentümlich kontrastierte. Sie musste es sein, ›ihre‹ Lady mit den schönen Versen.
Applaus brach die Stille des Raumes auf und das Bild der Lady bewegte sich, zeigte ein freundliches Lächeln und schritt nach vorn, von wo der Pfarrer ihm aufgeräumt entgegensah. Verhaltenes Räuspern, Stühle rücken und zunehmend lauter werdendes Murmeln wiesen Olivia darauf hin, dass die Versteigerung vorüber war, ohne dass sie irgendetwas mitbekommen hatte.
Der Pfarrer begrüßte Lady Gaynesford, stellte sie den Anwesenden vor und bedankte sich für ihre großzügige Gabe. Der Erlös der Versteigerung sei so weit über alle Erwartungen hinausgegangen, dass er der Künstlerin ein leuchtender Beweis ihrer Fähigkeiten und Berühmtheit sei. Für das Erziehungsprojekt auf Yukatan in Mexiko, dessen Patenschaft er und seine Gemeinde sich vor nunmehr fünfzehn Jahren verpflichtet hätten zu übernehmen, reiche der Betrag weiter in die Zukunft als ihre gegenwärtig ausgearbeiteten Pläne. Leises Gelächter hier und dort und einhelliger großer Applaus setzten den Schlusspunkt. Stühle scharrten, das Murmeln schwoll zu Stimmengewirr, wiederholt zuckten Blitzlichter der örtlichen Presse und von der Tür fand gelegentlich ein kühler Luftzug seinen Weg in den überheizten Raum – das normale Durcheinander der im Grunde geordneten Auflösung einer größeren Versammlung.
Lady Gaynesford hörte viele Komplimente und schüttelte noch mehr Hände, ebenso der Pfarrer. All den verschiedenen Prozeduren zuschauend bewegte Olivia sich allmählich nach vorn, als die alte Dame sie plötzlich zu sich heranwinkte. Automatisch schaute sie hinter sich, doch da war wirklich niemand mehr. Überrascht trat sie näher.
»Meine Liebe, Pfarrer Wotheridge und seine Gattin begleiten mich zum Tee. Darf ich Sie bitten, sich uns anzuschließen?« Die Frage war so einladend wie definitiv und wenig später fand Olivia sich in dem weichen Rücksitz eines Bentley aus Copper Hill hinaus rollen. Hohe Hecken beiderseits der Straße ließen die Welt zurücktreten und bald bog der Wagen durch ein großes Tor in einen gepflasterten Hof ein. Durch eine Art Säulengang, der den Blick auf Rasenflächen und Taxusbüsche freigab, führte Lady Gaynesford ihren Gast, von dem sie jetzt immerhin den Namen wusste, ins Haus und in einen Salon, durch dessen große Glastüren auf beiden Seiten man ebenfalls in den Garten schauen konnte. Der Raum war in einem sehr hellen, ruhigen Gelb gestrichen. Auf den alten Holzdielen lag ein dicker, einfarbiger Teppich in dunklem Terrakotta. Die zahlreich herumstehenden Sessel waren mit einem dezent gelbweißgestreiften Stoff bezogen und überall, einfach überall, auch auf Sitzpolstern und am Boden lagen Kissen in allen denkbaren Schattierungen zwischen hellem Gelb und dunkel gebranntem Ton. Die Kaminumrahmung auf der einen und die alte reichgeschnitzte Anrichte auf der gegenüberliegenden Seite, beide aus dunkler alter Eiche, bildeten einen fast graphischen Kontrast zu den Farben. Große Pflanzen vor und hinter den Glastüren lösten die Begrenzungen des Raumes gleichsam auf.
