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5. Kapitel

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Furchterregend hing immer noch die böse Fratze des Ersten Weltkrieges überm Land. Dreimal länger als die blutige Auseinandersetzung an der Front gedauert hatte, spielte sich normales Leben immer noch nicht ein. Der wirtschaftliche Abschwung hinterließ in der mit voller Leistung auf Rüstung getrimmten Wirtschaft noch immer tiefe, irreparable Verluste, Jahr um Jahr.

„Wie lange noch müssen wir Hunger leiden“, klagten die Menschen in ganz Deutschland.

Die einschneidende Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre und die Reparationsleistungen produzierten arg geschundene, fast hoffnungslose Opfer. Knurrende Mägen, stundenlang dumpfes Schlange stehen um Arbeit, Leben ohne intellektuelle Abwechslung förderte extreme Feindbilder in allen Bevölkerungsschichten und verhalf heuchelnden Heilsbringern vom linken und rechten politischen Rand in die Erfolgsspur.

Je größer die Stadt umso schlimmer das Unheil. Ehemals feste Arbeitsplätze in Fabriken zerstieben wie sich pulverisierende Felsbrocken. Auf dem Höhepunkt der ersten weltweiten Inflation mussten für einen Laib Brot zwei Scheine mit dem Aufdruck „Eine Millionen“ hingelegt werden, genau so viel wie für ein Paar Schnürsenkel. Bereits der nächste Tag verteuerte wieder um fünfundzwanzig Prozent. Die heiß laufenden Druckmaschinen konnten nicht so schnell neues Geld auswerfen wie es an Wert verlor.

In Hattelfingen kehrte man zur Tauschwirtschaft zurück, fünf Sack Weizen gegen ein Paar einfache Arbeitsschuhe oder zwei Dutzend Eier und ein Pfund Kartoffeln für die Reparatur einer zerborstenen Fensterscheibe im Kuhstall.

Auf Alleen, Plätzen und in Versammlungsräumen der Ballungszentren schlugen sich täglich Kommunisten und Nazis die Zähne aus und zunehmend wurde die zunächst distanzierte Landbevölkerung hineingezogen. Propagandatrupps fuhren mit Lautsprecher bestückten Lastwagen durch die Dörfer und luden mit großartigen Versprechen zu ihren Versammlungen.

Hans Geyer sagte zu Maria: „Ich geh da mal hin, will sehen was die für Zukunftsideen haben. Zur nächsten Veranstaltung der Braunen fahr ich mit dem Fahrrad nach Ulm hinunter.“

„Warum Hans, warum willst du zu einer Parteiversammlung? Haben wir nicht hier auf dem Hof genügend zu tun?“

„Ich spüre, dass ich zu einem dieser Vorträge hinmuss. Wir brauchen wieder Strukturen, in Hattelfingen und in ganz Deutschland. Die demokratischen Streitereien in Berlin helfen nicht weiter. Ich brauch auch keinen Kaiser mehr aber ich will stolz sein können. Stolz auf uns alle!“

Maria schaute ihrem Hans sprachlos ins Gesicht. Nach Minuten quälender Stille sagte sie betont langsam:

„Ich frage dich Hans, hat es dich mit Stolz erfüllt, dass du im Namen des Reichs und der obersten Heeresleitung in fremde Länder einmarschiert bist, dir unbekannte Menschen getötet hast und selbst knapp dem Tod entronnen bist? Bist du darauf stolz, dass sich auf beiden Seiten unzählige Kriegsversehrte durchs Leben betteln müssen, weil sie nicht mehr Arbeiten können? Oder war es eher das geschickt aufgeputschte, blinde Vertrauen in die Interessen derer, die direkt von einem Sieg über andere Länder profitiert hätten? Waren wir nicht eine auf beiden Seiten von Kriegstreibern manipulierte junge Generation? Hat dich dieser Krieg stolz oder gar frei gemacht?“

