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Teil 2: Mit Dynamik unterwegs

Vom Zielpool zum Gruppenvertrag – Contracting

Abstract

Wenn Menschen zusammenkommen, dann haben sie ganz unterschiedliche Ziele. Stahl beschreibt dies als Zielpool. Es gibt darin vier Arten von Zielen: gesetzte öffentliche Ziele, wählbare öffentliche Ziele, gesetzte nicht öffentliche Ziele, gesetzte nicht öffentliche Ziele. Um hier der Gruppe eine innere Zielstruktur zu geben, empfiehlt es sich, eine Zusammenarbeitsvereinbarung mit der Gruppe abzuschließen. Ich nenne diese schriftliche oder mündliche Vereinbarung zwischen den Teilnehmenden und der Lehrperson Contracting4. Viele Probleme treten auf, weil diese, unterschätzte gruppendynamische Intervention nicht durchgeführt wird. Man mag sie nicht für notwendig halten oder man ist sich der präventiven Wirkung dieser Intervention nicht bewusst. Ein gutes Contracting ist die Basis für die Zusammenarbeit und beugt gleichzeitig Problemen vor. Bei einem Contracting muss darauf geachtet werden, dass nicht von der Lehrperson einseitig verordnet wird, was gelten soll. Ein richtiges Contracting beinhaltet eine echte Mitsprache und Mitbestimmung der Teilnehmenden. Welche konkreten Punkte verhandelt werden, hängt von den Umständen ab.

«Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Frage, was du für dein Land tun kannst.»

Dieses berühmte Zitat von John F. Kennedy mag in diesem Zusammenhang etwas befremdlich klingen. Aber es geht nicht um das Thema «Land», sondern um die Haltung, die dahintersteckt. Die Haltung lautet: Ich gebe etwas. Sie kann gut auf Lehr-Lern-Prozesse übertragen werden: «Frage nicht, was deine Lehrperson für dich tun kann. Frage, was du zu deinem Lernen beitragen kannst.»

Es geht nun nicht darum, dass die Lernenden und Teilnehmenden allein für ihren Lernerfolg verantwortlich sind. Im Bereich der Berufsfachschulen, der Weiter- und Erwachsenenbildung (hier sind es letztlich die Anforderungen aus der Arbeitswelt) geht es auch um die Förderung der Selbstverantwortung. Mit dem Gruppenvertrag oder Contracting verfügen Lehrpersonen über ein Instrument, um eine Lehr- und Lernkultur zu implementieren, die auf geteilter Verantwortung beruht.

Welches Ziel kann bei einer Lerngruppe oder Klasse implementiert werden, wenn es nicht um ein individuelles Lernziel geht? Wichtige Hinweise dazu gibt Ulich: «Im Vergleich zu anderen Arbeitsgruppen besteht die hervorstechendste Besonderheit der Lerngruppe darin, dass hier die soziale Differenzierung und Strukturierung nicht im Zug einer zielbestimmten Arbeitsteilung, sondern im Zuge sozialer Auseinandersetzung stattfindet» (1974, S. 64).

Der Zielpool

Abbildung 3:

Die Teilnehmenden haben ihre individuellen Ziele

Wenn wir uns zu Gruppen zusammentun, fügt jeder der Beteiligten seine persönlichen Ziele in den großen gemeinsamen Topf, in den Zielpool der Gruppe (Stahl, 2017).

Die in dieser Gesamtheit befindlichen Ziele bilden wie Fische im Aquarium ein System. Sie stehen untereinander in Beziehung, wirken aufeinander ein und lassen so im Verlauf der gemeinsamen Aktivität ein unverwechselbares Beziehungsgeflecht entstehen. Der Zielpool setzt sich nach Stahl aus vier Zieltypen zusammen (siehe Abbildung 4).

Abbildung 4:

Vier Zieltypen im Zielpool

Dabei ist es wichtig, die gemeinsamen Ziele für alle transparent zu machen. Dabei lassen sich die Typen von Zielen unterscheiden:

 Die gesetzten öffentlichen Ziele sind die Kursauschreibungen. Sie werden manchmal vorgegeben mit Überzeugung, Zwang oder Druck, ein Lernziel oder einen Abschluss zu erreichen. Es sind auch die Lernziele, die von der Kursleitung bekannt gegeben werden.

