Читать книгу Rotes Moor - Gerhard Gröner - Страница 9
6. Kapitel
Оглавление„Die Kameraden haben mir vorgeschlagen in Hattelfingen eine Ortsgruppe der NSDAP zu gründen und sie zu leiten!“ Hans Geyer sagte dies mit vor unbändigem Stolz geschwellter Brust. Es schien Maria Geyer als wäre ihr Mann um Zentimeter gewachsen.
„Musst du unbedingt annehmen, Hans?“
„Ortsgruppenleiter ist eine wichtige Aufgabe, Maria“, Hans nickte gewichtig mit dem Kopf, „eine Aufgabe die den Mann braucht und eine Aufgabe, nach der sich ein Mann sehnt. Vielleicht meine wichtigste Aufgabe im Leben überhaupt. Maria stell dir vor, ich, Hans Geyer, der ehemalige Knecht werde nun Ortsgruppenleiter, praktisch der von der Partei bestimmte Chef im Ort. Ich bestimme bald was geht in Hattelfingen, nicht mehr der Gemeindevorsteher!“
„Du kennst meine Meinung zu den Themen Militär und Politik, ich möchte mich nicht ständig wiederholen. Ich werde mich um den Hof kümmern und um unsere Kinder. Tu was du tun musst aber bitte lass mich da raus. Mir hat’s zu viele lautstarke Haudrauf an der Spitze der Partei und zu viele armselige, parolenhörige Mitläufer. Die können keine eigenen politischen Ideen entwickeln, geschweige denn unser Land in diesen schwierigen Jahren zum Besseren führen.“
„Maria ich will dir meine Gründe nennen, du solltest mich schon verstehen“, Hans Geyer krempelte die Ärmel seines Hemdes nach oben, „ich war als erster in Hattelfingen in die Partei eingetreten und es ehrt mich, dass ich der Ortsgruppe vorstehen darf. Ich bekomme eine Ortsgruppendienststelle im Rathaus, mit Schreibtisch, Stempeln und Telefon. Im Erdgeschoss verbleiben die zwei Schulklassen und darüber die Räume für den Bürgermeister oder Schultes oder Gemeindevorsteher, wie immer er sich auch nennt. Allein die Schreiberin teilen wir. Oben, wo seither Archiv und ähnlich unwichtiger Kontorenkram großzügig abgelegt wurde, wird mir ein neues Büro gebaut und eine Registratur erstellt. Ich sitze also direkt über einem „Schultes“ aus dem Christlichen Zentrum.“
„Und was sind die Aufgaben eines Ortsgruppenleiters?“
„Wie gesagt, ich stehe den mittlerweile knapp über Hundertzwanzig Mitgliedern vor. Das sind immerhin die Hälfte aller männlichen Wahlberechtigten. Und es werden mehr werden! Ich habe sogar Weisungsbefugnis gegenüber dem der unter mir sitzt, wenn dessen Handlungen nicht im Interesse der Partei ausfallen und ich habe die Berechtigung, Fragebögen über die politische Zuverlässigkeit aller Hattelfinger Bürger zu beantworten. Ich bin, Maria, eine neue Instanz. Hier in Hattelfingen. Ist dies nicht eine phantastische Entwicklung!“
Maria schaute lange ihrem Hans ins Gesicht. Sie entdeckte einen nie gekannten starren Wichtigblick in seinen früher weichen und braunen Augen, wie ihn sonst nur Monarchisten und Rechtspolitiker um sich warfen und hatte das Gefühl, sein Gesicht, der ganze Kopf würde sich eckig verformen. Langsam aber betont sagte sie:
„Hans, ich wünsche mir, den Kindern und dem Hof, dass du Mensch bleibst. Ich wünsche uns allen, dass du nicht zu viel Zeit und Energie in diesen Titel steckst und ich wünsche Dir viel Weitsicht und Glück bei allen Entscheidungen.“
„Der Führer, Maria, bringt uns den Fortschritt. Er eint das Deutsche Volk“, sagte Hans Geyer mit lauter Stimme. „Sieh nur wie er die Zahl der Arbeitslosen abbaut, wie er Autobahnen von Nord nach Süd und West nach Ost durchs Deutsche Reich zementieren lässt. Das internationale Ansehen wird rapide steigen, wenn wir nächstes Jahr mit Glanz und Gloria die XI. Olympiade 1936 in Berlin ausrichten werden. Auch die Olympischen Winterspiele werden den Ruf der fleißigen Deutschen in die Welt tragen. Zu diesem Zweck haben sich sogar die ehemals eifersüchtelnden Gemeinden Garmisch und Partenkirchen zu einer Stadt zusammengeschlossen.