Olivia trat an eine der Türen und sah hinaus in den Garten. Über die mit grauen unregelmäßigen Natursteinen gepflasterte Terrasse wurde der Blick in einen Gang gezogen, der aus parallel gepflanzten, zu Obelisken geschnittenen dunklen Taxusbüschen bestand, so dicht beieinander, dass sich die Illusion eines Ganges dem Auge darbot und doch so weit voneinander, dass der Blick ins Weite ausschweifen konnte, sobald der Betrachter etwas zur Seite trat. Am Ende dieses friedvoll gemessenen Stückes Natur saß ein großer Jaguar. Aufgerichtet auf die Vorderbeine, den mächtigen Kopf leicht vom Betrachter abgewandt, schien die Konzentration des Tieres auf eine Bewegung außerhalb der Taxusbüsche gerichtet; noch war seine Haltung entspannt. Gearbeitet war die Figur aus grünem Naturstein, so glatt geschliffen, dass er das Licht des hellen, fast weißen Frühlingshimmels aufnahm und sich dadurch der Eindruck der Lebendigkeit verstärkte.
»Dieser Jaguar im Osten verkörpert den Morgen,« unterbrach Lady Gaynesford die Stille. Olivia verstand sie sofort: Der erwachende Tatendrang, die Versammlung aller über Nacht erfrischter Energie teilte sich ganz unmittelbar mit.
»Und jetzt schauen Sie einmal aus der gegenüberliegenden Tür, nach Westen.«
Olivia durchquerte den Raum und sah sich einem fast spiegelgleichen Taxusgang gegenüber, an dessen Ende eine Jaguarfigur in großer Ruhe lag , die Beine unter den Körper gezogen, den Kopf noch leicht erhoben, doch bereits mit dem Ausdruck entspannten Friedens.
»Wie schön sie sind!« Olivia wandte sich zu Lady Gaynesford zurück und begegnete zwei sehr aufmerksamen Augen.
»Setzen wir uns, liebe Miss Lawrence. Ich werde mich dort ans Feuer setzen, etwas Wärme kann ich jetzt ganz gut vertragen. Und Sie wählen bitte den Platz, der Ihnen am meisten zusagt.«
Olivias Blick flog über die Farbenpracht der Kissen. Sie wählte einen Sessel Lady Gaynesford gegenüber, jedoch so weit zur Mitte des Raumes verschoben, dass sie, wenn sie wollte, ein wenig in den Garten hinausschauen konnte.
»Erzählen Sie mir von sich. Es würde mich freuen.«
Olivia sah zu Lady Gaynesford hinüber, die bequem angelehnt und gleichzeitig sehr aufrecht in ihrem Sessel saß und mit demselben aufmerksamen Blick auf ihren Gast sah wie zuvor.
»Mein Hauptberuf ist Übersetzerin. Ich übersetze Literatur aus dem Englischen ins Deutsche, Kurzgeschichten, gelegentlich einen Roman, vor allem aber Lyrik. Zurzeit erlaube ich mir eine Ausnahme in umgekehrter Richtung, ich bin mit Schillers ›Die Räuber‹ beschäftigt, die ich für eine Theatergruppe im East End neu übertrage.«
»Aber davon kann man nun endgültig nicht mehr leben…?«
»Nein, das kann man nicht. Diese Übersetzung habe ich auch nur übernommen, weil ich mich mit den Leuten gut verstehe und weil es Schiller ist. Schiller in England etwas bekannter zu machen, rechtfertigt einigen Aufwand; und mit dem Theater habe ich mich seit Kindertagen immer wieder eingelassen – aber mein Leben bestreite ich eher von dem Geld, das ich durch Übersetzungen in der Industrie bekomme oder für große Artikel aus deutschsprachigen Zeitungen, übersetzt für englische Blätter. Und seit vier Jahren habe ich eine feste Reihe in der ›Süddeutschen Zeitung‹ in München.«
»Was für eine Reihe ist das?«
»Ich berichte alle vierzehn Tage über etwas, das mir in London als interessant und eigen auffällt; eigen in dem Sinne, dass es in dieser Form nur in London, nicht aber beispielsweise in Wien geschieht. Das kann eine Ausstellung oder Theaterinszenierung sein, ein besonderer Schulversuch oder eine Initiative zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, ein unbekannter junger Künstler oder die Sanierung im East End, es kann aber auch ein bizarrer Brauch sein. Wichtig ist, dass es ›englisch‹ ist, d.h. den speziellen Weg oder die individuelle Sicht dieses Landes im Gegensatz zu seinen europäischen Nachbarn vor Augen stellt. Ich möchte berichten, was anders, möglicherweise auch fremd ist.«