 Die wählbaren öffentlichen Ziele sind persönliche Entwicklungsziele oder Wünsche, die im Kurs genannt werden.

 Nicht öffentliche wählbare Ziele stammen von den Lernenden: Ich will mich rausziehen und nicht aktiv mitmachen. Ich will mit möglichst wenig Engagement das Zertifikat erhalten. Ich will mal etwas wagen, was ich noch nie gemacht habe. Ich will neue Leute kennenlernen. Ich will mich persönlich weiterentwickeln. Ich will mehr Sicherheit im Thema gewinnenAus verschiedenen Gründen werden diese Ziele nicht öffentlich deklariert: Man hat nicht daran gedacht, man findet etwas selbstverständlich, oder man schweigt aus Scham oder Verdrängung. Oder ein persönliches Ziel ist mit den allgemeinen Zielen der Gruppe unvereinbar und man traut sich nicht, darüber zu reden.

 Die gesetzten nicht öffentlichen Ziele sind die Ziele der Kursleitung: Die Teilnehmenden sollen brav sein. Sie sollen sich anpassen. Sie sollen keine kritischen Fragen stellen. Ich will eine gute Beziehung zwischen mir und den Teilnehmenden. Ich wünsche mir großen Einsatz von den Teilnehmenden. Ich will, dass sie Verantwortung übernehmen. Diese Ziele werden aus Flüchtigkeit, Taktik und Rücksichtnahme auf institutionelle Tabus oder dem Wunsch nach Zugehörigkeit verschwiegen.

Der Gruppenvertrag: Contracting

Ein Gruppenvertrag, Contract, ist ein wirksames Mittel, um für die Zusammenarbeit Klarheit zu schaffen. Dabei ist es wichtig, die Lernenden als eigenständige Vertragspartei ernst zu nehmen und die Bedingungen nicht einseitig zu diktieren.

Ein Vertrag kann wie folgt entstehen:

1 Die Lernenden werden ausführlich über die Inhalte, Themen, Methoden und Bedingungen informiert, damit sie sich ein Bild machen können, was auf sie zukommt.

2 Die Lernenden entwickeln ihre eigenen Entwicklungsziele.

3 Die Lehrperson deklariert, was für sie für eine gute Zusammenarbeit wichtig ist. Damit erhalten die Lernenden Orientierung zum Umgang untereinander und mit der Lehrperson.

4 In einem weiteren Schritt beschreiben nun die Teilnehmenden, was sie brauchen, um gut lernen zu können. «Was braucht ihr, um die Lernziele und eure persönlichen Entwicklungsziele gut erreichen zu können a) von euch selbst, b) von der Gruppe und c) von der Leitung?» Die Antworten werden zuerst in Einzelarbeit, danach in Gruppen erarbeitet. Die Gruppenergebnisse werden im Plenum vorgestellt. Auf dieser Grundlage verhandeln Lehrperson und Lernende den Contract.

Im Rahmen des Contractings kommen Themen wie Ziele, Inhalte, Aufgaben, Vermittlungsformen, Rahmenbedingungen, Gestaltung des Unterrichts, Art der Zusammenarbeit, eigene Beiträge oder von der Gruppe und der Leitung, Kommunikation untereinander, Umgangsformen, Umgang mit Handy oder der Umgang mit Laptop zur Sprache (siehe «Elemente einer Lernkultur»). Anhand des Contractings wird eine ganz bestimmte Lernkultur eingeführt.

Ganz zentral ist dabei, dass nicht einfach Erwartungen der Teilnehmenden und Lernenden abgerufen werden, weil damit eine Konsumhaltung gefördert wird: Die Teilnehmenden haben ihre Erwartungen platziert und jetzt soll die Leitung schauen, dass sie in Erfüllung gehen. Damit fördern wir das Oberkellnersyndrom: Die Leitung präsentiert alles auf dem Silbertablett. Alternativ oder ergänzend dazu sollen persönliche Entwicklungsziele formuliert werden (2). Danach können die Lernenden dann immer noch zum Ausdruck bringen, was sie von der Leitung brauchen, um gut lernen zu können – aber eben in Kombination mit sich selbst und der ganzen Gruppe (4). Es muss sichergestellt sein, dass das Lernen eine partnerschaftliche Angelegenheit ist. Mit dem Contracting wird das Zeichen gesetzt, dass ein guter Lernerfolg auf der Basis von Zusammenarbeit und geteilter Verantwortung zustande kommt.

