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Gruppendynamik im Dienst des gelingenden Lernens

Abstract

Wenn wir Gruppendynamik auch als Methode zur Steuerung von Lernprozessen verstehen, braucht es eine Vorstellung darüber, wohin die Gruppe gesteuert werden soll. Ein Ziel für gruppendynamische Interventionen ist die Gestaltung von Unterricht und die Steuerung von Lerngruppen oder Klassen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen. Etwaige Ziele können sein: Teilhabe, Störungsfreiheit, aufbauende Beziehungen, Sinnhaftigkeit et cetera. Damit wird die Gruppendynamik in den Dienst des Lernens gestellt – soweit dies möglich ist. Denn gruppendynamische Prozesse sind nicht immer berechenbar. Dank wissenschaftlichen Erkenntnissen haben Lehrpersonen einen klaren Fokus bei der Leitung von Lerngruppen und besitzen einen Kompass, der ihnen im undurchsichtigen Gelände gruppendynamischer Prozesse die Richtung weist.

Sehen wir Gruppendynamik als Methode, um Gruppenprozesse zu steuern, müssen wir uns fragen, welches Ziel wir damit erreichen wollen. Wohin soll der Gruppenprozess gesteuert werden? Was ist das Ziel? Im Zusammenhang mit Lernprozessen ist es naheliegend, dass ein gruppendynamischer Prozess helfen soll, ein Lernziel beziehungsweise einen Lernerfolg zu erreichen, soweit das möglich ist. Denn eine Gruppendynamik ist bei Weitem nicht immer kontrollierbar – im Positiven wie auch im Negativen.

Bewährte Grundlagen für guten Unterricht

Die maßgeblichen Prämissen für das Ziel eines Gruppenprozesses sind die Erkenntnisse aus der Lernpsychologie und der Forschung zur Leitung von Lerngruppen und der Klassenführung.

Im Folgenden werden die wesentlichen Erkenntnisse dargestellt. Dabei habe ich mich weniger auf den Bereich Didaktik und Unterrichtsgestaltung konzentriert, sondern vielmehr auf Studien aus dem Themenbereich Beziehungen, Kommunikation und Kooperation von Klassen und Lerngruppen. Die Erkenntnisse dieser Studien geben uns Lehrpersonen eine Idee, wohin eine Lerngruppe beziehungsweise eine Klasse geführt werden können. Diese Erkenntnisse dienen dazu, uns zu inspirieren, wie wir unsere Rolle als Lehrperson wahrnehmen. Sie besteht nämlich durchaus nicht nur darin, Wissen zu vermitteln. Das allein entscheidet nicht über die Qualität des Unterrichts. Helmke bringt das in einem Interview mit Zeit Online auf den Punkt: «Die Bedeutung des fachwissenschaftlichen Niveaus eines Lehrers wird allerdings überschätzt. […] Ein guter Lehrer muss nicht die neuesten Theorien seiner Disziplin kennen. Sehr wohl muss er aber von der Didaktik seines Fachs viel verstehen. […] Wenn dann noch Begeisterung für das Fach hinzukommt, ist das ideal, denn Schüler lernen an Vorbildern» (Helmke, 2005).

Der Dreiklang guten Unterrichts

Reusser (2006) beschreibt drei Elemente, die für guten Unterricht notwendig sind:

1 Ziel- und Stoffkultur: fachdidaktische Bedeutsamkeit der Inhalte; klare Ziele und Standards; Anspruch von Lernaufträgen; sachlogischer Stoffaufbau; Qualität der Lehrmittel und Medien

2 Lernkultur: Sinnhaftigkeit; Klassen- und Lerngruppenleitung; Zeitnutzung; Variabilität und Vielfalt der Methoden; Klarheit; kognitive Aktivierung; Förderung der Motivation; intelligentes Üben; Förderung von Selbstregulation und Lernstrategien

3 Dialog und Unterstützungskultur: sinnstiftende Gesprächsführung; wertschätzendes Sozialklima; Autonomieunterstützung; individuelle Lernunterstützung und -begleitung; Coaching; Feedbackkultur.