Der aufmerksame Blick ruhte weiterhin auf Olivia. »Wollen Sie die verschiedenen Welten vermitteln?«
Olivia zögerte mit der Antwort. »Eher nein. Vermitteln wäre ein politischer, wohl auch sozialer Vorgang. Literatur, im Glücksfall auch mal ein Zeitungsessay, stoßen Gedanken im einzelnen Leser an. In der Summe können sie sein Handeln beeinflussen; ihre Wirkung bleibt aber doch sehr indirekt.«
Das Ehepaar Wotheridge traf ein und damit wurde das Gespräch unterbrochen. Noch äußerst angeregt von den vorangegangen zwei Stunden begann der Pfarrer sofort über die Versteigerung zu reden. Eine Frau mittleren Alters in dezenter Kleidung brachte währenddessen eine Kanne mit heißem Tee herein und stellte sie auf der Anrichte ab. Olivia sah erst jetzt, dass dort einige kleine Schalen mit Gebäck vorbereitet waren, daneben stand das ungewöhnlichste Teeservice, das sich denken ließ. Jede Tasse zeigte ein Gesicht, jedes in einer spezifischen Stimmung; Augen, Nase, Mund, womöglich die Ohren waren erhaben gearbeitet und mit schwarzer und weißer Farbe klar hervorgehoben. Die Grundfarbe war ein sehr helles warmes Terrakotta, die Innenglasur war weiß.
Während Pfarrer Wotheridge weiter sprach, setzten sie sich zu einer gemütlichen Runde. Die Frau, die den Tee hereingebracht hatte, verteilte kleine Tischchen neben jeden Sessel und stellte jeweils ein Gebäckschälchen dazu. Sie goss den Tee in diese ungewöhnlichen Tassen und brachte sie zu den einzelnen Tischchen, bevor sie den Raum verließ. Der Tee war so heiß, dass er noch immer dampfte. Die Tassen wirkten mit ihren Gesichtern wie kleine Geister, die sich in diese Gesellschaft gestohlen hatten; da sie nachdenklich bis heiter schauten, waren sie angenehm. Der eine oder andere dampfende Geist wurde aufgenommen und behutsam der erste heiße Schluck versucht. Das Gespräch bekam Pausen, während man dem Gebäck die Ehre erwies. Manchmal streifte ein neugieriger Blick von Mrs Wotheridge Olivia.
»Mein junger Gast,« ergriff Lady Gaynesford das Wort, »ist Journalistin und schreibt regelmäßig für eine deutsche Tageszeitung über das Besondere und Absonderliche unserer Hauptstadt.«
»Nein! Völlig unmöglich!« entfuhr es Mrs Wotheridge.
»Aber warum denn?«
»Also, Journalisten sind niemals so schweigsam. Sie reden doch am liebsten selber. Und neugierig sind sie und drängen sich in alles hinein und wollen immer Dinge wissen, die sie gar nichts angehen – und dann sehen Sie gar nicht so aus, nehmen Sie mir das bitte nicht übel. Aber Journalistinnen tragen immer Jacketts, so wie die Leute in der City. Enge Röcke und Jacketts – nur nicht schwarz wie die Bankleute, sondern eher farbig und überhaupt…«
»…überhaupt…«
»Und überhaupt,« antwortete die Pfarrersgattin jetzt wieder etwas beruhigt, »würde Lady Gaynesford niemals eine Journalistin in ihr Haus lassen.«
»Sehen Sie, das ist eben das Interessante,« mischte sich die Lady wieder ein. »Die Kleidung war es, die meine Aufmerksamkeit als erstes anzog.«
Olivia trug schmale schwarze Hosen und einen schwarzen Rollkragenpullover, darüber ein ärmelloses Oberteil aus dicker Wolle, das zwei Handbreit über den Knien endete. Es zeigte ein schwarz-weißes Schachbrettmuster, in das anstelle eines v-förmigen Halsausschnittes eine ruhige Fläche in dunklem Rostrot eingearbeitet war. Die untere Kante sowohl als der Abschluss der Armausschnitte und seitlichen Nähte fügte eine leuchtende Kombination der verschiedensten Farben hinzu.