Die Olympiade gibt mir auch Gelegenheit, die letzte rote Brut aus unserem Sportverein in Hattelfingen zu entfernen!
Du solltest unserem Führer und dem Dritten Deutschen Reich mehr Vertrauen entgegenbringen.“
„Versteh mich bitte Hans, ich bin ja an deiner Seite. Du wirst mit deinen Prophezeiungen vielleicht richtig liegen. Ich wünsche es uns allen. Manchmal jedoch überkommt mich beklemmende Angst, wenn ich Stiefel marschieren höre oder wenn sie gigantische Fackelaufmärsche in Nürnberg oder Berlin abhalten. Ich lese im Völkischen Beobachter von Gebietsansprüchen im Osten. Oft gebrauchte Worte in allen Rubriken sind ‚undeutsch’ oder ‚unsoldatisch’. Ich habe große Sorgen, dass uns Führer und Umfeld in einen neuen Krieg führen.“
„Wir Deutschen müssen nach dem letzten Krieg und den Fesseln von Versailles wieder Stärke zeigen. Wir müssen wieder ein stabiles, das Dritte Deutsche Reich gründen, eine Weltmacht werden, Maria.“
„Ich fürchte der Marsch in das angepriesene Reich wird überschwemmt sein von Leid, Tränen und Blut. Kriegsgeschrei ist bereits zu hören. Hans, wir haben zwei Buben. Ich möchte nicht, dass Jakob und Schorsch in einen Krieg marschieren müssen. Du weißt doch selbst, welche körperliche Narben und seelische Pein der Feldzug gegen die Nachbarländer in dir ausgelöst hatte. Und ich will verhindern, dass unsere Anna als Sanitäterin an der Front junge Männer zusammenflicken muss.“
„Ich hab es doch auch überlebt. Unser Deutsches Reich muss wieder Bedeutung bekommen, durch geschickte Diplomatie oder mit der Waffe in der Hand. Und ich sage dir, unsere Wehrmacht und unsere Wehrtechnik wird um ein Mehrfaches stärker sein als die unserer damaligen kaiserlichen Heere.“
Maria Geyer die auch bei anderen Bäuerinnen keine Unterstützung für friedliche Ideen, sondern eher Ablehnung fand, enthielt sich ab der Stunde der Aktivitäten ihres Mannes als Ortsgruppenleiter aller politischen Gespräche. An den langen Abenden, an denen Hans Geyer Versammlungen organisierte oder besuchte, saß sie stundenlang in ihrer Schlafkammer auf der Bettkante, kämmte ihren Zopf und führte Selbstgespräche:
„Warum nur“, sagte sie sich immer wieder, „warum finden einfache Parolen immer ihr Ziel und verändern meinen gradlinigen Mann und guten Bauern zum Unterstützer für einen Despoten?“
Die Speichellecker, die auch unter Hattelfingens Dächer reichlich heranwuchsen, die Parteikarrieristen und die Intriganten hinderten Hans Geyer daran, sich auch nur eine kritische Frage zu stellen. Stolz und unkritisch trugen sie alle das Parteiabzeichen am Jackenaufschlag.
Alle lobten sie überschäumend die Tätigkeit des Ortsgruppenleiters, in der Hoffnung, bald auch eine schöne Uniform mit Abzeichen tragen zu dürfen oder auf einem dürren und steinigen Acker einen Bauplatz genehmigt zu bekommen.
Die Konsequenzen aus der politischen Entwicklung, die Umsetzung der Parteirichtlinien erfolgte auch in Hattelfingen Schlag auf Schlag. Hans Geyer erklärte ein Jahr nach seiner Berufung zum politischen Amt seiner Frau:
„Maria, in meiner Funktion als Ortsgruppenleiter kann ich alle Beamte und Bedienstete der Gemeinde, also Lehrer, Gemeindevorsteher und Sekretärin dazu verpflichten, ihre Kinder bei der Hitlerjugend anzumelden. Ich bekomme alle Eintrittserklärungen zu sehen.