Lernatmosphäre

Grundsätzlich konnte festgestellt werden, dass der Lerngewinn dann besonders hoch ist, wenn die Lernatmosphäre von den Teilnehmenden als freundlich, intensiv und von gegenseitiger Unterstützung geprägt wahrgenommen wird (Webb et al., 1998).

Die Qualität der Interaktion und der Umgang unter den Teilnehmenden und zwischen den Teilnehmenden und der Lehrperson ist für das Erreichen der Lernziele von großer Bedeutung.

Inhaltliche Differenz und gute Gespräche

Jurkowski und Hänze (2010) konnten in einer Studie nachweisen, dass der Lernerfolg umso größer ist, wenn die Lernenden aufeinander Bezug nehmen und Beiträge der anderen weiterentwickeln. Je intensiver das inhaltliche Gespräch ist und je breiter das Meinungsspektrum ist (inhaltliche Differenzierung), umso besser ist das für das Lernen.

Kooperatives Lernen

Verschiedene Studien untersuchen positive Faktoren für das kooperative Lernen. Für Slavin (1996) ist die Motivation der Einzelnen grundlegend. Wenn die Einzelnen eine gute Leistung erbringen, gibt es eine Belohnung durch die Gruppe, zum Beispiel Anerkennung. Cohen (1994) ist der Meinung, dass sich die soziale Kohäsion3 besonders auf den Lernerfolg auswirkt. Er führt das auf das Bedürfnis nach sozialer Bindung zurück, die die Motivation der Lernenden fördert.

Störungsfreiheit

Rakoczy (2007) weist nach, dass sich die Teilnehmenden oder Lernenden in ihrem Streben nach Kompetenz und Autonomie desto stärker unterstützt fühlen, je störungsfreier und disziplinierter der Unterricht ist. (Disziplin meint hier das konzentrierte Arbeiten der Mitlernenden.) Wenn die Mitlernenden konzentriert arbeiten, überträgt sich das auf einen selbst oder auf solche, die zunächst nicht so stark mitarbeiten wollen. Das disziplinierte Arbeiten wird dann gleichsam zur Norm der Gruppe.

Vereinbarung von Regeln

Das Ziel von Regeln ist, Ordnungsstrukturen herzustellen und aufrechtzuerhalten, sodass Unterricht möglichst störungsfrei stattfinden kann. Wichtig für die Leitung von Lerngruppen ist die Vereinbarung von Regeln. Dazu gehört auch, dass Lehrpersonen ihre Erwartungen deutlich kommunizieren. Wichtig ist aber auch, die Interessen der Teilnehmenden aufzunehmen. Dadurch werden die Teilnehmenden ernstgenommen und integriert. Eine Folge davon sind weniger Störungen im Unterricht (Rakoczy, 2007).

Wahrnehmung der Lehrperson durch die Lernenden

Es besteht darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen Lernerfolg und wie die Lernenden die Lehrperson wahrnehmen. Teilnehmende beziehungsweise Lernende lernen besser bei einer Lehrperson, die sich durch Regelklarheit und mit einer flexiblen Anpassung an die jeweilige Situation auszeichnet (Neuenschwander, 2006). Im Gegensatz dazu empfinden Lernende Lehrpersonen, die rigoros und autoritär sind, nicht als förderlich für das eigene Lernen. Neuenschwander untersuchte weiter, was Teilnehmende als souveräne Leitung wahrnehmen: Neben der bereits erwähnten Regelklarheit und flexiblen Anpassung sind auch eine hohe Erklärungs- und Kommunikationskompetenz wichtig.

Relevante Lernziele

Lernziele müssen von den Lernenden als relevant empfunden werden. Hinsichtlich dieser Lernziele braucht es einen strukturierten Unterricht, der klare Arbeitsanweisungen enthält und von den Teilnehmenden als interessant wahrgenommen wird. Darüber hinaus muss die Lehrperson über eine hohe Fachkompetenz verfügen. Damit der Aspekt der relevanten Ziele wirklich umgesetzt werden kann, müssen die Lernenden und Teilnehmenden in den Unterricht miteinbezogen werden. Die Lehrpersonen sollte mit den Teilnehmenden oder Lernenden einen Aushandlungsprozess und einen Dialog anstoßen, in dem neben den vorgegebenen Zielen auch eine individuelle Vertiefung oder Schwerpunktsetzung ausgehandelt werden kann (Helmke/Weinert, 1997).