Wieder folgte eine lange Pause in der beide, Hans und Maria Geyer in eine andere Ecke der Wohnküche schauten. Dann fuhr Maria mit leiser Stimme fort:

„Hans, erfüllt es dich mit Stolz, wenn diese Partei, deren Versammlung du heute Abend besuchen möchtest, demnächst Plaketten mit dem Posthorn auf den Briefkästen abschrauben lässt und durch Hakenkreuze ersetzt. Macht es dich stolz, wenn du dann vor jedem Briefkasten stehen bleiben musst, um, wie dir befohlen, die Haken zusammenhauen und ‚Heil mein Führer’ schreien musst?

Macht es dich im Gegensatz dazu nicht stolz ein erfolgreicher Bauer zu sein, ein freier Mann auf eigener Scholle? Frei in wenigen Jahren vom getilgten Kredit, frei von vielerlei Zwängen durch Politik, die von außen auf uns wirken könnte? Frei und stolz, sich nur der jeweiligen Jahreszeit und dem Wetter beugen zu müssen?

Macht es dich nicht stolz, unabhängig von jeglichen Ideologien zu sein? Warum willst du nicht ein stolzer Bauer auf dem Kopfberghof und ein gerechter, einfühlsamer Familienvater sein?“

Hans antwortete nicht. Er hatte keine Antwort. Er mochte seine Frau, die nie zuvor eine solch flammende Rede gehalten hatte, in etwa verstehen und suchte dennoch die Antwort außerhalb der Familie.

Hans Geyer wünschte sich eine starke politische Führung, sah darin Ruhe für seine Arbeit und wollte den Erwerberstolz auf sein eigen Land ungefährdet widerspiegelt sehen.

Er antwortete seiner Frau nicht, starrte nur reglos vor sich hin. Keine Mimik, keine Körpersprache, nicht ein einziges Wort. Er war verunsichert: Sie hat ja recht, aber ich auch!

Nach langen Minuten, Maria zitterte vor Erregung, stand Hans wortlos auf, strich sich die schwarzen Haare glatt, ging hinaus zur Scheune, holte das Fahrrad heraus, steckte sich Klammern an die Hosenbeine und fuhr ohne Abschiedsgruß nach Ulm zur Versammlung der NSDAP.

Maria Geyer sah ihm nach, bis er um die Ecke am Oberhof gefahren war. „Nicht umgedreht hat er sich“, murmelte sie enttäuscht. Sie nahm warmes Wasser vom Herd, wusch Ihre Haare und band den Zopf neu.

„Wer von uns beiden hat sich verändert?“ fragte sie sich aus Angst vor langen, schlaflosen Stunden, die eine Antwort suchen.

Am nächsten Morgen beim Frühstück sagte Hans Geyer knapp:

„Maria, du wirst es zumindest jetzt noch nicht verstehen können, vielleicht in ein paar Jahren, aber ich habe mir gestern eine Uniform bestellt, bin in die Partei eingetreten.

Auf meinen Kragenspiegel bekomme ich dank meiner Verdienste im ersten Weltkrieg, meiner Teilnahme an Reserveübungen und meiner schnellen Entscheidung Parteimitglied zu werden, das prägnante Dienststellenabzeichen für Oberhelfer. Ansonsten hätte ich mich mit einem blanken, braunen Spiegel zufriedengeben müssen.“

Maria hob den Kopf und sagte nur: „Ich gehe raus und spann die Pferde an. Ich habe mich gestern im Haus überfordert, ich muss heute in frischer Luft arbeiten.“

Im Hinausgehen sagte sie noch zu ihrem Mann: „Ich hab Angst vor diesen Horten, diesen lauten Menschenmassen in Uniform, diesem Gleichschritt in Stiefeln und diesen nach oben gestreckten Fäusten oder Händen. Das gilt für beide Richtungen, Rot oder Braun. Und ich hab noch mehr Angst vor denen, die all diese Menschen aufwiegeln.“