Das bedeutet gleichzeitig, dass Anna zum Bund Deutscher Mädel beitritt. Jakob und Schorsch werden aktiv bei der Hitlerjugend mitwirken. Es schadet niemand, im Zeltlager Sport zu treiben und es schadet auch nicht, an Geländemärschen und am Fahnenappell teilzunehmen. Gerade den jungen Männern müssen Kameradschaft, Disziplin, zackiges Auftreten und Gehorsam gelernt werden. Unsere Jugend benötigt wieder Ideale, die endlosen Diskussionen der Demokraten hätten sie um ein Haar versaut.“
„Weißt du noch Hans, du durftest Ziehharmonika lernen und ich Mundharmonika und Flöte. Die Jugend heute muss Trommeln und Fanfaren spielen. Wir haben gemeinsam gesungen, unsere Kinder müssen zur Schießausbildung. Wir durften Reigen tanzen und unsere Kinder müssen marschieren, egal ob Jakob oder Anna. In wenigen Jahren ist sogar unser kleiner, oft kränkelnder Schorschi dran.“
„Maria, wenn unsere Nation wieder Bedeutung bekommen soll, wird es Situationen im Leben jedes Einzelnen geben, die bedingungslosen, blinden Gehorsam erfordern. Gehorsamkeit und Vertrauen in einen völkischen Staat. Schau Maria, Österreich schließt sich uns freiwillig an. Wir werden eine erfolgreiche Nation sein!“
Maria Geyer versuchte die Hand ihres Mannes zu halten. „Hans, hörst du nicht mehr die Zwischentöne? Hitler schreit bei Parteiveranstaltungen seine Erziehungsziele für die Jugend ins Mikrofon: ‚Hitlerjungen müssen flink sein wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl’. Hans, das ist knallharte, vormilitärische Ausbildung!“
„Aber die Jungs helfen auch bei Ernteeinsätzen und die Mädels beim Gesundheitsdienst.“
„Mich quält dennoch Angst, Hans. Ich bin ernsthaft besorgt, um uns alle. Wenn Anna nicht zu einer jungen Bäuerin erzogen werden soll, sondern, wie es die Partei fordert, reduziert wird auf eine Mutterrolle zur Erzeugung stählerner, kampfbereiter Nachkommen und wenn Mütter so genannte Wegbereiterinnen des Sieges werden sollen, dann Hans, dann deuten diese Vorbereitungen nur auf eines hin, auf Krieg!“
Hans Geyer zog die Hand zurück, nach der seine Frau gegriffen hatte. „Hör endlich auf mit dieser Wehrkraft zersetzenden Redensart, Maria. Wenn dich auch nur irgendjemand hört, haben wir alles verloren. Unsere Ehre und ich meinen Posten in der Partei. Ja, alles!“
„Hans“, fragte Maria leise und erhielt keine Antwort, „liebst du mich noch und deine Kinder?“
An ihrem gemeinsamen achtzehnten Geburtstag mussten Jakob zum Reichsarbeitsdienst ins Badischen Kehl, gegenüber dem französischen Straßburg und Anna zum Pflichtjahr als Haushaltshilfe in eine Feilenfabrik.
Jakob schlief in einer einfach ausgerüsteten Gemeinschaftsbaracke. Er grub Tag für Tag mit dem Spaten am Grenzfluss Rhein Schützengräben. Er verfluchte die immer wieder aufbrechenden Wasserblasen in beiden Händen. Selbst die körperliche Arbeit auf dem elterlichen Bauernhof war abwechslungsreicher als dieser stupide Dienst, morgens vor den Baracken antreten, mittags zum Essen antreten und abends zum Rapport antreten und dazwischen tagelang, wochenlang, die immer gleich breiten und gleich tiefen Gräben ausheben. Hoffentlich, dachte er, darf ich bald den Spaten aus der Hand legen und dafür mit einem Gewehr ein Ziel anvisieren.
Nach wenigen Wochen erkannte er an der Färbung der Erde, an welchen Stellen er leichter zu graben hätte. Er wollte vorschlagen, Schützengräben und Bunker den geologischen Gegebenheiten anzugleichen. Aber es gab feste Pläne, kein Recht auf Vorschläge, nur Befehle, niemals Antworten oder gar Fragen.
Zur Wehrertüchtigung, wie die Vorgesetzten sagten, musste der Westwall kerzengerade mit der eigenen Hände Blut befestigt werden. Da half auch der Titel des Vaters nicht aus der Not. Jakob Geyer war verpflichtet, wie alle anderen Arbeitsdienstler, die körperliche Schinderei durch zu ziehen.
Zwillingsschwester Anna erwischte ein leichteres Los. Sie durfte zum Einkaufen mit Frau Schmidt, der Fabrikantenfrau in die Läden, den Einkaufskorb tragen. Sie putzte täglich in aller Ruhe das riesige Wohnzimmer. Danach kam das Bad an die Reihe, mit emaillierter Wanne und fließendem warmem und kaltem Wasser, wie sie es vorher in Hattelfingen nie gesehen hatte. Freitags dann, direkt nach dem Frühstück, musste sie immer den Boden im Büro des Firmenchefs mit feinem Stubensand abreiben und anschließend die Holzbohlen tiefporig einölen.