Offen leiten mit Beziehung

Seidel, Rimmele und Prenzel (2003) zeigen auf, dass das Verhalten von Lernenden von der Qualität der Beziehung zwischen Lernenden und Lehrperson abhängt. Es konnte nachgewiesen werden, dass, wenn eine Lehrperson die Interaktionen und die Kommunikation stark dominiert, für Lernende und Teilnehmende keine Freiräume für eigenständiges Denken entstehen und keine Internalisierung von Lernzielen stattfindet. Das heißt, eine intrinsische Motivation wird unterbunden. So fühlen sich Lernende in eng geführten Interaktionen in ihrer Autonomie und in ihrer Kompetenz nicht unterstützt. Die Folge ist Demotivation, die Lernenden beschäftigen sich mit anderem als dem Unterricht (Tagträumen, mit dem Handy spielen, Seitengespräche). Mit der Zeit schwindet das Interesse am Thema oder Fach fast gänzlich (Seidel/Rimmele/Prenzel, 2003).

Wertschätzung

Rakoczy (2007) weist nach, dass die Wahrnehmung der eigenen Autonomie im Unterricht sehr eng mit einer wertschätzenden Beziehung der Lehrperson zu den Teilnehmenden Lernenden zusammenhängt.

Für die intrinsische Motivation ist Wahrnehmung von Autonomie, Kompetenz und sozialer Bindung von großer Bedeutung.

Lernerfolge unterscheiden sich nicht von Schule zu Schule, sondern von Klasse zu Klasse innerhalb derselben Schule. Nach Hattie gelingt Unterricht dann, wenn er auf der Basis von Respekt, Wertschätzung, Fürsorge und Vertrauen stattfindet (Hattie, 2014).

Entwicklung einer Lernkultur mithilfe der Gruppendynamik

Auf der Basis dieser Erkenntnisse lässt sich ein «innerer Kompass» für die Lehrperson formulieren. Zusammenfassend sind folgende Aspekte für einen gelungenen Unterricht wichtig:

 Relevanz der Didaktik (Lernziele, Methoden, Folgerichtigkeit des Aufbaus usw.)

 Förderung von Lernstrategien

 Der Sinn des Lerninhalts ist erkennbar.

 Positive Interaktionen zwischen allen Beteiligten

 Lernende nehmen aufeinander Bezug und gehen aufeinander ein. Sie zollen sich gegenseitig Anerkennung.

 Damit für vorgegebene Lernziele intrinsische Motivation aufgebaut werden kann, sind Austausch und Kommunikation nötig.

 Die Einbindung in die Lerngruppe beziehungsweise Klasse ist wichtig. Sie deckt das menschliche Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit ab.

 Der Unterricht ist störungsarm.

 Die Regeln werden in einem wechselseitigen Dialog festgelegt.

 Leitungsstil der Lehrperson: klare Regeln festlegen und einhalten, präsent sein, flexibel reagieren können, Lehrpersonen können gut erklären

 Wenn die Beziehung zwischen Lehrperson und Lernenden von den Teilnehmenden als wertschätzend wahrgenommen wird, erleben sie ihre Autonomie stärker.

 Die Lehrperson schafft ein wertschätzendes Sozialklima, die Autonomie der Lernenden wird unterstützt, die Lernenden erleben ihre Kompetenz.

 Die Interaktion und Kommunikation werden von der Lehrperson nicht dominiert.

 In Diskussionen kommen unterschiedliche Meinungen zum Ausdruck.

 Lernerfolge beruhen auf Respekt, Wertschätzung, Fürsorge und Vertrauen.

 Gegenseitige Unterstützung unter den Lernenden

Reflexion

Wie können Lehrpersonen Gruppendynamik nutzen,

 damit sich Wertschätzung entwickeln kann?

 damit sich die Lernenden gegenseitig unterstützen?

 damit in Diskussionen unterschiedliche Meinungen zum Ausdruck kommen?

 damit sich alle Teilnehmenden der Gruppe zugehörig fühlen?

 damit sehr gute Leistungen erbracht werden können und eigene Kompetenz erfahren werden kann?

Eisbergmanagement (E-Book)

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