»Darf ich so kühn sein und fragen, wo Sie dieses Oberteil erstanden haben?«
Olivia lachte. »Nirgendwo. Ich habe es selbst gestrickt.«
»Sie haben es selbst gestrickt?« Mrs Wotheridge war sprachlos. »Es ist hervorragend gearbeitet. Nach welcher Vorlage stricken Sie?«
»Nach meiner eigenen. Ich stricke nur, was ich selber entwerfe.«
»Und – haben Sie dieses Muster ganz frei erfunden?« fragte Lady Gaynesford fast gespannt.
»Nein, Vorlage war ein peruanisches Offiziersgewand, ein Unqu, das im Völkerkundemuseum in Wien ausgestellt ist und mir, wie Sie sehen, sehr gefallen hat.«
»Ich wusste es! Die Indianer im peruanischen Hochland kennen es noch heute, aber außerhalb von Peru bin ich ihm nie begegnet. Sie sehen, Ihre Kleidung ist für mich noch außergewöhnlicher als sie es ohnehin schon ist. Doch davon abgesehen, sind die Kleidung und ihre Trägerin bemerkenswert genug, um eine Einladung zu wagen und sich zu freuen, wenn sie angenommen wird.« Die alte Dame neigte leise den Kopf und griff wieder zu ihrer Teetasse.
»Wenn ich Lady Gaynesford richtig verstanden habe,« wandte sich nun der Pfarrer an Olivia, »ist nicht die Politik Ihr Thema. Was ist es dann?«
»Ich schreibe ›Londoner Skizzen‹.«
»Nein! Das ist doch der deutsche Titel von den ›Sketches by Boz‹ von Dickens.«
Olivia sah ihn überrascht an und Mr Wotheridge genoss die Überraschung, die er ausgelöst hatte. »Ich kam als Soldat nach Deutschland und blieb bis 1947 dort stationiert,« erklärte er. »Ich habe mir damals die Freizeit damit vertrieben, herauszufinden, was die Deutschen von England wussten – aber wie kam es zu einer Reihe mit diesem Titel?«
Es entstand eine kleine Pause. Olivia sah, dass sie mit Hilfe von Dickens die Sympathie des Pfarrers gewann und dass die Entrüstung seiner Frau wachsender Freundlichkeit Platz zu machen begann. Lady Gaynesford lehnte, beide Hände um ihre Teetasse geschlossen, ruhig da und schaute sie darüber hinweg an.
»Mein Vater war Engländer, meine Mutter Österreicherin,« holte Olivia ein wenig aus. »Meine ersten Lebensjahre habe ich in London verbracht, in Salzburg ging ich dann zur Schule, war aber jedes Jahr im Sommer und zu Weihnachten wieder in London. Dadurch fiel mir sehr früh auf, dass österreichische Kinder manches anders machten, andere Spiele spielten und andere Bücher lasen als meine englischen Freunde. Das war spannend. Und bis heute haben die kleinen Unterschiede ihren Reiz für mich behalten. Ich lebe nun schon wieder viele Jahre in London, besuche aber weiterhin regelmäßig Österreich. In den ›Londoner Skizzen‹ berichte ich von englischen Alltäglichkeiten im weitesten Sinne, die es so in Österreich oder Deutschland nicht gibt. Halloween ist ein populäres Beispiel.«
Mr Wotheridge nahm dieses Thema mit ganz persönlicher Anteilnahme auf und bald waren alle in angenehmen Austausch über englische Eigenheiten vertieft. Tee wurde nachgegossen und die eine oder andere Lampe angezündet. Hin und wieder knackte es leise im Kamin.