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2. Schutz überindividueller (sozialer) Rechtsgüter
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Im Bereich der Wirtschaftskriminalität besteht die strafrechtsdogmatische Besonderheit, dass regelmäßig der Schutz überindividueller Rechtsgüter im Raum steht.[41] Auch wenn dieser Ansatz im Einzelfall gelegentlich als ein „wolkiges“ oder „luftiges“, weil „frei erfundenes“ Gebilde kritisiert wird[42], ist seine positiv-rechtliche Legitimation dem Wirtschaftsstrafrecht geradezu immanent. So erlaubt die Anknüpfung an solche „sozialen“ Rechtsgüter nicht nur eine befriedigende Erfassung der meisten Wirtschaftsstraftaten, sondern hat zu der auch international gewachsenen Erkenntnis beigetragen, in diesem Deliktsbereich vorzugsweise abstrakte Gefährdungsdelikte als angemessene Reaktionsform des Strafrechts zum Schutze dieser Rechtsgüter einzusetzen.[43] Bei den Insolvenzstraftaten handelt es sich daher um Straftatbestände, die der Gesetzgeber als abstrakte Gefährdungsdelikte ausgestaltet hat.[44] Bei den §§ 283 bis 283d StGB wird eine konkrete Gefährdung oder Beeinträchtigung der Gläubigerinteressen nicht vorausgesetzt. Wenn § 283 Abs. 1 StGB ebenso wie die §§ 283b, 283c und 283d StGB bereits die Vornahme einer Bankrotthandlung unter Strafe stellt, liegt ein Grund hierfür in der Schwierigkeit begründet, eine kausale und schuldhafte Verursachung einer Insolvenz durch den Täter im Nachhinein zu beweisen. Die dogmatische Rechtfertigung der Insolvenzstraftatbestände stellt darauf ab, dass solche Handlungen typischerweise insolvenzträchtig sind. Allerdings muss als objektive Strafbarkeitsbedingung hinzukommen, dass der Täter oder das von ihm vertretene Unternehmen seine Zahlungen einstellt, über das Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet oder der Eröffnungsantrag mangels Masse abgewiesen wird. Erst von diesem Zeitpunkt an besteht ein Strafbedürfnis.[45] Dabei ist kein Kausalzusammenhang zwischen der Bankrotthandlung und der Strafbarkeitsbedingung erforderlich.[46] Jedoch muss ein gewisser zeitlicher und tatsächlicher Zusammenhang gegeben sein.[47] Es reicht hierfür aus, wenn Forderungen, die zur Zeit der Bankrotthandlungen bestanden, bis zur Zahlungseinstellung noch nicht getilgt waren. Wurde die Unternehmenskrise zwischenzeitlich überwunden oder beruht der Unternehmenszusammenbruch auf anderen Gründen, so entfällt das Strafbedürfnis.[48]
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Einige Autoren[49] lehnen hier ein überindividuelles Rechtsgut als reinen Schutzreflex ab, der sich aus der Struktur der als abstrakte Gefährdungsdelikte ausgeformten Insolvenzstraftaten ergebe. Der herrschenden Ansicht wird kritisch entgegengehalten, sie verwechsle das geschützte Gut eines Tatbestandes mit dem Anlass seiner Schaffung.[50] Zudem seien Rechtsgutsformulierungen auf einem derart hohen Abstraktionsniveau zur Erfassung der empirischen Relation zwischen deliktischer Handlung und Rechtsgutsbeeinträchtigung ungeeignet. Dadurch werde nicht klärend zur Interpretation des jeweiligen Tatbestandes beigetragen, was jedoch primäre Aufgabe einer Rechtsgutsbestimmung sei.[51] Der Rückschluss von dem durch Insolvenzen verursachten hohen volkswirtschaftlichen Schaden auf das Bedürfnis nach einem überindividuellen Rechtsgut sei schon aus dem Grund nicht valide, weil Quantität nicht in Qualität umschlagen könne. Genauso wenig könne der Schluss von der Schädlichkeit einer Ketten- und Fernwirkung von Insolvenzen für abhängige Unternehmen auf ein überindividuelles Schutzgut überzeugen, denn hier liege nur eine Addition von Einzelschäden vor, bei denen der schuldrelevante Bezug zum Täter unklar sei.[52] Die angeführte Sog- und Spiralwirkung verwechsle außerdem den schädlichen Effekt, den die Nichtbefolgung (irgend)einer Norm hervorrufe, mit dem Schaden, den diese Norm durch Befolgung vermeiden solle. Dadurch setze man die Generalprävention und den Schutzzweck der Norm unzulässiger Weise gleich.[53] Das Argument des verletzten Vertrauens in die Wirtschaft sei schließlich kein spezielles Problem der Insolvenzdelikte, sondern verallgemeinerungsfähig und trage somit nichts zum spezifischen Normverständnis der Insolvenzstraftaten bei.[54]
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Ob neben den gegenwärtigen auch potentielle (zukünftige) Gläubiger als Träger schutzwürdiger Vermögensinteressen auftreten können[55], ist umstritten.[56] Von der herrschenden Meinung[57] wird mit Blick auf die verfassungsrechtliche Legitimation[58] auch ein überindividuelles Interesse am Schutz des gesamtwirtschaftlichen Systems bejaht. Dafür spricht, dass die Insolvenz infolge der starken wirtschaftlichen Verflechtung der Gläubiger untereinander typischerweise einen Dominoeffekt zu Lasten weiterer Wirtschaftssubjekte weit über den Kreis der eigentlichen (aktuellen) Gläubiger hinaus auslöst.[59] Die Tatsache, dass die §§ 283 ff. StGB – anders als reine Vermögensdelikte – ein bloß abstrakt gefährliches Verhalten schon bei einfacher Fahrlässigkeit als strafrechtswidrig einstufen (vgl. etwa § 283b Abs. 2 StGB), ließe sich zudem ansonsten nicht rechtfertigen.[60] Weiter wird zu Recht auf die hohen Schäden und auf die Sog- und Spiralwirkung hingewiesen, die von Insolvenzdelikten verursacht werden bzw. von ihnen ausgehen.[61] Schließlich werde das Vertrauen in das Wirtschaftssystem insgesamt – zumindest aber sektoral – durch solche Delikte verletzt, was dieses in seiner Bestandskraft beeinträchtige und allein schon aus diesem Grund eine erhöhte Schutzwürdigkeit aufweise.[62] Zusammengefasst rekurrieren die angeführten Argumente zum einen auf die mögliche gesamtwirtschaftliche Bedeutung einer einzelnen Insolvenz, zum anderen auf das gestörte Vertrauen in den Kredit als ein notwendiges Instrumentarium einer modernen Wirtschaftsordnung.[63] Hierbei kommt es nicht auf das individuelle Vertrauen der Marktteilnehmer, sondern auf das institutionalisierte Vertrauen an.[64]
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Ob daneben speziell die Funktionsfähigkeit der Kreditwirtschaft geschützt werden soll, ist umstritten.[65] Der Bundesgerichtshof[66] tendiert dazu, diese Frage zu bejahen. Allerdings ist unklar, welche konkrete Gestalt die Kreditwirtschaft als eigenständiges Schutzgut haben soll. So ist zu bedenken, dass die §§ 283 ff. StGB als echte Sonderdelikte[67] für den tauglichen Täter die Stellung eines Schuldners vorschreiben, der jedoch nur seinen Gläubigern und nicht der Allgemeinheit oder der Kreditwirtschaft gegenüber in einer besonderen Weise verpflichtet ist.[68]