Das Mittagessen nahmen sie schweigend ein und auch das Abendessen. Danach wollte Hans Geyer erklären: „Maria, wir brauchen eine neue Weltordnung. Wir brauchen Stabilität, wir brauchen einen starken und rechtschaffenen Führer. Recht muss wieder Recht sein. Ich will wieder stolz sein, nicht Kriegsverlierer, sondern ein guter Deutscher sein!“

„Und da musst du gleich wieder vorne mit dabei sein? Recht und Stolz sind Worte die auf einen Führer verzichten können. Du musst nicht als einer der ersten in Hattelfingen die Hand zum Gruß nach oben reißen.“

„Maria, eins sag ich dir, bevor ich mir die Finger meiner wütenden Faust in der Hosentasche breche, strecke ich sie lieber zum Heile unseres Führers nach oben!“

Am Samstag nach der mit heftigen Diskussionen angereicherten Woche ging Hans Geyer zum ungeliebten Frisör. Vorsichtig schaute er durch die einzige Tür mit einer Glasscheibe in Hattelfingen: „Ich benötige wieder einen Grundschnitt, Frisör. Passt es heute?“

„Kannst gleich hierbleiben, Hans. Oder muss ich jetzt Kopfbergbauer zu dir sagen? Noch ne viertel Stund, dann bist du dran.“

„Sag zu mir was du willst aber schneid mir gefälligst die Haare schön“, erwiderte Hans im ungeschminkten Sprachgebrauch der Alb.

Hans ließ sich die schwarzen Kopfhaare kurz schneiden und die Bartstoppeln abrasieren. Den stets mit erhobenem Kopf getragenen und mit Bartwichse hochgehaltenen Zwirbelbart ließ er zurück stutzen, zu einem schmalen Schnäuzer unter der Nase, wie er politisch opportun wurde durch den neuen, von Reichspräsident Paul von Hindenburg eingeführten Reichskanzler Adolf Hitler.

Entgegen seiner Gewohnheit gab Hans dem Frisör reichlich Trinkgeld und sagte auffordernd: „Du hast doch Einfluss auf die Fußballer, Frisör. Ihr könnt euch am Sonntag zum Heimspiel am Kriegerdenkmal treffen und unserer Helden gedenken. Von da aus solltet ihr geschlossen zum Sportplatz marschieren.

Nach dem Spiel gebe ich Freibier aus. Vielleicht lässt sich dies öfter wiederholen. Ich denke, die anderen Bauern lassen sich beim Freibier auch nicht lumpen.“

„Geht in Ordnung, Hans. Wir machen das. Ich sprech noch mit Vorstand und Mannschaftskapitän. So wie ich sie kenne, sind sie gleich dabei. Vielleicht gibt’s ja auch mal Freibier und Würstchen.“

Maria stieg am Sonntag, eine halbe Stunde bevor die Glocken zum Besuch des Gottesdienstes aufforderten, bedächtig die Treppen zur Kirche hoch. Sie wollte im Halbdunkel ganz alleine nachdenken, über sich selbst, ihren Mann und die Zukunft ihrer drei Kinder.

„Lieber Gott gib“, betete sie leise, „dass wir nicht wieder Krieg und Armut bekommen! Es ziehen dunkle Wolken der Revanchisten auf. Ich möcht dies schreckliche Elend meinen Kindern ersparen!

Wenn du ein gerechter Gott bist, dann verhindere zukünftig jeden Krieg. Überall auf unserer Erde. Nichts ist menschenfeindlicher als Krieg. Wir Menschen brauchen Frieden. Alle!

Und ich wünsche mir noch, dass sich mein Mann wieder mehr der Familie und dem Hof zuwendet, nicht der Politik.“

Maria faltete ihre Hände so fest, dass ihre Knöchel in dunkler Kirche weiß durch die Haut schienen.

Rotes Moor

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