Alle zwei Wochen stand bei Anna Wochenenddienst auf dem Plan. Sonntags früh durfte sie dann wunderbar duftenden Bohnenkaffee vorbereiten. Erst die Bohnen mahlen, mit fester Hand in einer viereckigen, hölzernen Kaffeemühle mit weißem Porzellanknopf an der Eisenkurbel. Allein diesen Duft beim Mahlen genoss sie mit geschlossenen Augen, dieses kräftige Aroma hatte Anna zuvor nie gerochen. Danach das Kaffeepulver unten aus der kleinen Schublade nehmen und durch ein feines Sieb anbrühen, das Sieb in die Kanne halten, etwas ziehen lassen, wieder herausnehmen und servieren.
Die Kaffeemühle reinigte sie dann mit einem feinen Pinsel peinlich sauber. Erst danach wurde sie als Renommierobjekt für alle sichtbar ins Regal gestellt.
Die schönsten Minuten erlebte sie, wenn sie in die kleine Fabrik hinausgehen durfte, dem Chef, Herrn Schmidt, eine Brotzeit oder Unterlagen bringen. Die kräftigen Männer an den riesigen Schleifsteinen oder den Feilen-Haumaschinen und am glühenden Härteofen blinzelten ihr immer zu. Die ganz mutigen versuchten sie gar anzusprechen: „Hallo Fräulein Anna, hallo Fräulein Geyer, gilt das Pflichtjahr bei den Herrschaften auch abends? Oder hat das Fräulein freie Stunden für einen netten Bummel?“
Anna spürte zum ersten Mal in ihrem Leben tief innen versteckt etwas das sie erregte: Von Männern angesprochen werden, ja begehrt zu sein, das wärmte den ganzen Körper. Auch in Zonen, denen sie seither keine Beachtung geschenkt hatte.
Dennoch lief sie immer schneller durch die große Halle und drückte verschämt die oberen Druckknöpfe an ihrem geschwungenem, mit Rüschen verzierten Blusen-Revers fest zu. Die im bäuerlichen Hattelfingen geprägte Erziehung ließ eine menschliche Regung noch nicht zu.
Jakob überspielte seine Enttäuschung, dass der ursprünglich romantisch verklärte Kampf gegen die „überall lauernden Feinde von Außen“ in eintönigem, täglichem Graben mit dem Spaten und Wuchten mit einer übervollen Schubkarre in hartem Gegensatz dazu stand, was er erträumt hatte. Aber er ertrug die öde Quälerei mit dem festen Willen, ein guter deutscher Mann zu sein.
Endlose Liegestützen und Kniebeugen zur körperlichen Ertüchtigung, auch vorher nie gekannt Schimpfwörter ließ Jakob über sich ergehen, „Geyer, du grässlicher Arsch mit Ohren“, war noch das vornehmste darunter.
Eugen Malzen, ein schmaler, drahtiger Bursche mit Sommersprossen und wachen, hellblauen Augen, den alle nur „Malze“ nannten und der oft an Jakobs Seite schaufelte, sagte: „Die wollen uns nur erniedrigen, ja demütigen, damit wir bedingungslos funktionieren. Wir sollen uns wünschen, bald Soldat sein zu dürfen.“
„Möcht ich auch gern“, antwortete Jakob Geyer. „Ich will bald Landser werden.“
„Über den Westwall kommt kein Franzose bei lebendigem Leib!“ Lautstark redeten sich die jungen Männer eine heroische Art nützlicher Tätigkeit ein.
Nach Wochen nahte dann Abwechslung. Jakob Geyer durfte Beton anrühren und transportieren. Als er dann leise stöhnend die tausendste oder zweitausendste Schubkarre gefüllt mit schwerem Beton zu einer bunkerähnlichen Geschützstellung schob, kam der Befehl an alle, das Werkzeug stehen und liegen zu lassen: „Antreten! Sofort! In Reih und Glied antreten!“
Unruhig scharrten die genagelten Schnürschuhe über den Exerzierplatz, bis eine dröhnende Ansprache über den Platz hallte:
„Der Führer will, dass sich jeder Deutsche am 1. September 1939, pünktlich um 11:00 Uhr, vor einem Volksempfänger einfindet. In Gruppen oder alleine, alle Männer und Frauen, egal ob in Fabriken, zu Hause oder wir im Arbeitsdienst. Alle Deutschen sollen einer seiner wichtigsten Reden lauschen. Alle!“