Es ist wesentlich einfacher, zu Beginn einer Lernphase diesen Vertrag zu verhandeln, als später Fehlentwicklungen zu korrigieren. Mit späteren Korrekturen sind möglicherweise Konflikte verbunden, weil die Teilnehmenden sich nun in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen.

Sie sollten sich selbst Regeln geben. Dabei bringt die Lehrperson ihre Vorstellung einer guten Lehr- und Lernkultur mit Engagement ein. Gleichzeitig zieht sie die Teilnehmenden und Lernenden bei der Mitgestaltung hinzu. Die Erfahrung zeigt, dass dieser Weg in der Regel zu einem guten Resultat führt, wenn die Beziehung zur Lehrperson beziehungsweise zur Institution intakt ist.

Gegebenenfalls kann die Lehrperson ihre Idealvorstellung nicht (mehr) realisieren, aber das Wesen eines Contractings ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen, das vielleicht dazu führt, gewünschte Aspekte loszulassen. So lange sich Geben und Nehmen die Waage halten, führt diese Verfahren mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem guten Ergebnis.

Fall: Ferien sind besser als Ausbildung

Felicien macht eine längere berufsbegleitende Ausbildung im Bereich Sozialpädagogik. In deren Verlauf findet ein Ausbildungsblock von fünf Tagen in einem Bildungshaus statt. Es befindet sich im grenznahen Ausland, gelegen auf einem Hügel mit einer herrlichen Aussicht über das ganze schweizerische Mittelland bis zu den Alpen. In diesem Ausbildungsteil ist Felicien sehr passiv, er geht regelmäßig joggen, bleibt beim Essen lange sitzen, bietet den anderen Kursteilnehmenden Wein an und animiert sie, zu genießen. Er kommt immer wieder zu spät in die Kurse. Mit der Zeit distanzieren sich die anderen Teilnehmenden von ihm. Niemand will mehr so richtig mit ihm in einer Gruppe arbeiten, weil er oft auf andere Themen zu sprechen kommt. Das steigert sich zu aggressiven Äußerungen, zum Beispiel «Du fauler Sack!».

Intervention

Wenn sich ein so offensichtliches, abweichendes Verhalten zeigt, ist es günstig, es direkt anzusprechen und zwar am besten im Plenum. Ein Gespräch unter vier Augen würde nicht zur Klärung in der Gesamtgruppe führen. Die Befürchtung, den Teilnehmer bloßzustellen, ist unbegründet, denn er ist schon exponiert. Die Lehrperson spricht das Thema angemessen, ruhig und sachlich beschreibend an. Auf keinen Fall soll eine Wertung oder Verurteilung stattfinden: «Felicien, mir fällt auf, dass du des Öfteren zu spät kommst, du hast dich im Plenum auch noch nie zur Sache gemeldet und heute ist klar zum Ausdruck gekommen, dass niemand mit dir in der gleichen Gruppe arbeiten will. Mich interessiert, wie es dir geht und wo du im Hinblick auf das Thema stehst.»

Nach dieser Intervention stellt sich heraus, dass Felicien diesen Kursblock mehr als Ferien betrachtet, als Erholung von seinem anstrengenden Familienalltag mit sechs Kindern. Er stellt klar, dass er für diese Tage andere Prioritäten habe. Gleichzeitig entschuldigt er sich dafür, bei den anderen negative Gefühle hervorgerufen zu haben. Nach seinem Statement beruhigt sich die Situation. Die anderen Teilnehmenden wissen nun, woran sie sind. Feliciens Stellung in der Gruppe bleibt nicht einfach, aber die anderen nehmen ihn mit und tolerieren seine Beweggründe. Seine persönlichen, unausgesprochenen Ziele waren also Genießen und Erholung. Sie waren für ihn wichtiger als die gesetzten öffentlichen Ziele.

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